Ron McLarty, The Memory of Running, TimeWarner Books 2005

Geschenk von M., nachdem sie im Entertainment Weekly die Geschichte [pdf] gelesen hatte, die hinter diesem Buch steckt: "Memory of Running" ist die erste Veröffentlichung eines 57jährigen Audiobook-Vorlesers und Schauspielers, der sich mit seinen eigenen Texten ein Leben lang nur Verlagsabsagen geholt hatte, bis Stephen King während seines Krankenhausaufenthaltes die Audiobook-Version [zu der es doch geschafft hatte] hörte, den Roman dringend lesen wollte, aber nicht lesen konnte und deswegen in seiner EW-Kolumne das "beste Buch, das Sie 2005 nicht lesen können" rühmte. Ein übergewichtiger Mann in den 40ern, der sich eines Tages auf ein Fahrrad setzt und einfach losfährt, von Rhode Island nach Los Angeles, das musste etwas für mich sein…

Ist es auch. Man kann nicht anders, als diesen Smithy Ide zu lieben, 140 Kilo, rundum fettgepanzert gegen das Leben, traumatisiert vom Verschwinden seiner Schwester, die Nächte mit Brezeln und Bier verbringend statt mit einem Menschen. Dann sterben seine Eltern bei einem Verkehrsunfall, und gleich nach dem Begräbnis öffnet er einen Brief, in dem seinem Vater mitgeteilt wird, dass die sterblichen Überreste der verschwundenen Schwester in Los Angeles in einem Kühlhaus aufbewahrt würden, bis jemand sie abhole. Smithy schwingt sich besoffen auf sein Kinderfahrrad, das sein Vater in der Garage aufbewahrt hat, und fährt los, und ehe er merkt, was er da eigentlich tut, ist er schon zu lange unterwegs, um umzukehren. Auf seiner Fahrt wird er angefahren, angeschossen, hilft er einem Aids-Kranken beim Sterben, rettet ein Kind aus einem Schneesturm, wird er, zum ersten Mal in seinem fetten Leben, von einer Frau begehrt und beginnt er, zum ersten Mal in seinem traumatisierten Leben, jemanden auf eine andere Weise zu lieben als bloß hündisch ergeben und geduckt. So ungefähr. Das alles ist arg dick aufgetragen und sehr oft sehr sentimental und sehr oft nervt es gewaltig. Aber wehren konnte ich mich nicht dagegen.





Jason Starr, Twisted City, Diogenes 2005 (im amerikanischen Original 2004)

Die Thriller von Jason Starr - ich habe jeden gelesen - sind alle so gebaut wie die "Die Hard"-Filme mit Bruce Willis: Sie beginnen schlimm, und danach wird bis ans Ende alles immer noch schlimmer. Ein feines dramaturgisches Prinzip mit einem einzigen Fehler: Der Held überlebt den existentiellen Crash-Test immer; das ist bei Jason Starr nicht anders als in der "Die Hard"-Serie. So ist das Ende immer ein Downer - man fühlt sich betrogen, weil die Schraube eben doch nicht noch eine weitere Umdrehung macht.

In Twisted City wird die Geschichte des Wirtschaftsjournalisten David Miller erzählt, der in New York bei einer zweitklassigen Wirtschaftszeitung (Schwerpunkt: New Economy, Kollegen: Schwätzer, Blender, Snobs) arbeitet, weil er nach dem Tod seiner manisch (und zwar sehr manisch) geliebten Schwester vom Wall Street Journal gefeuert wurde - zu viele Trosträusche, zu oft verpennt, zu oft die Artikel vergeigt. Miller hat eine Freundin, die er schon lange nicht mehr leiden, von der er sich aber auch nicht trennen kann und die ihre Tage damit verbringt, seine Kreditkarten auszureizen, um nachts mit irgendwelchen Tänzern durch die Clubs zu sehen, von denen sie behauptet, sie wären schwul, was er aber nicht glaubt. Eines Abends - der Tag im Office war besonders öde, die Gedanken an die tote Schwester waren besonders peinigend -, wird ihm in einer Bar die Brieftasche geklaut - darin ein Foto seiner Schwester, das ihm sehr viel bedeutet. Am nächsten Vormittag wird er in der Redaktion von einer Frau angerufen. Sie hätte seine Brieftasche gefunden, das Geld wäre weg, aber alles andere noch da, er könne sie wiederhaben, für 1500 Dollar. Er fährt zu ihr in die Wohnung, ein heruntergekommenes Drecksloch; die Frau ist Fixerin und Prostituierte; während er versucht, sie herunterzuhandeln, stürzt ihr Freund (oder Zuhälter) in die Wohnung, rasend vor Eifersucht oder irgendeiner anderen Wut, im Kampf bringt Miller ihn um. Die Frau überredet ihn dazu, die Polizei nicht anzurufen, sie würde sich um die Entsorgung der Leiche kümmern, für Geld, versteht sich, er lässt sich darauf ein. Schwerer Fehler, denn natürlich beginnt sie ihn zu erpressen. Und natürlich entsorgt sie die Leiche doch nicht. Weswegen er das erledigen muss. Wobei er fotografiert wird. Vom einem Freund der Erpresserin, der gemeinsam mit dem erschlagenen Zuhälter die Brieftasche geklaut hat. Am Ende des Buches ist die Erpresserin tot, der Mann, der ihn beim Entsorgen der Leiche fotografiert hat. Und seine Freundin auch; sie bringt sich um, nachdem er sie endlich aus der Wohnung werfen wollte. Immerhin hat Mr. Miller es im Verlauf des Romans geschafft, zum stellvertrenden Chefredakteur des Drecksblatts befördert zu werden, bei dem er arbeitet. Aber das nützt ihm verständlicherweise nicht viel.

