Henning Mankell: Die Brandmauer, Zsolnay 2001 Global operierende Globalisierungsgegnerhackerbande will das globale Wirtschaftssystem kaputtmachen, indem einer von den Hackern in der schwedischen Provinz eine magnetstreifenmanipulierte Kreditkarte in einen Geldautomaten steckt. Blöderweise erliegt der Mann einen Gehirninfarkt, die Bande wird nervös, bis nach Angola hinunter, bringt Leute um, alles geht schief, am Ende hat der Muffkopp Wallander den Fall aufgelöst, die Kontenströme gehen weiter, findet er auch doof, aber ist halt sein Job, weitermuffen. Gott, ist das öde.

Jean-Christophe Rufin, Globalia, Kiepenheuer & Witsch 2005. Die schöne neue Welt lebt unter Biosphäre-Kuppeln, alles klimatisiert und wohltemperiert, vom Klima bis zu den Temperamenten. Junger Mensch, damit nicht zufrieden, haut ab in die wilden Zonen da draußen zwischen den Kuppeln, lernt lauter wilde, aber authentische Leute kennen, Sonnenbrände, Hunger, echte Gespräche über den Sinn von dem allen, am Ende gewinnt das schöne neue globale alles beherrschende von Bill-Gates-ähnlichen benevolenten Daddy-Diktatoren aufgezogene System, aber immerhin kann der junge Mann mit seiner Ische weiter draußen bleiben bei den authentischen Leuten. Gott, ist das öde.





David Peace: 1974. Liebeskind, 2005

Poser!





Uwe Tellkamp, Der Eisvogel, Rowohlt Berlin 2005

Die Berliner Republik vor der Jahrtausendwende. Der arbeitslose Philosoph Wiggo Ritter lernt den Patentanwalt Mauritz Kaltmeister und dessen Schwester Manuela kennen. Kaltmeister hat den rechten Geheimbund Wiedergeburt gegründet, eine Art Antipöbel-Wutverein, dem Industrielle, Geistliche, ein einflussreicher Politiker und andere Stützen der Gesellschaft angehören. Nun will Kaltmeister die Wiedergeburt um einen bewaffneten Arm ergänzen, eine Art Rechte Armee Fraktion mit dem Namen Cassiopeia (das gleichnamige Sternzeichen gleicht einem W), die Warenhäuser sollen brennen, wie damals bei der RAF. Dabei macht Ritter, zuvor einverstanden mit dem Wiedergeburt-Programm (geistige Rundumerneuerung, Massenkulturhass, Demokratieverachtung, Elitestaat) dann aber doch nicht mit und schießt Kaltmeister tot, während die Kulisse, eine stillgelegte Fabrik, in die Luft geht. Hinterher liegt er mit schweren Verbrennungen in der Intensivstation und erklärt sich, dem Leser und dem Herrn Verteidiger: wie hat es bloß dazu kommen können?

Diese Erklärung, wie ein Philosoph zum Beinaheterroristen wird, ist der Tellkamproman, der jetzt da und dort als ein Symptom besprochen wird - für einen neuen dringlicheren Geist, für einen neuen höheren Ton in der Dichtung. Kein Popliteratenroman mehr, sondern ein Berlinerrepublikroman, in dem keine CD-Listen und keine Klamottenmarken und kein Herumsaufen mehr vorkommen, sondern die drängenden Fragen der Epoche, jedenfalls für die Deutschen, behandelt werden. Ein Roman, in dem der Spaß und die Ironie vorbei sind und sich endlich einer einmal dem Untergang stellt, der um uns alle spielt, musst ja nur ins Fernsehen schauen, was für einen Dreck sie da spielen, musst nur das Radio anmachen, was für einen Dreck sie da spielen, musst nur in einen Buchladen gehen, was für einen Dreck sie da stapeln, musst nur in einen Schuhladen gehen, was für einen Dreck sie dir da andrehen wollen, musst nur in ein Arbeitsamt gehen, was für begabte junge Menschen, die Besten ihrer Generation, da herumwarten und kein Auskommen finden. Als so ein Buch also wird der Tellkamproman da oder dort besprochen, als ein Menetekel, das er der selbstvergessenen Gesellschaft geschrieben hat. Dabei reden doch die Merkel und der Merz, solange er noch im Amt war, und der Stoiber und der Industrie- und Handelstag den ganzen Tag auch nichts anderes, so dass man für einen Klamottenmarkenroman schon wieder zutiefst dankbar wäre.

Falls man den Tellkamproman aber tatsächlich liest - denn wozu sollte man sich noch ein paar Epochenschelten und noch ein paar Ruckreden und noch ein paar Zustandslamentos zumuten - findet man aus der Verwunderung nur schwer wieder heraus. Das soll es jetzt sein? Dieser Trash, der dem, was er verdammt und womit er sich quält, so sehr gleicht?

Von den prononciert ausgesuchten Adjektiven abgesehen, hat Tellkamp eine Plotte geschrieben, auf jeder Seite ahnt man im Tellkampkopf den inneren Fernsehproduzenten, der eine To-Do-Liste abarbeitet: Vorstadtvilla, verkommenes Altbauloch, Bösewichter in Nadelstreifen, kinky Sex, mad scientists, Frauen, die's im Bett nicht ernst meinen, Kindheitstraumata, Explosionen, große Abschlussreden zu gezogenen Pistolen - alles, was in einen deutschen Fernsehkrimi hineingestopft wird, ohne dass er sich dagegen wehren könnte, kommt bei Tellkamp auch vor.

Ein Leser wie ich zum Beispiel, der zufällig auch Philosophie studiert hat, fragt sich nach spätestens fünfzehn, zwanzig Seiten, was das denn für einer ist, der als Philosoph durch den Roman gescheucht wird, ein Depp, der ständig die Philosophie mit Distinktionsgespreize verwechselt und mit ihr nichts anderes anzufangen weiß, als sich bei jeder Gelegenheit selbst zu attestieren, dass er ein geistiger und ein musischer und ein sehr ernsthafter Mensch ist. Damit fängt es schon an in dem Tellkamproman: Einer, von dem behauptet wird, dass er ein Philosoph ist, ist noch lange keiner. Dazu sollte er nämlich denken und analysieren und argumentieren können. Doch einem vom Format des Herrn Ritter würden selbst an einer überlasteten Massenuniversität bereits die Proseminararbeiten wieder zurückgeschmissen werden, weil die Philosophie schon lange nicht mehr ein Werkzeug dafür ist, sich selbst vornehm zu finden. Es ist bei Tellkamp wie so oft in der Unterhaltungsindustrie: Der Geisteswissenschaftler ist ein Maniker mit flackernden Augen und wundem Herzen, der keinen Tau hat von seiner eigenen Disziplin. In der Unterhaltungsindustrie hat die Geisteswissenschaft immer nur einen Gefühls-Dekorations-Job zu erledigen und nie einer Disziplin zu gehorchen, in der Unterhaltungsindustrie sitzen, lamentieren, denken Geisteswissenschaftler immer nur herum und sagen Sätze, die man sich irgendwo hinsticken und in einen Herrgottswinkel hängen könnte, aber in einem geisteswisssenschaftlichen Text nichts verloren haben. So ein Depp also ist der Tellkampromanphilosoph: einer, der ein ganzes Buch lang, in dem er sich unablässig bescheinigt, einen supertiefen Gedankenreichtum zu haben, keinen einzigen Gedanken denkt, den man für einen Gedanken nehmen könnte; einer, aus dessen Kopf bloß ekelige Wehleidigkeit herauskommt oder ekeliger Abscheu vor dem blöden Massenmenschen oder ein ekeliges Sichbesserdünken gegenüber der Welt der materiellen Zwecke, der interessengepeitschten Geldwelt, in der das Geistige die Dignität nicht mehr abbekommt, die das Geistige für einen Unterhaltungsindustriellen vermutlich nur solange haben kann, solange man es gegen die Welt hinausdeklamiert, ohne dass die Welt widersprechen dürfte. Kein Gedanke, ein ganzes Buch lang. Keine Analyse, keine Kritik, keine Argumentation, kein Urteil, keine Ableitung, nichts, was Philosophen seit reichlich über 2000 Jahren machen. Bloß Ressentiment, Selbsterhebung, Selbstbehauptung, Geschwalle.

