Sempé, Das Geheimnis des Fahrradhändlers, Diogenes 2005 (erstmals 1996).

Geschichte des Fahrradhändlers Paul Tamburin, der jedes Fahrrad so gut repariert und abstimmt, dass man in der Umgebung Fahrräder nur noch tamburins nennt, selbst aber nicht Fahrrad fahren kann, weil ihm die Bändigung von Schwerkraft, Zentrifugalkraft und Beschleunigung nie geglückt ist. Eines Tages überredet ihn sein Freund Henri Feigenblatt (dem so treffende Portraits gelingen, dass man in der Umgebung jedes Foto Feigenblatt nennt) zu einer Aufnahme auf dem Rad. Tamburin stürzt eine Schlucht hinunter, liegt danach Monate im Krankenhaus; während des Sturzes aber hat zwar nicht Feigenblatt selbst, aber Feigenblatts Kamera ein heroisches Foto des Tamburin-Flugs aufgenommen, das weltweit bekannt wird und sowohl Tamburin als auch Feigenblatt berühmt macht - zwei Schwindler, denn auch Feigenblatt beherrscht eine wichtige Kunst nicht: im richtigen Augenblick auf den Auslöser zu drücken. Am Ende gesteht Tamburin dem Freund sein Nichtkönnen, beide biegen sich vor Lachen. Sempé habe ich schon als Kind gelesen, in den Büchern meiner Mutter mit ihrer Paris-Liebe des ehemaligen Au-Pair-Mädchens. Noch heute macht Sempé mich glücklich, weiß nicht genau, warum. Die Ordnung seiner Welt wahrscheinlich, das logisch-liebevolle Fundament seiner Soziologie, keine Ahnung. Wenn Menschen miteinander umgingen wie in Sempé-Geschichten (oder wenigstens so aquarelliert aussähen), wäre alles gut.

Lee Child, Der Janusmann, Blanvalet 2005 (Original 2003).

Jack Reacher, ehemals hochrangiger Ermittler bei der US-Militärpolizei, hat sich aus dem Geschäft zurückgezogen und in einer Selbstinszenierung vom Typus einsamer Krieger, der Welt müde verschanzt. Eines Tages läuft ihm auf der Straße ein Bösewicht aus vergangenen Zeiten über den Weg, ein verräterischer Geheimdienstler, der Reachers Meisterschülerin sadistisch abgeschlachtet hatte. Bis zu dieser Begegnung hat Reacher gedacht, der Bösewicht wäre tot; hatte er ihn nicht selbst über einen Abgrund ins Meer geworfen? So muss er, die Moral treibt ihn dazu, wieder tätig werden in der Sphäre des Bösen. Gemeinsam mit einer auf eigene Faust und ohne Deckung der Behörden ermittelnden Drogenermittlungs-Einheit zerschlägt er einen Waffenhändlerring (dass es nicht um Drogen geht, sondern um die Waffen für die Drogenhändlerkriege, stellt sich erst spät heraus), befreit gefangen genommene Agenten und bringt das Sühne-Werk von ehedem zum Ende, indem er den alten Feind nun aber wirklich umbringt. Typischer Pageturner, sehr filmisch, Schuss-Gegenschuss, viel Handlung, wenig, nun ja, Innenleben. Interessant dabei: das umstandslose Abknallen, das staatlicherseits mindestens geduldete, eher aber arbeitsteilig delegierte Vigilantentum. Dass wir es hier mit einem Helden zu tun haben, für den das Vollstrecken nie ein moralisches/juristisches, immer nur ein technisches Problem ist, wird nirgendwo in Frage gestellt, sondern vorausgesetzt beim Leser. Viriler Dreck. Die Verfilmung wird sicher ein Erfolg.

Butz Peters, Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF, Argon 2004.

Gelesen, weil es in der Jungle World interessant besprochen war - als die Arbeit eines Anekdotensammlers, der gar nicht auf die Idee verfällt, dass man die RAF auch politisch oder sonstwie analytisch betrachten könnte, und genau deswegen das eine oder andere besser versteht als die konkurrierenden Geschichtsschreiber. Stimmt alles. Das Problem dabei: 860 Seiten Aktenstudiumfleiss und Nacherzählungsakribie ermüden gewaltig. Schreiben kann Butz Peters auch nicht - wieder einmal diese nervende Atemlosigkeits-Simulation, wie Journalisten sie oft draufhaben ("Es gab Tote. Siebzehn"). Verdienstvoll an seiner Geschichte ist, dass sie die zweite und dritte RAF-Generation so ausführlich behandelt wie die erste. Und dass er die RAF wörtlich nimmt - das heißt, ihnen ihre diversen Strategiepapiere glaubt, also auch ihre Strategiewechsel verzeichnet (mindestens die Neuorientierung in der 3. Generation). Nützlich auch: so detailliert wie bei Peters hat man noch nicht mitbekommen, was für Vollidioten die RAF (von 1. bis 3. Generation) ausgemacht haben, dumme Killerspacken, die über den Zustand der Welt und ihre Bedeutung in ihr immer nur falsch, anmaßend, selbstverliebt gedacht haben. Wie jedes Mal, wenn ich etwas über die RAF lese, tiefer Widerwille, Enge-Empfindungen.

Hubert Fichte, Alte Welt, Fischer 1992.

Zum dritten Mal gelesen. Wieder diese Hochachtung, dieser Respekt, diese Bewunderung, diese Dankbarkeit, wie jedes Mal beim Fichte-Lesen. Diesmal: vor allem seine Feinheit, die verlässlich einsetzenden Impulse jedes Mal, wenn einer von den Unterschriftenkartell-Literaten ihn für das Unterschriftenkartell-Literatentum gewinnen will. Das Nicht-Pompöse seines Lebens, seines Schreibens, seines Wahrnehmens. Das genaue Wissen davon, was Dichtung ist und was nicht. Das Nicht-Denunziatorische seiner Indiskretion.
(Das Bürgerliche, das bei ihm viel eher überlebt als im Bürgertum.)






beherrscht eine wichtige Kunst nicht: im richtigen Augenblick auf den Auslöser zu drücken

das klingt, als waere photographie ein handwerk und ein vom zufall lebender photograph wie ein tischler, der keinen stuhl zimmern koennte. aber leben photographen nicht von gluecklichen unfaellen?


ja schon, aber wir haben es hier mit einer parabel zu tun. der fotograf in sempes fahrradhändlergeschichte verpasst immer exakt den augenblick, in dem etwas passiert (fußballtore, küsse usw.)


das finde ich jetzt unverschaemt schoen (wie die erinnerung an den blick vor einem kuss). kann an der beschreibung liegen. wird beim naechsten deutschlandbesuch gekauft.


RAF: Enge-Empfindungen. Ja; das war's. Und Vakuumgefühl, halszuschnürend. (Danke)