Schöner, zynischer Thriller. Bis auf die allerletzte Seite. Da sollte dringend noch etwas Schlimmes passieren. Tut es aber nicht. Und auf die familienpsychologischen Add-Ons hätte Herr Starr besser verzichten sollen.





Konrad Seitz: China. Eine Weltmacht kehrt zurück. btb 2004 (zuerst 2000)

Gekauft aus dem periodisch wiederkehrenden und mich diesmal in der Buchhandlung überfallenden Bedürfnis, etwas "über die Welt" zu erfahren (statt immer nur über Europa/USA). Seitz war Redenschreiber für Genscher, Planungschef im AA und zwischen 1995 und 1999 Botschafter in Peking. Er kennt sich also einerseits aus, hat aber andererseits einen geopolitisch reduzierten Blick und interessiert sich entschieden mehr für das Geschick des chinesischen Staates und seine Position in der internationalen Konkurrenz als etwa für das Wohlergehen der Bevölkerung; das muss einen nicht stören, aber man muss es bei der Lektüre in Rechnung stellen. Noch etwas soll nicht unerwähnt bleiben: Seitz schreibt - mindestens im Vergleich mit anderen deutschen Autoren in diesem Genre - außerordentlich gut; sein Stil ist transparent, elegant und erzählerisch; so häufig findet man das hierzulande nicht.

"China" erzählt die Vorgeschichte und Geschichte des immer noch dengistischen China. Der (einer erstaunlichen kulturellen Wehrlosigkeit geschuldeten) Zusammenbruch des Kaiserreichs unter dem Ansturm der imperialistischen Mächte; die Verelendung unter dem Regime der tollen und tollwütigen westlichen Zivilisation; Bürgerkrieg und maoistische Revolution; die barbarisch grausam erzwungene Industrialisierung unter Mao; die großen Sprünge des großen Vorsitzenden gegen die eigene Partei und die Bevölkerung; schließlich Deng, der Seitz' großer Held ist mit seinem Programm, es ist das eines im historischen Lauf vergleichsweise benevolenten Despoten, China kapitalistisch zu machen und es gleichzeitig immer noch als kommunistisch auszugeben. An vielen Passagen kann man nicht anders, als ihm Recht zu geben - verglichen mit der Kulturrevolution oder den vom Mao-Regime produzierten Hungersnöten ist Deng für Abermillionen ein Fortschritt gewesen, der das nackte Überleben gesichert hat; aber dann fallen einem doch immer wieder die Sonderwirtschaftszonen, die Arbeitslager und die Exekutionen in den Stadien ein, von denen bei Seitz dann die Rede eben nicht ist, es sei denn in Nebensatz-Andeutungen. Das letzte Viertel des Buches behandelt auf 150 Seiten die politischen und ökonomischen Entwicklungen seit Dengs Tod. BIP, Außenhandel, Produktionsverlagerungen und Investments der Transnationalen nach China, beginnende Erschließung des chinesischen Binnenmarkts, die neue Rolle als Ordnungs- und Weltmacht: alles sehr konzise geschildert, alles sehr eindrucksvoll. Es fehlt: wie es den Leuten (für die Seitz ersichtlich viel Mitgefühl aufbringt, die er mag, deren Kultur er schätzt, aber deren Unkosten er wohl für unvermeidlich hält) geht. Ein gutes Buch für einen wie mich, der von China nicht allzuviel über die Klischees Hinausgehendes weiß, aber eines mit Tunnelblick; das muss einen nicht stören, aber man muss es in Rechnung stellen.

Ha Jin, Verrückt, dtv 2004 (im amerikanischen Original 2002)

Noch ein China-Buch: Ein Roman des hochgelobten Exil-Autors Ha Jin, dessen Short Stories mir im New Yorker zwar öfter untergekommen sind, die ich aber nie gelesen habe, weil ich die Literatur im New Yorker immer überblättere; schwerer Fehler, ich weiß...

Verrückt erzählt die Geschichte Jians, eines Literatur-Studenten an einer Provinzuniversität, dessen verehrter Professor im Frühjahr 1989 einen Schlaganfall erleidet. Monatelang sitzt er jeden Nachmittag im armseligen Krankenhauszimmer, wäscht und füttert seinen Lehrer und hört dessen mäandernden Monologen zu, in denen sich, wild springend, ein chinesisches Intellektuellen-Schicksal ausspricht: Narrenkappe in der Kulturrevolution, Gängelung durch korrupte Parteifunktionäre, Resignation und Zermürbung. Irgendwann in diesen Monaten beschließt der Student, sein Studium fahren zu lassen; darüber geht die Verlobung mit der Tochter des Professors in die Brüche: sie will einen, der Ehrgeiz hat, keinen, der sich in Zweifeln verliert. Im letzten Viertel der Erzählung geht das Buch, dessen Krankenzimmeratmosphäre beim Lesen wie zähe Schmiere das Gemüt überzieht, plötzlich hinaus: Jian macht sich auf nach Peking, um mit den Studenten zu demonstrieren und gerät ins Massaker am Platz des Himmlischen Friedens, sieht zu, wie ringsum Studenten massakriert werden und kommt selbst mit knapper Not davon. Danach haut er ab, er will es nach Hongkong schaffen, ob es gelingt, erfährt man nicht mehr; ich nahm ein Zündholz mit schwarzem Kopf und verbrannte meinen Studentenausweis. Dann ging ich zun dem Laden und ließ mir einen Bürstenschnitt verpassen. Ohne langes Haar würde mein Gesicht schmaler wirken. Von nun an würde ich einen anderen Namen tragen.

Großes Buch.





Sempé, Das Geheimnis des Fahrradhändlers, Diogenes 2005 (erstmals 1996).