Aufs Ganze gehen, neuer Ton, you wish! Wie in jedem schundigen deutschen Formelvorabendfernsehfilm und wie in jedem schundigen amerikanischen formula book, die Tellkamp so inbrünstig verachtet, kann er sich für den Weg seines Geisteshelden zum Beinahe-Terroristen auch wieder nur Motive vorstellen, die von jenseits des Nachdenkens stammen, in Urszenen, in der Pubertät, im Biografiemüll verkapselt sind. Ohne Motive kommt der Tellkamproman so wenig aus wie eine Erik-Ode-Kommissar-Folge, in der ja auch immer der Trinkspiel-Augenblick dräut, in dem beim Verhör in der Waldvorortvilla die kalte herzlose Pubertät des Verdächtigen ausgepackt wird. Nix kommt von nix, aber vom Nachdenken kommt es nie. Der Tellkampphilosophenvati nämlich ist ein Investmentbanker, und früher war er ein 68er und hat auch seine Ideale gehabt, da wird dem Tellkampleser gleich mitgegeben, dass das eine Sowasvonsau sein muss, doppeltböse. Damals in der Wiggofrühgeschichte haben die Ritters in Nizza gelebt, wurzellose globale Investmentbankersippschaft, nirgendwo schollig werdend. In Nizza hat die Mutter Wiggo irgendwann zum Maßschneider geschickt, damit er immer einen schönen Maßanzug tragen kann, und Wiggo hat sich in die Schneidereiangestellte verliebt, aber gleich nachdem er das erste zarte Liebesgefühl in seinem Leben verspürt hat, hat er beim Spazierengehen am Nizzastrand seinen Vati mit der Schneidereiangestellten beim Ficken belauscht, und dabei hat die Schneidereiangestellte zum Vati gesagt, sie glaubt, dass der Sohn sich in sie verliebt hat. Bumm, ist ein Trauma fertig, man kann es nicht anders sagen, immer sind die Alten da und nehmen einem die Gelegenheiten weg. Und es bleibt einem gar nichts anderes übrig als ein empfindsames Traumahascherl zu werden, das in eine Privatschule hineingesteckt und vom Vati für eine gute Karriere verplant wird, auch wenn man das selbst gar nicht mag, sondern lieber ein Philosoph werden und über die Welt nachdenken will, bloß nicht auch so ein entwurzelter Geldmensch werden, der überall herumzieht und überall Geschäfte macht und überall mit den Frauen herumschläft und die Mutti schließlich herzlos austauscht gegen eine viel jüngere Flitschen.

Damit hat es aber im Tellkamproman noch nicht sein Bewenden, da kommt wie in der Unterhaltungsindustrie immer noch etwas nach, da kommt die Wucht aus dem Auftürmen, da müssen dem Romanleser noch ein paar weitere Traumata des begabten Kindes hineingeprügelt werden, damit er denkt: na bumm, ein armer Hund, der Romanheld, kein Wunder, dass er so leidet. Also lässt Vati Wiggo in seiner Bank antanzen, um ihm die Flausen auszureden, kannst anfangen bei mir, 100.000 Anfangsgehalt, Philosoph, so ein Schwachsinn. Und hetzt ihm gar seine eigene Spitzenassistentin an den Schwanz, gehns Fräulein, denkt sich der Tellkamproman vom Philosophenvater aus, gehns Fräulein, würden sie bitte meinen Sohn verführen, damit der wieder einen Gefallen am Leben findet und nicht ein Philosoph werden will, falls Sie das schaffen, Fräulein, bekommen Sie auch den Job in Singapur. Und sicher macht die das und verführt Wiggo und fickt mit ihm in einer Wohnung, von der aus der Blick über den Bundeskanzlerpalast schweifen kann, und der Wiggo ist auch gründlich verwirrt hinterher und kommt ein wenig ins Straucheln mit seinem Philosophiewollen, aber dann sagt die Vatiassistentin, dass das jetzt aus und vorbei ist, all over now, Englisch, Entwurzelungssprache, war ein Spaß, war schön, aber jetzt nicht mehr, und ob er denn glaubt, dass sie das denn freiwillig getan hätte. Noch ein Trauma also für den armen Wiggo, superdick kommt das in so einem Symptomroman, Trauma galore.

