Sándor Màrai, Die Glut, Piper, 1999 (erstmals 1942)

Der Roman, durch den Márai wiederentdeckt wurde (so heißt es; in Wahrheit wohl überhaupt erst "entdeckt"). Buchmesse 1999, Schwerpunkt Ungarn, danach auf den Bestsellerlisten.

Die Geschichte: Henrik, General im Ruhestand, ein 75jähriger Eremit, Witwer seit mehr als 30 Jahren, erwartet auf seinem Schloss in den Karpaten (der Mann ist reich) seinen Jugendfreund Konrád, den er vor 41 Jahren und 43 Tagen zuletzt gesehen hat. Konrád ist damals überstürzt aufgebrochen, ohne Erklärung, ohne Abschied. Nun soll Gerichtstag abgehalten werden. Eine Nacht lang essen und trinken die beiden Herren miteinander, und während sie das tun, führt Henrik seinem Freund, als den er ihn immer noch führt, einen Monolog auf, den er lange, lange, lange, mehr als sein halbes Leben lang, sich selbst immer wieder vorgesprochen hat, in dessen absentia, aber im Wissen, dass er am Ende aller Tage seinen Adressaten schon finden wird. Konrád schweigt dazu, bis auf ein paar nicht weiter wichtige Sätze; es geht auch nicht darum, dass er etwas sagt: er sitzt da, um sich etwas anzuhören, nicht für Gegenreden. Was Henrik vorträgt, ist die Geschichte des Tages vor Konráds Abreise und der Zeit danach, von der Konrád nichts weiß. Beide sind sie damals auf der Jagd gewesen, und auf einer Lichtung hatte H. gefühlt und gewusst, aber nicht gesehen, dass K., der Freund, der Bruder, sein Pollux, in seinem Rücken das Gewehr auf ihn anlegte und auf seinen Hinterkopf zielte statt auf den Hirsch, der vor ihnen beiden auf der Lichtung stand. Eine halbe, eine ganze Minute ging das so, zwei Freunde, von denen der eine hinterrücks auf den Hinterkopf des anderen anlegte; dann verschwand der Hirsch, der Schuss fiel nicht, das Gewehr wurde wieder gesenkt, kein Wort fiel. Danach noch ein Abend zu dritt, eine rätselhafte Unterhaltung Konráds mit Henriks Frau, ein Abendessen, das nicht recht in Gang kam, ein Abschied wie immer. Am nächsten Tag ist K. verschwunden, H. inspiziert seine Wohnung, in der er nie zuvor war, es ist die Wohnung eines Künstlers, nicht eines Soldaten - der er wie H. doch damals gewesen ist -, und während H. sich in der Wohnung des verschwundenen umsieht, trifft auch seine Frau ein, fragt, ob K. abgereist sei, er bejaht es, sie sagt "Feigling" und macht sich wieder auf den Heimweg. Danach ist die Ehe, ohne dass darüber gesprochen würde, zu Ende, die Frau bleibt im Schloss, H. zieht in ein Jagdhaus ein paar Kilometer entfernt, kein Wort mehr zwischen den beiden, bis zum Tod der Frau acht Jahre später. So in etwa trägt es H., lange geprobt, seinem Freund vor, verschlungener, Détail um Détail, mäandernd und doch immer wieder im Kreis, Konrád widerspricht nicht, kein Dementi, in keinem einzigen Anklagepunkt, und wenn ihm einmal eine Frage von H. gestellt wird, bekommt er die Zeit nicht, sie zu beantworten, darum ist es auch nicht zu tun, die Antworten sind alle schon gegeben, K. hat nichts anderes zu tun, als sich das alles anzuhören, und all die Antworten, die er geben könnte, reichten ohnehin nicht aus, die Abgründe wieder zu schließen; die Frau, die beide liebten (oder auch nicht), ist tot, die zwei, die sie überlebt haben, der eine ihr davongelaufen, der andere vor ihr verkapselt, haben überlebt. Das ist ihre Schuld, kein Gespräch könnte daran etwas ändern, über einem Grab taugt eine Versöhnung nichts. Am Ende des Essens gibt man einander manierlich die Hand und geht seiner Wege, Konrád zurück nach London, Henrik zurück in sein Schloss, jetzt können beide sterben. Eine Gespenstergeschichte also; und man tut sich nicht schwer darin, in ihr allen möglichen Gespenstern beim Spuken zuzusehen. Das Jahrhundert. Das untergehende Ethos einer Aristokratie/Bürgerlichkeit, über das die Geschichte hinwegmarschiert ist. Die ausgesprochenen und die unausgesprochenen Kontrakte, die allesamt gebrochen werden, was bleibt, ist die Gefasstheit, mit der man den Konkurs eröffnet. Das löst sich nicht auf, nicht mehr, Alb bleibt Alb und sitzt den Leuten auf der Brust, c'est tout, kein Pardon, keine Entsühnung. Andererseits: did not work for me, not at all. Was Márai hier gemacht hat, kommt mir billig vor, erschlichen. Eine Maschine konstruieren, wenn sie fertig ist, anschalten und ihr beim Funktionieren zusehen. Der konstruktive Imperativ, den anderen nicht sprechen zu lassen, ist zugleich ein so verdammt billiger Trick (und wie bescheuert ist das eigentlich von mir, einem Roman in die Konstruktion grätschen zu wollen… andererseits: so liest man nun einmal, als Pflichtverteidiger des Materials… ). Mein alter Hang zu den fehlerhaften Geschichten, der anderen Sorte Spuk, dem Spuk des Materials, das sich gegen den Autor richtet. Und die Wahrheit der Geschichte ist natürlich, dass auch Márai mit dieser Geschichte schäbig über eine weibliche Leiche gegangen ist. [Die erste Hälfte des Buchs dagegen, alles vor dem Eintreffen dessen, der sich seine Anklage, sein Urteil, seine mildernden Umstände abholen muss; die erste Hälfte also, die nicht Monolog ist, sondern von außen erzählt, in einer merkwürdigen Distanz zwischen Nah- und Totalaufnahme: sagenhaft gute Prosa.]