Geschichte des Fahrradhändlers Paul Tamburin, der jedes Fahrrad so gut repariert und abstimmt, dass man in der Umgebung Fahrräder nur noch tamburins nennt, selbst aber nicht Fahrrad fahren kann, weil ihm die Bändigung von Schwerkraft, Zentrifugalkraft und Beschleunigung nie geglückt ist. Eines Tages überredet ihn sein Freund Henri Feigenblatt (dem so treffende Portraits gelingen, dass man in der Umgebung jedes Foto Feigenblatt nennt) zu einer Aufnahme auf dem Rad. Tamburin stürzt eine Schlucht hinunter, liegt danach Monate im Krankenhaus; während des Sturzes aber hat zwar nicht Feigenblatt selbst, aber Feigenblatts Kamera ein heroisches Foto des Tamburin-Flugs aufgenommen, das weltweit bekannt wird und sowohl Tamburin als auch Feigenblatt berühmt macht - zwei Schwindler, denn auch Feigenblatt beherrscht eine wichtige Kunst nicht: im richtigen Augenblick auf den Auslöser zu drücken. Am Ende gesteht Tamburin dem Freund sein Nichtkönnen, beide biegen sich vor Lachen. Sempé habe ich schon als Kind gelesen, in den Büchern meiner Mutter mit ihrer Paris-Liebe des ehemaligen Au-Pair-Mädchens. Noch heute macht Sempé mich glücklich, weiß nicht genau, warum. Die Ordnung seiner Welt wahrscheinlich, das logisch-liebevolle Fundament seiner Soziologie, keine Ahnung. Wenn Menschen miteinander umgingen wie in Sempé-Geschichten (oder wenigstens so aquarelliert aussähen), wäre alles gut.

Lee Child, Der Janusmann, Blanvalet 2005 (Original 2003).

Jack Reacher, ehemals hochrangiger Ermittler bei der US-Militärpolizei, hat sich aus dem Geschäft zurückgezogen und in einer Selbstinszenierung vom Typus einsamer Krieger, der Welt müde verschanzt. Eines Tages läuft ihm auf der Straße ein Bösewicht aus vergangenen Zeiten über den Weg, ein verräterischer Geheimdienstler, der Reachers Meisterschülerin sadistisch abgeschlachtet hatte. Bis zu dieser Begegnung hat Reacher gedacht, der Bösewicht wäre tot; hatte er ihn nicht selbst über einen Abgrund ins Meer geworfen? So muss er, die Moral treibt ihn dazu, wieder tätig werden in der Sphäre des Bösen. Gemeinsam mit einer auf eigene Faust und ohne Deckung der Behörden ermittelnden Drogenermittlungs-Einheit zerschlägt er einen Waffenhändlerring (dass es nicht um Drogen geht, sondern um die Waffen für die Drogenhändlerkriege, stellt sich erst spät heraus), befreit gefangen genommene Agenten und bringt das Sühne-Werk von ehedem zum Ende, indem er den alten Feind nun aber wirklich umbringt. Typischer Pageturner, sehr filmisch, Schuss-Gegenschuss, viel Handlung, wenig, nun ja, Innenleben. Interessant dabei: das umstandslose Abknallen, das staatlicherseits mindestens geduldete, eher aber arbeitsteilig delegierte Vigilantentum. Dass wir es hier mit einem Helden zu tun haben, für den das Vollstrecken nie ein moralisches/juristisches, immer nur ein technisches Problem ist, wird nirgendwo in Frage gestellt, sondern vorausgesetzt beim Leser. Viriler Dreck. Die Verfilmung wird sicher ein Erfolg.

Butz Peters, Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF, Argon 2004.

Gelesen, weil es in der Jungle World interessant besprochen war - als die Arbeit eines Anekdotensammlers, der gar nicht auf die Idee verfällt, dass man die RAF auch politisch oder sonstwie analytisch betrachten könnte, und genau deswegen das eine oder andere besser versteht als die konkurrierenden Geschichtsschreiber. Stimmt alles. Das Problem dabei: 860 Seiten Aktenstudiumfleiss und Nacherzählungsakribie ermüden gewaltig. Schreiben kann Butz Peters auch nicht - wieder einmal diese nervende Atemlosigkeits-Simulation, wie Journalisten sie oft draufhaben ("Es gab Tote. Siebzehn"). Verdienstvoll an seiner Geschichte ist, dass sie die zweite und dritte RAF-Generation so ausführlich behandelt wie die erste. Und dass er die RAF wörtlich nimmt - das heißt, ihnen ihre diversen Strategiepapiere glaubt, also auch ihre Strategiewechsel verzeichnet (mindestens die Neuorientierung in der 3. Generation). Nützlich auch: so detailliert wie bei Peters hat man noch nicht mitbekommen, was für Vollidioten die RAF (von 1. bis 3. Generation) ausgemacht haben, dumme Killerspacken, die über den Zustand der Welt und ihre Bedeutung in ihr immer nur falsch, anmaßend, selbstverliebt gedacht haben. Wie jedes Mal, wenn ich etwas über die RAF lese, tiefer Widerwille, Enge-Empfindungen.

Hubert Fichte, Alte Welt, Fischer 1992.

Zum dritten Mal gelesen. Wieder diese Hochachtung, dieser Respekt, diese Bewunderung, diese Dankbarkeit, wie jedes Mal beim Fichte-Lesen. Diesmal: vor allem seine Feinheit, die verlässlich einsetzenden Impulse jedes Mal, wenn einer von den Unterschriftenkartell-Literaten ihn für das Unterschriftenkartell-Literatentum gewinnen will. Das Nicht-Pompöse seines Lebens, seines Schreibens, seines Wahrnehmens. Das genaue Wissen davon, was Dichtung ist und was nicht. Das Nicht-Denunziatorische seiner Indiskretion.
(Das Bürgerliche, das bei ihm viel eher überlebt als im Bürgertum.)