Wieso, frage ich mich dabei, wieso müssen in den aufs Ganze gehenden Romanen dieser Ganzgehburschen die Frauen immer so zwanghaft geschlechtlich sein und den Romanhelden immer so eine Geschlechtsangst machen? Bei Kunkel ist das ja auch so gewesen oder bei Hoeullebecq. Dass denen nie eine andere Frau einfällt als eine, die ihr Geschlechtsteil berechend, lüstern oder sonstwie hinterhältig einsetzt und den Männern einen Geschlechtsdolchstoß gibt! Sind es denn nicht die Ganzgehburschen, die vor der Dekadenz und der Verkommenheit der zeitgenössischen Welt verächtlich ausspucken? Warum bringt dann ihr Kunst- und Zeitdiagnostik- und Verurteilungsgewolle nie etwas anderes zustande als diese Trashmädels, die ihre Pussies zu Panikattacken schmieden? Dass die immer noch so schreiben, als würden sie dem Theweleit Belegstellen für die Männerfantasien liefern wollen! [Wäre vielleicht eh gut, gäbe es einen dritten Männerfantasieband, Gegenwart statt Weltkrieg I: das Flintenweib in der Epoche des globalisierten Kapitalismus, transnational.] Im Tellkamproman jedenfalls hat es viele böse Pussyfrauen: die Schneidereiangestellte, die es mit dem Vati tut, und die 30jährige, die den Vati heiratet, und die Vatiassistentin, die nach Singapur will, und die Terroristenschwester, die kinky Revolversex haben will, und die eigene Schwester, die es mit dem Vati hält und mit einem Fernsehcomedy-Idioten lebt, und als der Wiggo schließlich verbrannt in der Intensivstation liegt, wird er von einer feministisch anagitierten Krankenschwester mit Bettpfannen und Stuhlgangfragen traktiert - das kann sich der Tellkamproman nämlich auch nicht ersparen, dass er der lästigen Krankenschwester einen Feminismus ankreidet, so wie er dem lästigen Vati ein 68-er-Bekenntnis ankreidet, das muss auch sein, unforced historische Vertiefung, drangepapptes Ressentiment. Und die einzigen Frauen, die gut sind im Tellkamproman, sind erstens Mutti, zweitens die Spachtelmassenfabrikantin, die ein apricotfarbenes Kostüm zu apricotfarbenen Lippen und apricotfarbenen Schuhen trägt, jede Menge color coordination, und eine andere Krankenschwester, die Eichendorffgedichte auswendig hersagen kann. Oh ja, es gibt sie, die sanfteren Frauen, sie haben kein Geschlecht, sie tragen Apricot und kennen Eichendorff. Schon klar, ein jeder kann sich ausdenken, was er will in so einem wuchtigen Roman. Aber manchmal macht man sich schon seine Gedanken darüber, ob die Erhabenheit eine Funktion der Geschlechterpanik ist.

Fair bleiben jetzt, Praschl. Es sind ja nicht nur die Frauen, die einen Terroristen machen. Das hier ist mehrdimensional, großes Ganzes, Motiv-Multitasking. Nächstes Trauma auf der To-Do-Liste: Arbeitsplatzverlust. Erstaunlicherweise hat es nämlich der Tellkampphilosoph dem Vater zum Trotz doch zu etwas gebracht; grandiose Dissertation über Thomas Morus geschrieben, danach vom Doktorvater zum Assistenten erkoren, alles prima. Doch dann schmeißt der Professor ihn von einem Tag zum anderen einfach raus, wegen irgendwelcher unbotmäßig reaktionärer Gedanken, ah! die Diktatur der politischen Korrektheit. Das ist es dann gewesen mit der Philosophie als Beruf. Jetzt sitzt Wiggo auf dem Arbeitsamt und muss sich sagen lassen, dass es noch nie gelungen ist, einen arbeitslosen Philosophen in ein philosophisches Arbeitsverhältnis zu vermitteln, lassen Sie sich doch umschulen, anders wird das nichts mehr mit einem Auskommen. So ist das nämlich, Job weg, einfach so, und was ist das denn bitte schön für ein Staat, in dem Fernsehcomedy-Idioten und Investmentbankerassistentinnen eine Wohnung und ein Auto und alles andere auch haben, aber ein ehrlicher Philosoph, der niemandem etwas zuleide tut und über ernste Fragen nachdenkt, kein ehrliches Auskommen mehr findet, sondern sich als subalterner Labordiener verdingen muss?

Jetzt ist er reif. Jetzt ist er ansprechbar. Jetzt ist er verführbar. Jetzt stiehlt sich der Mauritz Kaltmeister mühelos in seine wunde Seele hinein. Dass das System, das einen so begabten musischen Menschen wie einen Wiggo Ritter einfach ausspuckt, nur ein Dreckssystem sein kann, dazu muss der Kaltmeister ihn gar nicht erst lange überreden. Und dass eine Wiedergeburt, in der der Geist noch etwas wert ist und die Kulturmenschen das Sagen haben statt des Pöbels, ist ebenfalls ein Gedanke, der ihm schnell einleuchtet. Wo die Wiedergeburtsmitglieder doch so schöne Apricotkostüme tragen und ein Bischof zu ihnen gehört und sie so einen guten Benimm haben und die klassische Musik und die Linnésche Taxonomie schätzen. Und vielleicht ist es sogar richtig, dass wieder einmal ein Krieg hermuss, damit die Gesellschaft endlich wieder einmal durchgeschüttelt wird und den Mehltau abschüttelt, das öde Demokratische, das doch nur zum Massengeblöke und zur Pöbelherrschaft führt. Jetzt ist der Wiggo also fällig, und das alles nur, weil Paps vor vielen Jahren mit der Frau, in die der Sohn sich verliebt hat, geschlafen hat, umgedrehter Ödipus, böser böser 68er-Triebdämon.

Bequemerweise sind die Wiedergeburtler ja gar keine Nazis. Ein Nazi, ich?, schüttelt sich der Wiedergeburtler, mit derselben Geste, mit der sich auch ein Michael Ballack gegen die Schiedsrichterpfeife verwehrt, obwohl jeder im Stadion das Foul gesehen hat. Der Wiedergeburtler hat doch nix gegen den Juden, nix gegen den Ausländer und nix übrig für die Welteroberung. Die Sorte Krieg, die Kaltmeister sich herbeisehnt, ist einer gegen das Lasche, nicht gegen den Osten - der Geist soll einen Lebensraum bekommen, nicht das deutsche Volk. Und wenn die Wiedergeburts-Elitetruppe, zuerst zögernd, dann erleichtert die Nationalhymne anstimmt, dann aber eh nicht die Nazistrophen, kannst ganz beruhigt sein. Später, in der zweitschäbigsten und zweitbilligsten Passage des Tellkampromans, wird Kaltmeister in einer U-Bahn ganz alleine, sich beherzt auf Samurai-Kampfeskunst verlassend [oh! all die deutschen Fernsehkrimis, in denen die Bösewichter in Judoanzügen das Verkloppen trainieren!], einen Kampfhund schlachten und ein paar Skinheads fast tothauen, weil sie ein ausländisch aussehendes Paar bedroht haben. Da weiß der Leser: Der Nazi-Verdacht geht ins Leere, hier ist etwas anders zuhause, das wollmer mal festgehalten wissen, nicht wahr?

Was muss ein Rekrut machen, um seine Loyalität zu beweisen? Richtig: eine Mutprobe. Kaltmeister verlangt von Ritter, den Professor zu erschrecken, der ihn hinausgeworfen hat. Und so steigt in der allerschäbigsten und allerbilligsten Passage des Tellkampromans Wiggo in einem Clownskostüm in die Wohnung des alten Phiosophen ein, um dessen Heimkehr zu erwarten. Es stellt sich heraus: der Professor ist ein Messie, eine Drecksau, seine Wohnung mit Staub überzogen, Müll im Flur, eine einzige Müllhölle. Und im Arbeitszimmer stehen Heideggerbände! Obwohl er sich doch immer über Heidegger lustig gemacht hat! Als der alte Herr dann nach Hause kommt, beobachtet Ritter aus seinem Versteck, wie er im Bademantel durch die versiffte Wohnung schlunzt, wie er duscht, wie er ein Micky-Maus-Heft liest. Und dann sieht er auch die eintätowierte Nummer auf dem Arm des alten Herrn. Und beschließt, ihn nicht zu erschrecken, sondern sich leise wieder aus der Wohnung zu stehlen.