Denis Robert, Das Glück, rororo, 2005 (im Original 2000)

Dämlicher kleiner "erotischer Roman", soll in Frankreich ein Bestseller gewesen sein, tatsächlich findet man im Netz eine"Lire"-Rezension, die sich angetan gibt, beim NouvelObs eine kleine Hagiographie. Erzählt wird, was in diesem Genre sicher schon sechzehntausendsiebenhundertdreiundachzig Mal heruntererzählt worden ist, Mann trifft Frau, beide verheiratet, aber das Poppen ist so leidenschaftlich schamlos schuldlos ausufernd, blablablabla, und huch! sogar bei Partouzen und beim Autofahren und vor anderen und en plein air und mit sex toys. Zwischendrin die üblichen Mittelschicht-Substandard-Meditationen über Hingabe, über Leidenschaft, über da-lieg-ich-nun-ich-kann-nicht-anders, über was-sagt-das-jetzt-alles-über-mich (das sind die Parts, die Texte erotisch machen, das Äquivalent zum Strauchtomaten-auf-dem-Isemarkt-Kaufen auf sexuellem Terrain, le Distinktionsbedürfnis). Den nächsten, der sich einbildet, er wäre ein besserer Beschreiber als der unambitionierte Kollege, weil er ein Frenulum erwähnt, soll übrigens auf der Stelle der Blitz treffen. Das Allerdämlichste in Das Glück ist, dass er ihr Nicholsons Bakers Vox schenkt und sie hinterher anruft, um sich zu erkundigen, ob ihr das Buch gefallen hätte, und Überraschung! es hat ihr auch gefallen, und schon will er von ihr wissen, was sie anhat, und dass sie das jetzt auszieht, jetzt gleich, übers Telefon. Gott, wie schäbig.





Sándor Màrai, Die Glut, Piper, 1999 (erstmals 1942)

Der Roman, durch den Márai wiederentdeckt wurde (so heißt es; in Wahrheit wohl überhaupt erst "entdeckt"). Buchmesse 1999, Schwerpunkt Ungarn, danach auf den Bestsellerlisten.

Die Geschichte: Henrik, General im Ruhestand, ein 75jähriger Eremit, Witwer seit mehr als 30 Jahren, erwartet auf seinem Schloss in den Karpaten (der Mann ist reich) seinen Jugendfreund Konrád, den er vor 41 Jahren und 43 Tagen zuletzt gesehen hat. Konrád ist damals überstürzt aufgebrochen, ohne Erklärung, ohne Abschied. Nun soll Gerichtstag abgehalten werden. Eine Nacht lang essen und trinken die beiden Herren miteinander, und während sie das tun, führt Henrik seinem Freund, als den er ihn immer noch führt, einen Monolog auf, den er lange, lange, lange, mehr als sein halbes Leben lang, sich selbst immer wieder vorgesprochen hat, in dessen absentia, aber im Wissen, dass er am Ende aller Tage seinen Adressaten schon finden wird. Konrád schweigt dazu, bis auf ein paar nicht weiter wichtige Sätze; es geht auch nicht darum, dass er etwas sagt: er sitzt da, um sich etwas anzuhören, nicht für Gegenreden. Was Henrik vorträgt, ist die Geschichte des Tages vor Konráds Abreise und der Zeit danach, von der Konrád nichts weiß. Beide sind sie damals auf der Jagd gewesen, und auf einer Lichtung hatte H. gefühlt und gewusst, aber nicht gesehen, dass K., der Freund, der Bruder, sein Pollux, in seinem Rücken das Gewehr auf ihn anlegte und auf seinen Hinterkopf zielte statt auf den Hirsch, der vor ihnen beiden auf der Lichtung stand. Eine halbe, eine ganze Minute ging das so, zwei Freunde, von denen der eine hinterrücks auf den Hinterkopf des anderen anlegte; dann verschwand der Hirsch, der Schuss fiel nicht, das Gewehr wurde wieder gesenkt, kein Wort fiel. Danach noch ein Abend zu dritt, eine rätselhafte Unterhaltung Konráds mit Henriks Frau, ein Abendessen, das nicht recht in Gang kam, ein Abschied wie immer. Am nächsten Tag ist K. verschwunden, H. inspiziert seine Wohnung, in der er nie zuvor war, es ist die Wohnung eines Künstlers, nicht eines Soldaten - der er wie H. doch damals gewesen ist -, und während H. sich in der Wohnung des verschwundenen umsieht, trifft auch seine Frau ein, fragt, ob K. abgereist sei, er bejaht es, sie sagt "Feigling" und macht sich wieder auf den Heimweg. Danach ist die Ehe, ohne dass darüber gesprochen würde, zu Ende, die Frau bleibt im Schloss, H. zieht in ein Jagdhaus ein paar Kilometer entfernt, kein Wort mehr zwischen den beiden, bis zum Tod der Frau acht Jahre später. So in etwa trägt es H., lange geprobt, seinem Freund vor, verschlungener, Détail um Détail, mäandernd und doch immer wieder im Kreis, Konrád widerspricht nicht, kein Dementi, in keinem einzigen Anklagepunkt, und wenn ihm einmal eine Frage von H. gestellt wird, bekommt er die Zeit nicht, sie zu beantworten, darum ist es auch nicht zu tun, die Antworten sind alle schon gegeben, K. hat nichts anderes zu tun, als sich das alles anzuhören, und all die Antworten, die er geben könnte, reichten ohnehin nicht aus, die Abgründe wieder zu schließen; die Frau, die beide liebten (oder auch nicht), ist tot, die zwei, die sie überlebt haben, der eine ihr davongelaufen, der andere vor ihr verkapselt, haben überlebt. Das ist ihre Schuld, kein Gespräch könnte daran etwas ändern, über einem Grab taugt eine Versöhnung nichts. Am Ende des Essens gibt man einander manierlich die Hand und geht seiner Wege, Konrád zurück nach London, Henrik zurück in sein Schloss, jetzt können beide sterben. Eine Gespenstergeschichte also; und man tut sich nicht schwer darin, in ihr allen möglichen Gespenstern beim Spuken zuzusehen. Das Jahrhundert. Das untergehende Ethos einer Aristokratie/Bürgerlichkeit, über das die Geschichte hinwegmarschiert ist. Die ausgesprochenen und die unausgesprochenen Kontrakte, die allesamt gebrochen werden, was bleibt, ist die Gefasstheit, mit der man den Konkurs eröffnet. Das löst sich nicht auf, nicht mehr, Alb bleibt Alb und sitzt den Leuten auf der Brust, c'est tout, kein Pardon, keine Entsühnung. Andererseits: did not work for me, not at all. Was Márai hier gemacht hat, kommt mir billig vor, erschlichen. Eine Maschine konstruieren, wenn sie fertig ist, anschalten und ihr beim Funktionieren zusehen. Der konstruktive Imperativ, den anderen nicht sprechen zu lassen, ist zugleich ein so verdammt billiger Trick (und wie bescheuert ist das eigentlich von mir, einem Roman in die Konstruktion grätschen zu wollen… andererseits: so liest man nun einmal, als Pflichtverteidiger des Materials… ). Mein alter Hang zu den fehlerhaften Geschichten, der anderen Sorte Spuk, dem Spuk des Materials, das sich gegen den Autor richtet. Und die Wahrheit der Geschichte ist natürlich, dass auch Márai mit dieser Geschichte schäbig über eine weibliche Leiche gegangen ist. [Die erste Hälfte des Buchs dagegen, alles vor dem Eintreffen dessen, der sich seine Anklage, sein Urteil, seine mildernden Umstände abholen muss; die erste Hälfte also, die nicht Monolog ist, sondern von außen erzählt, in einer merkwürdigen Distanz zwischen Nah- und Totalaufnahme: sagenhaft gute Prosa.]





sándor márai, tagebücher 1984-1989, piper, 2002

traumatisierende lektüre. márai notiert verfall und verluste. seine frau lola, in den aufzeichnungen immer nur l. genannt, stirbt anfang januar 1986 (alter, ausgezehrtheit), danach hält er noch drei jahre durch, er weiß selbst nicht, wie und warum, ehe er sich, mit 89, erschießt. zwischen l.'s und seinem eigenen tod sterben, in budapest, seine zwei übriggebliebenen brüder (alter, ausgezehrtheit) und, ein paar blocks entfernt, sein adoptivsohn (42, jähes herzversagen gleich nach dem aufstehen). das jahr vor dem tod l.'s: ihre zunehmende blindheit, ihre zunehmende taubheit, ihre häufiger werdenden zusammenbrüche, ihre zunehmende entkräftung, ein sturz im zimmer nebenan, ein gebrochener arm, der nicht mehr recht zusammenwachsen will, einlieferung ins krankenhaus, abende bei einer fast ständig bewußtlosen, den geliebten körper waschen, putzen, bereden, streicheln, füttern, manchmal ein wacher blick, manchmal ein halbsatz, manchmal eine antwort ("hast du schmerzen?" - "nein"), ihr letzter satz, wochen vor dem tod: "warum sterbe ich so langsam?" sein eigener verfall, die müdigkeit beim gehen von einem zimmer ins andere, die trippelschritte, die anhaltenden autokolonnen beim überqueren der straße, das eine auge völlig blind, im anderen ein glaukom. nachts noch lektüre, ungarische literaturgeschichte, die essays edmund wilsons, marc aurel, ungarische lyriker. nach ihrem tod die lektüre ihrer tagebücher, notizhefte, 120 in einer kiste. nachts träume von einer hotline, vermittels derer er mit ihr kommunizieren kann, schriftbänder, die durch sein bewußtsein laufen, totenticker. der kauf eines revolvers und 50 schuss munition. ein kurs bei der örtlichen polizei, beim ersten termin rechtsbelehrung darüber, unter welchen umständen man auf einbrecher schießen darf, beim zweiten termin schießübungen. er will es nicht verpfuschen, vorher üben. zu den jubiläen (heute ist l. vier wochen tot, drei monate tot, ein jahr tot) einträge über sie, wie sie war, wie sie ihm fehlt, dass religion eine gemeinheit ist, nichts taugt, dass nichts mehr etwas taugt, an allen anderen, immer sporadischer werdenden eintragstagen auch über l. der letzte eintrag 12 wochen vor dem schuss, auf den er sich lange vorbereitet hat: es sei jetzt bald soweit. im nachwort noch, eher nebenher, eine bemerkung über die immensen schwierigkeiten der transkription der tagebücher: márai, schon fast ganz blind, hat mit der schreibmaschine geschrieben - und oft die falschen tasten erwischt.

[beschlossen, sie zu überleben. man kann es keinem antun, nicht zu überleben.]





Seit Weihnachten:

T. C. Boyle, Dr. Sex, Hanser, Februar 2005

John Milk, erster Assistent des Sex-Forschers Alfred Kinsey erzählt nach dessen Tod seine und seines Herrn Lebens- und Forschungsgeschichte - manischer Empirismus, Feldstudien in der community of investigators, Fummeln und Unaussprechlicheres mit Mr. und Mrs. Kinsey. Ein ödes Buch. Boyle will wieder einmal zeigen, dass Absolutisten einer reduktionistischen Weltsicht durch ihre Borniertheit der Wahrheit, sich selbst und ihren Mitmenschen alle mögliche Ungemach einbrocken. Als ob man das nicht schon längst gewusst hätte. Unangenehm ist die Aufdecker-Schmutzwühler-Ironie: guckt mal, was Herr Doktor Sex sich für erotische Freizügigkeiten und psychologische Schweinereien geleistet hat, und in Wahrheit war das alles ja nur eine Strategie zum fucking for free mit den Gemahlinnen der Forscherkollegen (und den Forscherkollegen selbst). Wie schon beim Kellogs-Buch: Boyle kann keine historischen Romane. Historische Romane aus der Besserwisser-Sicht des Nachgeborenen sind immer eine überflüssige Übung. Den naturalistischen sex craze Kinseys einer bloß desillusionierenden Kritik zu unterziehen ("die Gefühle hat er aber nicht bedacht"), macht die Sache noch langweiliger. Wenn Boyle wenigstens etwas gegen Sex hätte; er hat aber nur etwas gegen das ideologische und wissenschaftliche Operieren mit ihm, gegen die Vermengung von Dienst und Schnaps, gegen die doppelte Buchführung.