[Ja, es geht tatsächlich so schäbig im Tellkamproman zu. Als ich mir auszumalen versucht habe, wie an genau dieser Stelle die Tellkampimagination beschaffen gewesen sein muss, ist mir gleich wieder so klamm geworden wie jedes Mal, wenn einer die Auschwitzkarte zieht, Auschwitzkarte, weil das ja immer nur ein Spielzug ist, ein Signal, mit dem herumgefuchtelt wird an bestimmten Stellen, an denen Leute sich einbilden, dass jetzt ein Spielzug oder ein Signal fällig wird, und ich stellte mir dann Tellkamp vor, wie er über seinem Text gesessen und einen alten Mann in eine Badewanne hineingeschrieben hat, und er hat sich vorgenommen, ein junger Mann soll ihn gleich fürchterlich erschrecken, und wie kriegt er es jetzt hin, dass der junge Mann von seinem Vorhaben ablässt, und dann fällt Tellkamp genau ein Spielzug ein: er tätotowiert den alten Mann, den er sich ausgedacht hat, mit einer Auschwitznummer. Und genau an diesem Punkt, Auschwitz ex machina, fällt es einem so schwer, was einem doch sonst immer gelingt: der literarischen Imagination alles für – eben nur literarisch durchgehen zu lassen. „- na und, verdammt noch mal? Kann einer der im KZ gesteckt hat, nicht trotzdem ein Arschloch sein?“, lässt Tellkamp hinterher Kaltmeister dem Ritter sagen, nachdem der ihm von der Auschwitz-Nummer erzählt hat. Und einen Augenblick lang, nachdem ich das gelesen habe, habe ich mich gefragt, ob das vielleicht der Satz gewesen ist, den Tellkamp als allerersten hatte, der eine Satz, den er loswerden, in einem Buch haben wollte, but then again, solche Fragen stellt man nicht… (– Na und, verdammt noch mal? Kann einer, der bloß einen Roman geschrieben hat, nicht trotzdem ein Arschloch sein?) ]

Danach: Kaltmeister ist gründlich enttäuscht, Wiggo nimmt an einer Art Wehrsportübung teil und verliebt sich in Kaltmeisters Schwester, die sich ihrerseits verliebt, Kaltmeister wird immer manischer, Showdown mit großer Kaltmeisterterroristenverzweiflungsabschlussrede, Pistolengefuchtel, schließlich Wiggo, der Kaltmeister erschießt, aus fertig. In einem Sat1-Filmfilm wäre das Gebäude umstellt und ein Polizeihubschrauber würde über ihm kreisen, aber geht das zur Not auch so.


Sicher kann sich einer ausdenken, was er will. Ist doch eh nur ein Roman. Was mach ich aber mit den Ehnurromanen von einem Ehnurdichter, der sich in seinen Marketing-Maßnahme-Interviews ein Branding verpasst, in dem die Dichtung eine Dignität hat, vor der du lieber in Deckung gehst, so ernst meint die Dichtung das?


Das bin doch nicht ich, das ist doch nur meine Figur, komm mir doch nicht so unliterarisch daher.

Andererseits: ein bisserl Empathie geht alleweil.


Das rein Somatische an all den Figuren. Alles, was die gegen die Zeit, die Epoche, den Staat, das System haben - ist so etwas wie ein Jucken, eine Allergie. Die rechte Revolution wäre dann so etwas, wie sich zu kratzen. Oder endlich einen Pullover anziehen zu dürfen, der nicht juckt.


Worüber ich auch nachgedacht haben könnte, wenn ich nicht zu müde gewesen wäre: Warum Tellkamp in seiner Geschichte keiner einfällt, der die Fragen stellt, die jeder sich stellen würde, würde er mit so einem Kriegs- und Revolutionsprogramm anagitiert – wie so ein Elitedingsbums sich denn praktisch, alltagsmäßig ausgestalten ließe. Ich jedenfalls würde da ja nachfragen: Bittschön, Herr Kaltmeister, und wenn die Wiedergeburt dann gesiegt haben wird, wie stellen Sie sich das dann vor mit der Eliteherrschaft? Machen Sie da vorher Elite-Assessment-Center, ob einer auch hart und musisch genug ist für die hohe Aufgabe, würde ein Minister hinausgeschmissen, wenn er den Genetiv nicht beherrscht, würde man in ein Umerziehungslager kommen, falls man mit einer Britney-Spears-Platte oder einem Stuckradbarre-Buch erwischt würde? Und was würden Sie denn mit den arbeitslos gewordenen Investmentbankern oder den Fernsehcomedyidioten anfangen? Würden die dann Eichendorff-Gedichte vortragen müssen?


Fair bleiben, Praschl: Das ist eine grauenhafte Kolportage, heißt es da oder dort in den Kritiken ja auch. Und dann kommt hintendrein gerne der Satz: „Aber sprachlich kann er was“. Nun ja. Man könnte ihn ja zitieren:

- Philosophie. Aha. Der alte Kaltmeister blies geruhsam den Rauch seiner Zigarre aus, neigte den Kopf nach hinten, ließ Rauchringe steigen, die im Halbdämmer des Zimmers wie in einem mäßig beleuchteten Aquarium aufschwammen, durch die herabgelassenen Jalousien einfallendes Licht durchtauchten, unter der hohen Decke, an der ein ausgreifender Leuchter in Gestalt eines Oktopus hing, zerflatterten. Dann sind Sie also auch ein geheimer Baumeister. Die Kunst des Staatsbaus scheint mir eine der schwierigsten Künste zu sein, die das Menschenwesen kennt. Ordnung und Unordnung, diese zwei Gefahren bedrohen unaufhörlich die Welt, sagt Valéry. Womöglich ist die Unordnung gefährlicher? Jedenfalls scheint mir heute einiges dafür zu sprechen... Möchten Sie noch einen Tee, Herr Ritter?


Die Welt, 13. August 2004:

Die Welt: In Klagenfurt wurden Sie aus durchaus nahe liegenden Gründen vor lauter Begeisterung gleich zur Reinkarnation von Claude Simon geschlagen.

Uwe Tellkamp: Naja. Simon kenne ich zwar und mag ich auch, wie Lobo Antunes und Faulkner und Günter Grass. Aber wenn ich mich auf zwei Vorbilder festlegen sollte, wären das Thomas Mann vor allem und Marcel Proust. Weil beide Epiker sind und mich das Epische immer interessiert hat. Das Weltumgreifende, der Roman als Kapsel, als Botanisiertrommel der vergangenen Zeit.


Fühllosigkeitsliteratur.


Die Wahrnehmungsimpotenz von so einem.