Wilhelm Genazino, Liebesblödigkeit, Hanser, Februar 2005

Ein freischaffender Apokalyptiker in den späten 50ern (Wochenend-Seminare für Sinnbedürftige in besseren Hotels, Vorträge an konfessionellen Akademien etc.) hat seit Jahren fein austarierte Liebesbeziehungen zu zwei Frauen, die voneinander nichts wissen. Weil erstens das Alter dräut und zweitens das Gewissen immer wieder rumort, nimmt er sich vor, eines dieser Verhältnisse abzuschaffen und sich für das andere zu entscheiden. Die Abwägung darüber, welche Frau es denn nun sein soll, führt zu nichts. Also bleibt alles, wie es ist. Enttäuschend, vor allem, wenn man Genazino seit langem von Herzen verehrt. Alles in diesem Roman ist erbarmungslos heruntergebrochen auf Marotten, Tics, Idiosynkrasien. Ein zunehmend zauselig Gewordener möchte sich sein Zauseltum als savoir vivre retten und deswegen das Leben neu schlichten, das aber schlichtet sich auch ganz von selbst. Kleinkunst, nicht mehr. Und das verstimmende Gefühl, es mit einem Genazino-formula book zu tun zu haben. In den geliebteren Genazino-Büchern war das Marottenhafte immer eine Funktion, ein Symptom, eine Konsequenz gewesen. Jetzt ist es an die Figuren bloß angepappt. Seltsam.


Sándor Márai, Wandlungen einer Ehe, Piper, 2003 (ursprünglich 1941/1948)