Santiago Gamboa, Die Blender, Wagenbach 2005 (im Original 2002)

Ein Fernsehredakteur aus Paris, kolumbianischer Immigrant, zäher Zyniker, was sein Leben, die Frauen, das Fernsehen betrifft; ein kolumbianischer Literaturdozent und Romancier aus Austin/Texas, höchst erfolglos, aber davon überzeugt, in die erste Liga der Weltliteratur zu gehören, tagträumend von Susan Sontag-Botschaften auf seinem Anrufbeantworter; und ein vor der Emeritierung stehender Sinologe aus Hamburg, geschätzt in seinem Fach, penibel, lebensunerfahren und ein Zauderer, werden vom Autor nach Peking geschickt und, jeder für sich, jeder aus anderen Gründen, in eine mehrfach verwickelte Agenten-, Doppelagenten- und Kriminalgeschichte gehetzt. Es geht um ein kostbares Manuskript aus der Zeit der Tang-Dynastie, von der Sekte der "Boxer" (wie sie von den Europäern genannt wurde) als heiliger Text angesehen, verschwunden während des Boxeraufstandes, jahrzehntelang in einer französischen Kirche gebunkert, nun wieder aufgetaucht, die Nachfahren der Sekte wollen es verständlicherweise wieder in ihren Besitz bringen, die französische Kirche will es mit Hilfe der Botschaft und des Geheimdienstes außer Landes schaffen, damit es nicht zu politischen Verwicklungen kommt, eine Splittergruppe der Sekte will es ebenfalls haben, der Sinologie-Professor hat schon immer den Dichter geliebt, der es geschrieben hat, der chinesische Großvaters des Erfolglos-Schriftstellers hat es vor seiner Flucht nach Kolumbien einem französischen Leutnant zur Aufbewahrung gegeben, der Pariser Fernsehredakteur ist ohne sein Wissen vom Geheimdienst als Manuskript-Herausholer ausgeguckt worden, kurzum: völliges Chaos. Und Gamboa inszeniert es, immer noch eine weitere Drehung, immer noch eine Volte, manchmal fast slapstickhaft, immer höchst elegant, auf dem Weg burleske Liebesgeschichten und Sexszenen in die sowieso schon volle Geschichte stopfend, böse Witze über die lateinamerikanische Literatur reißend, er kann gar nicht genug kriegen, seinen Figuren und dem Leser noch was mitzugeben. Sehr lustig, sehr gewandt, sehr irrwitzig. Tolles Buch.





Medlar Lucan & Durian Gray, Die Kunst der dekadenten Küche. Ein Kochbuch für Ästheten, Gourmands und schräge Genießer, Edition Tiamat 2005 (Original 1995)

Das Pseudonym Durian Gray ist schon mal klasse (falls Sie nichts damit anzufangen wissen, fragen Sie im Asia-Food-Laden Ihres Vertrauens nach einer Durian). Der Rest auch. Eine Sammlung von Rezepten, die alle nicht gesund, nicht leicht, nicht Wellness, nicht vom Lebensmittelchemiker, Diätassistenten und Fitnesstrainer approbiert würden. Antikrömische Menüfolgen (Gebratener Flamingo, Mit Hirn gefüllter Tintenfisch, In Milch gemästete Schnecken), Rehabilitationen des Bluts, der Innereien und des Hautgouts, seltener verwandte, aber durchaus essbare Tiere wie Katze, Hund, Meerschweinchen. Dazu eine kleine, gut ausgesuchte Anthologie von Décadent-Texten über Orgien, Gelage, Bankette (Huysmans, Mandiargues etc.). Ein wenig zu sehr auf den shock value bedacht - wenn man sich ein wenig mit der cuccina povera auskennt, weiß man ja längst, dass Blutkuchen, Hoden, Seeigel, Insekten oder Nagetiere so selten nicht vorkommen in den Küchen der Welt -, aber das nimmt man gerne in Kauf. Es ist ja tatsächlich eine Schande, dass in einer Zeit, in der man sich vor Kochbüchern kaum noch retten kann, anständige Innereien- oder Blutwurst-Rezepte nur unter viel Mühe aufzutreiben sind.





Fritz J. Raddatz, Unruhestifter. Erinnerungen, List 2005 (zuerst 2003)

Herrje. Das ist eines der Bücher, von denen man nicht weiß, ob man sie für peinlich oder grandios befinden soll, für beides hätte man gute Gründe. Einer, der im deutschen Kulturleben von beträchtlichem Einfluss gewesen ist - als Verlagsleiter bei Rowohlt, Feuilletonchef und Autor bei der Zeit, schließlich als Publizist - erzählt sein Leben und legt das ganz merkwürdig an: als Verteidigungserinnerung, als würde er der Nach-und Nebenwelt präventiv die Korrekturfahnen lesen. Da und dort hätte man ihn missverstanden, da und dort hätte man ihm Unrecht getan, da und dort hätte man seine Mimikry an den Betrieb mit seinem Charakter verwechselt, da und dort hätte man der Gerechtigkeit nicht ganz Genüge, ihm gar Unrecht getan. Das ist selbstverständlich albern, wenn es von einem 70jährigen kommt, über den der Betrieb, an den er sich erinnert und an dem er sich abarbeitet, längst befunden hat, er sei bedeutsam gewesen - und es dabei auch bewenden lässt, weil man sich mit Leuten, die im Betrieb keine aktuelle Rolle mehr spielen, eben nicht weiter aufhalten will. Das ist es aber, was Raddatz zu kränken scheint. Er insistiert darauf, lange nach den Schlachten, die den Beteiligten wie den Zuschauern völlig egal geworden sind, noch einmal zu sagen, was seine exakte Rolle darin gewesen und weswegen er dieses und jenes getan oder unterlassen hat, als läge da einer nach seiner Pensionierung schlaflos im Bett und hielte seinen ehemaligen Vorgesetzten und Konkurrenten immer noch Klarstellungsreden. Ja sicher, er hat seinerzeit möglicherweise zu selbstherrlich die Geschäfte Rowohlts geleitet, so dass Ledig sich übergangen fühlen konnte - aber doch nur, um die Integrität des Verlags, des Ledigschen Programms zu bewahren; ja gewiss war die Erwähnung der Bahnhofsuhr im Goethe-Artikel ein veritabler Bock, aber es gab erstens zwei Gegenleser, zweitens, unter uns Komplizen, widerfährt das doch im Journalismus ständig, drittens, wie die Gräfin das gehandhabt hat: selbstgerecht bis zum Gehtnichtmehr, ganz miese Vorstellung. Es ist ein Angestelltenroman, den er schreibt, der Roman des Angestellten im Kulturbetrieb. Man schindet sich für die Fabrik, tagaus tagein, man ist betriebsam, man vernachlässigt das Privatleben, man macht sich zum Affen und alles mit, die Parties, die Flüge, das ganze Geldgezerre, man muss sich mit Leuten einlassen, für die man viel zu gescheit ist, man wird mit Ikea-Möbeln, Erbsenzählern und schlechte Sekretärinnen gedemütigt, und der Dank dafür sind bloß nur Rancunen, Missverständnisse, Spielfeldverweise. Das ist vielleicht das Merkwürdigste an den Memoiren eines Mannes, der ja immerhin Feltrinelli, Genet, Fichte, Updike, Hans Meyer, Johnson und weiß Gott wen nicht allen gut gekannt hat: in seiner Rückschau reduziert sich sein eigenes Leben auf den mickrigen Demütigungs-, Positionierungs-, Anpassungs-, Resistenz- und Terrain-Kram, den jeder andere mittlere und höhere Kader in jeder anderen Firma ebenso gut rekapitulieren könnte. Er hätte ja auch, nur so zum Beispiel, darüber nachdenken können, ob ihm sein Leben als gelungenes erscheint, er hätte ja auch, nur so zum Beispiel, seiner geistigen Entwicklung hinterher erzählen können, über Positionen, Haltungen, Debatten, Erkenntnisse; aber noch nicht einmal über seine eigenen Romane, immerhin eine erstaunliche Wendung, vermerkt er mehr, als dass sie in Frankreich euphorisch besprochen wurden, in Deutschland dagegen eher missachtet. Es ist traurig: Er scheint sich selbst kein Werk attestieren zu können, bloß eine Laufbahn. Andererseits ist es diese Reduktion aufs Führungszeugnishafte, die Raddatz Memoiren auf eine bestimmte Weise so grandios hellsichtig macht: denn natürlich ist der Kulturbetrieb genauso, wie Raddatz ihn protokolliert, ein Markt, auf dem es zu wenig Platz für zu viele Ichs gibt, die gegeneinander behaupten und einander belauern zu müssen sich einbilden, auf dem jeder Charakter, jede Persönlichkeit unmittelbar ein Mittel im Konkurrenzkampf ist und jede Zurücksetzung möglicherweise eine Zurückstufung, einen Geländeverlust signalisiert. Deswegen dieses ständige Sich-mit-den-anderen-Messen, von dem Raddatz auch in der Erinnerung nicht ablassen kann, die Geburtstagsparty von Grass, zu der kaum noch ein Jüngerer erscheint, dagegen sein Geburtstagsempfang im überfüllten Literaturhaus, usw. usf. etc. pp. Man möchte so eine Empfindsamkeit selbst nicht haben, aber sie ist seismographisch, ein fein gestimmtes Messinstrument für die Notationen an der Kulturbörse; Raddatz selbst bekommt das gar nicht mit, er beharrt bloß darauf, respektiert, gemocht, geliebt zu werden, wie Knörer das schon anderswo notiert hat, aber nebenbei erledigt er es, das durch und durch Warenförmige des Betriebs, dessen innerlich reservierter Mitspieler er gewesen sein will, genau zu protokollieren. Wenn man weiß, wie viel Verlogenheitspathos sonst dem Kulturleben hinterhergekleistert wird, kann man dafür recht dankbar sein.