Das erste Márai-Buch, das ich gelesen habe, weil die Signora Reski es mir so schön ans Herz gelegt hat. Erstaunlich, wie glücklich man gleich wird, wenn man es mit einem Roman zu tun bekommt, von dem man das Gefühl hat, er hätte "mit einem selbst" zu tun, er ginge einen etwas an (was immer das bedeutet). Und wie mir gleich aufgefallen ist, dass es so wenige Romane gibt (oder ich so wenige kenne), in denen es um die Liebe der mittleren Jahre geht, um das Eheliche. Hier geht es nur darum. Péter, ein von seiner Biografie zum Fabriksbesitzer gemachter Bürger, Ilonka, dessen erste, und Judit, dessen zweite Frau erzählen in je einem Drittel des Romans in langen Monologen ihre Versionen der Geschichten, die sie miteinander hatten, dazwischen liegen jeweils ein paar Jahre (zwischen dem ersten und zweiten Drittel der II. Weltkrieg). Die Stationen gehen ungefähr so (oh, Ödnis der Zusammenfassung…): I. Ilonka erzählt in einer Konditorei bei Pistazieneis einer auf Heimatbesuch weilenden Freundin die Geschichte ihrer Ehe mit P., die zehn Jahre zuvor geschieden worden ist. Es ist eine Ehe, die für sie zuerst nagend, dann unerträglich assymetrisch ist: Sie liebt ihn mehr als er sie, er ist stets ein wenig fern, unnahbar, in einem Habitus der Distanziertheit gefangen; sie nimmt das lange hin, aber nur scheinbar, in Wahrheit versucht sie ihn zu verstricken; er merkt es, entzieht sich umso mehr ins bloß formelhaft Höfliche, Korrekte, man kann ihm nichts vorwerfen. Sie bekommen ein Kind, er bemüht sich, es zu lieben, in einer Mischung aus Verzweiflung und Pflichtgefühl; nach zwei Jahren stirbt es an Fieber; sie weiß, nach dem Tod des Kindes hat sie ihn endgültig verloren, gesteht sich selbst ein, das Kind nur um seinetwillen geliebt zu haben, als Mittel, ihm näherzukommen, Hoffnung, er werde ihr sich endlich nähern. Bei einem Ferienaufenthalt in Meran eröffnet er ihr, er hätte begriffen, einer zu sein, der nicht so sehr geliebt werden wolle; sie könnten miteinander leben, aber sie solle sich bemühen, ihn nicht mehr so sehr zu lieben. Eines Tages entdeckt sie durch einen Zufall in einem Fach seiner Brieftasche ein Seidenband, findet bald heraus, dass es in seinem Leben vor ihr eine andere, die Richtige, gegeben haben muss, beschließt, ihn sich zu erobern, identifiziert die andere Frau auch schließlich: es ist Judit, das ehemalige Dienstmädchen der Familie, die immer noch bei seiner Mutter lebt. Kurz danach ist Judit verschwunden, die Ehe wird aufrecht erhalten, ein stabiles Arrangement aus zuvorkommenden Manieren und bloßem Nebeneinanderherleben, verkarstet. Dann kehrt Judit zurück, ruft an, lässt sich P. geben. Gleich danach verlässt er I., für immer. II. Péter, der Ehemann aus dem ersten Teil, erzählt einem Freund bei viel Wein die Geschichte seiner zweiten Ehe - und deren Vorgeschichte. Als er noch bei den Eltern gelebt hat, hat er, in einer Art Leidenschafts- und Desertions-Schub, Judit, dem Dienstmädchen der Familie, erklärt, warum er nicht um ihre Hand anhalten könne - und ihr damit seine Liebe (oder was auch immer), von der sie nichts ahnte und die sie nicht erwartete, überhaupt erst eröffnet (um sich in derselben Bewegung gleich wieder gegen sie zu verschließen). Judit ihrerseits nimmt den Antrag - den er ja nicht gemacht hat, jedenfalls nicht im Indikativ, sondern nur im Konjunktiv samt anschließendem Indikativ-Dementi - nicht an, weil er, P., ihr "zu feige" sei. Er geht auf seine Fabrikanten-Lehrjahre in Ausland, kehrt nach vier Jahren wieder, übernimmt die Fabrik des Vaters, heiratet Ilonka (die Erzählerin des ersten Roman-Drittels), verschreibt sich selbst das Etui einer Bürgerlichkeit, von der er längst schon ahnt, dass sie im Aussterben begriffen ist. Irgendwann kommt seine Frau dahinter, dass Judit, immer noch Dienstmädchen bei seiner (längst schon verwitweten) Mutter, ihm ein stärkerer Konjunktiv gewesen ist als sie ihm je Indikativ sein konnte, vertreibt Judit, er vergisst sie beinahe, ohnehin ist er jemand, in dem alles Abschied ist, ein Konkursverwalter der eigenen Klasse und der eigenen Möglichkeiten (die Kunst, die Leidenschaft, das commitment). Dann kehrt Judit zurück, lässt sich mit ihm verbinden, meldet sich - sie war in England - mit "hello", er legt auf, zieht aus, kehrt nie wieder zu Ilonka zurück, lässt sich scheiden, um anderntags Judit zu heiraten. Bald kommt er darauf, dass sie ihn bestiehlt: sie kauft manisch ein, Kleider, Hausratsplunder, Schmuck, rechnet nicht korrekt ab mit ihm, bringt die Differenz für sich auf die Seite; er registriert es, spricht es an, er nimmt es hin, es stört ihn nicht weiter. Eines Nachts, after fucking, sieht er ihr ins Gesicht, nimmt endlich wahr, dass sie ihn bloß bedient. Er lässt sich wieder scheiden. End of story. III. Judit, die zweite Ehefrau, die Richtige, erzählt nach dem Krieg in einem Zimmer in Rom, ihrem Liebhaber, einem Schlagzeuger, ihre Version der Geschichte. Waren die ersten beiden Drittel des Romans Spiegelbilder (die bürgerliche Ehe, Sittlichkeit, Pflicht, Entsagung, Selbsterziehung, &tc. pp.), wird nun der Spiegel zerschlagen. Was J. betreibt, ist die Beschreibung einer Klasse (und weil sie genau ist, ist sie besser, als eine Analyse es wäre). P. (und seine erste Frau und seine Mutter und sein Vater und sein bester Freund, der Schriftsteller Lázar) sind alle nur noch die Exempel, als die sie der Außenstehenden erscheinen müssen, mögen diese Exempel sich noch so individualistisch dünken; Tauschgesellschaft eben; die Reichen haben tolle Kloschüsseln, Parfum, das nach dem Heugeruch stinkt, dem man als Arme entkommen will, eigene Hühneraugenpfleger, und sie lassen ihr weibliches Dienstpersonal vom Hausarzt auf Geschlechtskrankheiten examinieren, für den Fall, dass der Sohn der Familie einen Drang empfindet; die Reichen können sich Psychologien leisten, und auch, sich ihrer Frauen zu entledigen, wenn der Psychologie nicht Genüge getan wird. That's what I learned from life, my little drummer, he wanted to fuck me, I let him pay, he did not like when he noticed that he had to pay, they don't accept having to pay for their illusions, so he filed a divorce, ah, you know, he was fair in his compensations, but they are so, I dunno, now let's kiss, my little drummer… End of story. So ungefähr geht das bei Márai, in meiner Synopsis jedenfalls, andere Leute werden darin eher den Untergang Europas, des Bürgertums, die Melancholie-Sedimente, das Schnitzlerhafte, das Thomasmannhafte für wichtig befinden, und das alles nicht zu Unrecht. Was mich ein ums andere Mal getroffen hat, in lauter kleinen, aber nachhaltigen Chocs, sind diese Dämonien der Liebe, die Márai auffältelt - und von denen in den Romanen, die ich sonst lese, selten die Rede ist. Die Abgründigkeiten von Sex: ja klar, überall, gähn; die Beschwörungen des Erotischen: Dauer-Hausse, blue chips der Literatur, ist ja auch billig, Ramsch, Verliebtsein, amours fous, die Faszination von cock & pussy kann man so leicht behaupten wie sonst kaum etwas. Bei Márai dagegen wird das Regime der Liebe, das sonst kaum einer in Frage stellt (außer die öden Evolutionsfritzen, die alles auf das Puckern der Gene reduzieren wollen), angegangen; dass es eine Zumutung ist, jemanden zu lieben, zum Beispiel; eine Eitelkeit, eine Vermessenheit, eine Hoffart. Und jedes Mal, wenn so ein Satz fällt in diesem seltsamen Parlando (das einem immer wieder einmal auf die Nerven fällt), zuckte ich zusammen und dachte: stimmt vielleicht (und wie ist das bei mir? … und bin ich auch so?), und irgendwann im ersten Drittel gibt es diese Passage, in der die wackere brave Frau so etwas wie den Anflug einer Selbsterkenntnis hat und zum Priester beichten geht und ihm dabei erzählt, wie sehr sie darunter leidet, dass ihr Mann sie nicht ebenso sehr liebt wie sie ihn (ohne dass sie, irgendjemand, überhaupt wüsste, worin das Genug-Lieben oder Gerecht-Lieben oder Genauso-Lieben denn bestünde), und der Priester hört ihr eine Zeitlang zu, & dann sagt er: "Ja, dann leiden sie eben." Ja, eben.