(Außerdem. Ein paar grandiose Anekdoten, etwa die von Ledig, der sich für einen nächtlichen Reeperbahn-Bummel mit Genet eigens einen Lederanzug schneidern lässt, was jener trocken mit "Sie sehen aus wie ein Koffer" quittiert.)

(Außerdem. Diese eine Passage über Augstein, bei der man sich auch noch eine Woche nach der Lektüre immer wieder fragt, warum er sich selbst und auch sonst ihm niemand - die zwei, drei Korrekturleser, die es wohl gegeben haben wird - in den Arm gefallen ist:

Verwunderlich dann doch der offenbar tiefsitzende Minderwertigkeitskomplex dieses mächtigen Pressetycoons. Er vergaß buchstäblich in keinem seiner Artikel eine Art Kellnerperspektive à la "Den habe ich doch jahrelang bedient" einzubauen. Ob eine Rezension der Genscher-Memoiren, er war natürlich ein "Freund", oder eine Replik auf Hans-Ulrich Klose - "Seine Tochter war mein Patenkind"-, was ja im Kontext der Diätendebatte wenig zu besagen hat; ob in einer Polemik gegen Robert Leicht, in der er "DIE ZEIT, deren Mitbesitzer ich mal war" einflocht, oder in einem Nachruf auf Horst Janssen, von dem er viele Kärtchen bekommen habe (als gebe es irgend jemanden in Hamburg, der sich hätte retten können vor diesen scheußlichen Schmierkärtchen): Augstein war, was Tucholsky den "Dabey-gewesen-Bey" nannte. Auch mit Bucerius - der sich vor ihm schüttelte: "Der Mann, der gegen mich prozessiert hat" - war er per Nachruf natürlich befreundet. Ein Splitter vom Holz des Literatenbaums, eine Eintragung im Tagebuch, hält mein Erschrecken fest:
17. Januar 1993 Mit sonderbarer Entfernung hat mich der Tod von Rudolf Nurejew berührt. Es muss dreißig Jahre her sein, dass ich ihn im Amsterdam in einer Schwulenbar kennen lernte, ein interessant-knäbischer Mann, der mich ansprach. [...] Es war dann - falls es "elegant" im Bett gibt - eine elegante Nacht in seinem Hotel [...] (und ich hatte mich an seinem wahrlich makellosen Körper delektiert wie an einer köstlichen Speise - es war, ohne Zärtlichkeit, Sex pur, aber voller Grazie....)[...] Peinlicher ein anderer Rudolf. Augstein ist ertappt, als junger Mann im Völkischen Beobachter geschrieben zu haben; [...]
Im Zusammenhang einer Stelle, in der es um die Ich-Sucht Augsteins geht, länglich mitzuteilen, dass Nurejew (hat immerhin auch Rudolf geheißen....) mit einem gefickt hat: das hat was.)





Joanna Briscoe, Schlaf mit mir, Bloomsbury 2005

Lelia, eine College-Dozentin für Französisch und Deutsch, und Richard, ein Feuilleton-Redakteur, noch nicht lange verheiratet und in Erwartung ihres ersten Kindes, beide in den Dreißigern und auf der schmerzhaften Schwelle zum Solide-Werden, das sie manchmal als Langweilig-Werden fürchten, geraten bei einer Party eines befreundeten Paares an eine Frau, die ihnen an jenem Abend nur aus den Augenwinkeln auffällt und keinen besonderen Eindruck macht. Sie ist eben auch da, wird vorgestellt, Sylvie, eine aparte Person von diskretem Geist und diskreter Schönheit; damit so eine bestürzend werden kann, muss man ihr erst eine Echokammer öffnen. Dafür wird gesorgt. Am Tag nach der Party beginnt Sylvie sich in das Leben der beiden zu weben, jeder bekommt seine eigene, berechnend abgezirkelte Mimikry: der Ehemann eine Literaturkennerin, die brillante Rezensionen schreibt, Gedichte zitiert, kokette Konversationen, den Wechsel zwischen Herausforderung und jähem Rückzug, irgendwann fällt sie über ihn her, immer ein wenig von oben herab, seine Ehemannskrupel geschickt verachtend, strategische Hinweise auf das, was er haben könnte, wäre er nicht so verzagt festgefahren in seinem Leben; seiner Frau dagegen gibt Sylvie eine andere Sorte Verführerin: die Warme, Schwere, wortloses Verständnis, Sorge, das Dabeisein, wenn die Schwangerschaftsübelkeiten einsetzen und die Geburtsängste wabern, kreatürliche Nähe, die sich leicht zu etwas Sprituellem hochjazzen lässt, Nur-Frauen-verstehen-was-Frauen-empfinden-Mystizismus. Sie braucht nicht lange, um beide rumzukriegen, er bekommt Blowjobs, sie weiche sanfte Haut, zartere Küsse, Aneinander-Liegen, beiden kommt es wie etwas Unentrinnbares vor. Und selbstverständlich weiß die Ehefrau nicht, dass auch der Ehemann mit Sylvie schläft, und umgekehrt. Am Ende stellt sich heraus: Sylvie wollte nicht beide, nicht ihn, nur sie; sie hatten schon als Mädchen etwas miteinander, sie ist Lelias nebelhafte Erinnerung an einen Frankreichaufenthalt, die immer wieder noch in ihren erwachsenen Träumen spukt. Sylvie hat sie ganz planmäßig gesucht und verführt, um sie wieder zu holen, aus ihrem verräterischen Leben, zu sich, der Frau, die sie immer geliebt hat, sie entführt sie, will, dass sie das Kind gemeinsam bekommen, kein Mann mehr. Aber dann kommt Richard, die Wehen haben schon eingesetzt, glücklicherweise noch rechtzeitig dahinter, die verrückte Nebenbuhlerin wird in die Flucht geschlagen, das Kind geboren, kann weitergehen, die Eheleute haben was gelernt. Die Synopsis sagt es schon: Das ist höherer Trash mit einem recht kläglichen Ende, aufs Verfilmtwerden hingeschrieben. Der Möglichkeitssinn sagt allerdings, dass man aus dem Plot viel hätte machen können; die dämlichen Lesben-Empfindsamkeits-Lügen raus, die abgeschmackten Kindheitsbegründungen weg, die notdürftig angepappte Entführungsgeschichte streichen, die Ehe draufgehen lassen: das wäre eine schöne Grausamkeitserzählung geworden, über das Perfide von Mimikry. Ist aber wahrscheinlich sehr albern, schon während des Lesens innerlich umzuschreiben.

Virginia Doyle, Der gestreifte Affe. Ein historischer Kriminalroman, Heyne 2005

Hamburg 1922, auf Sankt Pauli geht ein Serienmörder um, die Spuren führen zu Schiebern, ins organisierte Verbrechen, zu Auseinandersetzungen rivalisierender Zuhälter-/Nachtclub-/Drogen-Kartelle, zwischendrin wird ein Spartakistenaufstand niedergekämpft, am Ende wird der Mörder gefasst. Könnte - abgesehen vom Spartakistenaufstand - auch jetzt spielen, man würde dann halt emailen statt telegraphieren. Wahrscheinlich das Problem der meisten historischen Kriminalromane: Das Geschichtliche ist bloß draufgepappt. Man liest das so, wie man Fernsehfilme anschaut, die in der eigenen Stadt gedreht wurde, um des Lokalkolorits und der Wiederkennungsmomente willen. Aber, so fucking what, es sind eben doch nur billige Kulissen. Entbehrlich.





Max A. Höfer, Meinungsführer Denker Visionäre. Wer sie sind, was sie denken, wie sie wirken. Eichborn 2005

Ein lächerlicheres Buch habe ich lange nicht gelesen. Höfer ("Wirtschaftswissenschaftler und Politologe") beantwortet die nicht gestellte

"Frage, wer die Menschen sind, die in Deutschland die Debatten bestimmen. Unter mehr als 2000 Denkern, Meinungsführern und Visionären wurde ein Ranking ermittelt. Die Kriterien sind: Wie oft wird ein Denker in Zeitungen und Zeitschriften zitiert, wie stark ist seine Präsenz im Internet, und wie weit reicht sein Arm im Networking hinter den Kulissen?“
Und so geht das dann dahin: Meinungsführer, Internetpräsenz, peinigend schlimme Sprache. Das Top-200-Denker-Ranking (Platz 31: Klaus Staeck, Platz 128: Fritz J. Pleitgen) ist das Ergebnis trister, aber immerhin "gewichteter" Erwähnungszählerei in 83 "meinungsbildenden Medien" (Spiegel, Geo, NZZ, Rheinische Post &tc.), bei Google ("über 50 Prozent Marktanteil") und - für den Vernetzungskoeffizienten - im Munzinger-Archiv. Dass diese Methode schon deswegen albern ist, weil sie nur die "Rangstellung" (also Erwähnungshäufigkeit) jener ermitteln kann, die dem Ermittler selbst eingefallen sind, hat Höfer nicht mitbekommen - so wenig wie den Tod Derridas (Platz 3 in der G-Liste; "G" für Geisteswissenschaftler) am 8. Oktober 2004, obwohl doch er doch jeden Toten aus dem Buch (Erscheinungstermin: Februar 2005) eliminiert hat; vermutlich hatte Munzinger noch nicht aktualisiert. Zu jedem der wichtigsten 60 nach seiner eigenen Methode ermittelten Top-Denker liefert Höfer ein kurzes Portrait, in dem er dessen Sendung im deutschen Geistesleben skizziert. Wie in Talkshows - nach deren Muster Höfer sich Debatten vorzustellen scheint - hat jeder seine Rolle zu spielen. Claus Peymann ist der "Regisseur des Radical Chic" (dass er weiß, woher die Wendung stammt, steht nicht zu befürchten), Harald Schmidt "der ergraute Dirty Harry", Gerhard Richter "der Virtuose des Scheins". So erbärmlich wie diese Brandings sind die Erläuterungen. Im Derrida-Porträt etwa leistet Höfer sich folgendes:
"Derrida begeistert besonders den Feminismus. Denn nach seiner Theorie ist der Westen nicht nur logozentristisch, sondern auch "phallokratisch": Der Mann werde als das Grundmodell der Menschheit genommen und die Frau als Abweichung davon betrachtet. Das kommt in der Sprache zum Ausdruck, wenn beispielsweise das Wort "Studenten" in der männlichen Pluralform verwendet wird, obwohl es doch Männer wie Frauen bezeichnet. In den Achtzigerjahren versuchen feministische Gruppen die Gesellschaft zu ändern, indem sie fordern, künftig nicht mehr Politiker und Polizisten, sondern PolitikerInnen und und PolizistInnen zu schreiben. Doch bleibt das "Innen" nur eine kurze Mode. Was sich aber sehr wohl in der Gesellschaft durchsetzt, ist die Auffassung, dass bestimmte Berufe keineswegs nur Männern vorbehalten sein sollten."
Und so weiter und so fort, es ist so grotesk schlimm, dass man sich beim Lesen schämt.