Marcelle Sauvageot, Fast ganz die Deine, Nagel & Kimche, Februar 2005 (Original 1933)

Auch so ein Verhängnis-der-Liebe-Buch. Eine Frau, 30, Französischlehrerin in Paris, begibt sich in ein Sanatorium, um ihre Tuberkulose zu kurieren - es wird ihr nicht gelingen, 1934 stirbt sie. Kurz vor ihrer Abfahrt hat der Mann, den sie liebt, mit ihr Schluss gemacht. Nun schreibt sie ihm einen langen, langen Brief. Das Buch ist dieser Brief, kein Roman, sondern tatsächlich ein Abschiedsbrief, Abrechnungsbrief, nach dem Tod Marcelle Sauvageots veröffentlicht und damals von Leuten wie Paul Valéry oder Paul Claudel hoch gelobt. Mit Grund: Fast ganz die Deine ist von einer sehr genauen Bitterkeit und von einer Unerbittlichkeit, die nicht nur dem Adressaten, sondern auch dem Leser arge Gewissensbisse macht. Zwei Zitate:
Wenn Ihnen danach ist, einen ganzen Tag lang ins Wasser zu spucken, um Kringel zu machen, wird die Frau, die Sie liebt, den ganzen Tag an Ihrer Seite bleiben, ohne etwas zu sagen, und Ihnen dabei zusehen, wie Sie Wasserkringel machen; sie wird glücklich sein, weil Ihnen dieser Zeitvertreib gefällt. Und wenn Ihnen jeden Tag danach ist, Wasserkringel zu machen, wird diese Frau jeden Tag dabeisitzen und Ihnen zusehen. Sie haben hinzugefügt, ich würde das nicht fertigbringen. das muß ich wohl oder übel zugeben. Ich würde erst einmal versuchen zu schlafen oder selbst irgend etwas zu tun; wenn das nicht ginge, könnte ich es mir nicht verkneifen, Ihnen zu sagen, daß sie ein Dummkopf sind und daß Sie mich lieber küssen sollten.

Es ist eigenartig, wie oft ein Mann in dem Moment, da er sich mit der Frau zu verbinden gedenkt, die er seit langem liebt, plötzlich von moralischen und gesellschaftlichen Prinzipien heimgesucht wird. Er liebte diese Frau, weil sie stark, unabhängig und voll eigenwilliger Gedanken war; wenn er ins Auge faßt, sie zu heiraten, verwandeln sein Beherrschungswille, seine Eigenliebe und seine Sorge um die öffentliche Meinung die Stärke in Revolte, die Unabhängigkeit in Stolz und schlechten Charakter, die eigenwilligen Gedanken in Egoismus und Ansprüche. Er weist darauf hin, daß das Leben aus alltäglichen kleinen Vorfällen besteht, denen man sich beugen muß und angesichts derer man sich eine "vernünftige Einstellung" zulegen muß. Es empfiehlt sich, die Rollenverteilung von vornherein zu klären, denn die Zeit der Kinderspiele ist vorbei.


Frank Schulz, Kolks blonde Bräute, Haffmans bei Zweitausendeins, 2004 (erstmals 1991)

Hält man lange Zeit für eine Biersäufer-Burleske, ist auch eine, musst oft lachen, weil so albern und so norddeutsch, kippt dann irgendwann um in so eine Alkoholiker-Tragödie und glücklicherweise wieder retour, so etwas glücklich Ausgestandenes, Ehe jetzt, Kinder jetzt, nur noch manchmal, ganz selten um die Häuser, besser so, gerade noch dem Kaputtgehen entkommen. Sehr gerne gelesen. Ich bin da aber befangen, ich hab sieben Jahre gegenüber der Glocke gewohnt, die bei Schulz Glucke heißt, und zehn Fußminuten vom Maibach, das im Buch als Reibach vorkommt, samt Piranha-Aquarium, Lokalkoloritwiedererkennungsglück, bin ja auch manchmal bei dieser Hamburger Polizeirevier-Serie glücklich, weil das Serien-Polizeirevier bei mir um die Ecke liegt. Hätte ich aber wahrscheinlich auch so gerne, sehr gerne gelesen.


Peter Leissl, Die legendären Anstiege der Tour de France, Covadonga 2004

Drin ist, was draufsteht: 20 Gipfel, auf die Tour de France-Fahrer sich quälen, Streckencharakteristiken, Bergprofile mit kilometergenauen Prozentangaben, entscheidende Antritte, legendäre Etappen, schöne Schwarzweißfotos, dazu Porträts legendärer Bergfahrer und Tabellen. Gut geschrieben, solide Recherche, liest man gerne, wenn man die passende Obsession in sich spuken hat.


Oliver Lubrich, Reisen ins Reich 1933-1945, Eichborn, 2004

50 Texte von Ausländern, die zwischen 1933 und 1945 das nationalsozialistische Deutschland bereist haben - als Journalisten und Korrespondenten (Simenon, Shirer usw.), als Schriftsteller (Sartre, Genet, Camus, Beckett, Isherwood, Thomas Wolfe), als Diplomatentöchter (Martha Dodd), als Nazi-Sympathisanten und -mitkämpfer. Großartige, gespenstische Anthologie, man wundert sich, dass es das nicht schon längst gibt.


Julie Orringer, How to Breathe Underwater, Knopf 2004 (erscheint Ende Februar als kiwi-Paperback)

Phänomenal gute Kurzgeschichten über Kindheit und coming-of-age. Literarisch nicht weiter erwähnenswert, classical mode eben, unerhörte Ereignisse, Anfang-Mitte-Ende, handwerklich einwandfrei - aber ohmegod, kann die beobachten, hat die tolle Figuren, sieht die Sachen, hat die einen Seismographen für Kindheits- und Pubertätstragik. Toll.