Jorge Edwards, Der Ursprung der Welt, Wagenbach 2005 (im spanischen Original: 1996)

Ein Arzt, chilenischer Emigrant in Paris, schon in seinem siebten Lebensjahrzehnt, besucht mit seiner mehr als zwanzig Jahren jüngeren Frau das Musée d'Orsay und hat vor Gustave Courbets berühmtesten Bild, dem Ursprung der Welt, das einen räkeligen Teilakt zeigt, die Empfindung, dass Courbets Torso jenem seiner Frau gleiche - und gleich hintendrein, man weiß nicht recht warum, auch den Verdacht, dass nicht nur er selbst seine Frau so gesehen hat wie Courbet sein Modell, sondern auch sein alter und bester Freund Felipe, Säufer, Fresser und serieller Verführer. Doch ach! ehe er ihn zu seinem Verdacht befragen kann, begeht Felipe Selbstmord, Whisky und Schlaftabletten. Im Nachlass des Toten findet der gute Doktor (a) ein unverfängliches Portrait seiner Frau (mit der Felipe ein Emigrantenleben lang so innig befreundet war wie mit ihrem Mann) und (b) ein Aktfoto im Stile Courbets, also gesichtslos. Das treibt ihn um, das macht ihn verrückt, das lässt ihn gepeinigt gemeinsame Bekannte peinlich verhören, ob sie denn etwas wüssten über eine mögliche Affäre zwischen Felipe und der Ehefrau, und alle diesbezüglichen Beruhigungsversicherungen beruhigen ihn nicht. Als er schließlich, endgültig blöde geworden, die Frau selbst mit seinem Eifersuchtsrasen überfällt, erzählt sie ihm ohne viel Umstände: ja sicher, vier- oder fünfmal sei sie mit Felipe ins Bett gegangen, ja, er hätte sie fotografiert, ja, es wäre gut gewesen, ja, selbstverständlich hätte sie bei Felipe Orgasmen gehabt. Danach ist alles wieder gut. Nur, dass man nicht genau weiß, ob sie bei ihren Auskünften die Wahrheit gesagt hat oder erfunden, dem Doktor zuliebe. Schöne eheliche Burleske, sehr elegant und sehr gescheit.





Ha Jin, Im Teich, dtv 2001 (im Original: 1998)

Nach Verrückt enttäuschend. Der Arbeiter und Freizeit-Kalligraph Shao Bin wird bei einer Wohnungszuteilungsrunde übergangen. Von da an führt er einen nervend rechthaberischen Kleinkrieg gegen die korrupten, intriganten und sowieso doofen Fabriksleiter und Orts- und Provinzparteiführer. Er schreibt Leserbriefe und Eingaben, beschwert sich bei den Chefs der Chefs, lässt nicht nach. Am Ende bekommt er, was er will, und einen neuen Job noch dazu, muss nicht mehr in der Fabrik stehen, sondern darf für die Propgandaabteilung pinseln. Na toll. Will man einen Roman lesen, in dem ein Unterhansel sich beim Oberhansel über die Mittelhansel echauffiert, bis er selbst zum Mittelhansel wird? Ich nicht. Ja gewiss, wahrscheinlich erfährt man darin, wie es im kontemporären China zugeht; aber das hatte man sich schon selbst gedacht, dass es auch dort zäh und kleinlich ist.

Peter Rühmkorf, Tabu II, Tagebücher 1971-1972, Rowohlt 2004

Rühmkorf hat eine Schreibkrise und schreibt darüber. Rühmkorf hat ein mickriges kleines Verhältnis mit einer Gymnasiastin, die sich gemeiner- und unverständlicherweise in ihn verliebt und deswegen rumzickt. Rühmkorf findet Ulrike Meinhof doof und schreibt darüber. Rühmkorf hat mit seinen Theaterstücken keinen Erfolg und schreibt darüber. Rühmkorf findet, seine Konkurrenten auf dem literarischen Markt sind überschätzt, und schreibt darüber. Unangenehmes Buch. Sehr unangenehmes Buch. Es fühlt sich so an wie sich früher die Tage angefühlt haben, an denen ich in Eppendorf einkaufen gehen musste, an den Strickpullovern aus den 70ern vorbei. Immer, wenn man instinktiv dachte, dass Eppendorf und die Strickpullover die besten Tage hinter sich hätten, fragte die Vernunft nach: ob sie denn je beste Tage gehabt hätten, und dann fiel einem immer nur ein Nein ein. Ohnehin ist nichts so sirupekelig wie Dichterselbstliebetagebücher.

Karl-Heinz Ott, Endlich Stille, Hoffmann und Campe 2005

Schöner Roman. Ein Spinoza-Spezialist steigt in Straßburg aus dem Zug, noch im Bahnhof wird er von einem ihm völlig Unbekannten angequatscht und danach bis zum Ende des Romans behelligt. Der Verfolger nistet sich bei ihm in Basel in der Wohnung ein, geht mit ihm jeden Abend bis zum Vollrausch trinken, macht das ohnehin mickrige Sozialleben noch kaputter. Eine Zudringlichkeits-, Belästigungs- und Grausamkeitsmaschine, von gut austarierten Perioden in Gang gehalten, beim Lesen fühlt man sich sehr, sehr hilflos.

Alina Reyes, Die siebte Nacht. Bloomsbury 2005.

Schmales Buch, ein literarischer Porno. Eine Frau (die Ich-Erzählerin) und ein Mann treffen einander sieben Nächte lang in einem Hotel. Es gelten strikte Regeln: in der ersten Nacht darf man einander nur sehen und zeigen, aber nicht berühren, in der zweiten die Spatzis nicht antatschen, in der dritten nur so und so weit gehen, usw. usf., in der siebten Nacht endlich Geschlechtsverkehr - eine andere Sorte Steigerung kann man sich in solchen Erzeugnissen schwer vorstellen. Das hätte ein schönes Buch werden können, wenn es nicht ein literarischer Porno geblieben wäre. Der literarische Porno zeichnet sich ja dadurch aus, dass er für das Anatomische immer die erhabenere Vokabel wählt ("Scham", "Geschlecht" undsoweiter), und der Porno zeichnet sich dadurch aus, dass ihm das Ficken für etwas so Tolles gilt, dass ihm davon das Hören, Sehen und Sprechen vergeht. Ich weiß auch nicht, warum pornografische Literatur es so selten hinbekommt, zu beschreiben, zu erzählen, zu schildern, die Einzelheit zu sehen; da fickt man unaufhörlich miteinander, aber am Ende weiß man nicht einmal, wie groß, wangenknochig, hüftknochig, muttermalig, blass, gesprenkelt, drahthaarig, fettlappig etc. pp. die Körper gewesen sind. Als wären die Wahrnehmungsapparate betäubt gewesen. Seltsam. Man sollte es glatt einmal selbst versuchen, am besten mit hässlichen, uninteressanten Menschen. Woran sollte literarische Pornographie sich besser erproben können, als uninteressante Menschen so fein gegeneinander zu justieren, dass dem Lesenden seine Wahrnehmungsapparate verglühen?