Uwe Tellkamp, Der Eisvogel, Rowohlt Berlin 2005

Die Berliner Republik vor der Jahrtausendwende. Der arbeitslose Philosoph Wiggo Ritter lernt den Patentanwalt Mauritz Kaltmeister und dessen Schwester Manuela kennen. Kaltmeister hat den rechten Geheimbund Wiedergeburt gegründet, eine Art Antipöbel-Wutverein, dem Industrielle, Geistliche, ein einflussreicher Politiker und andere Stützen der Gesellschaft angehören. Nun will Kaltmeister die Wiedergeburt um einen bewaffneten Arm ergänzen, eine Art Rechte Armee Fraktion mit dem Namen Cassiopeia (das gleichnamige Sternzeichen gleicht einem W), die Warenhäuser sollen brennen, wie damals bei der RAF. Dabei macht Ritter, zuvor einverstanden mit dem Wiedergeburt-Programm (geistige Rundumerneuerung, Massenkulturhass, Demokratieverachtung, Elitestaat) dann aber doch nicht mit und schießt Kaltmeister tot, während die Kulisse, eine stillgelegte Fabrik, in die Luft geht. Hinterher liegt er mit schweren Verbrennungen in der Intensivstation und erklärt sich, dem Leser und dem Herrn Verteidiger: wie hat es bloß dazu kommen können?

Diese Erklärung, wie ein Philosoph zum Beinaheterroristen wird, ist der Tellkamproman, der jetzt da und dort als ein Symptom besprochen wird - für einen neuen dringlicheren Geist, für einen neuen höheren Ton in der Dichtung. Kein Popliteratenroman mehr, sondern ein Berlinerrepublikroman, in dem keine CD-Listen und keine Klamottenmarken und kein Herumsaufen mehr vorkommen, sondern die drängenden Fragen der Epoche, jedenfalls für die Deutschen, behandelt werden. Ein Roman, in dem der Spaß und die Ironie vorbei sind und sich endlich einer einmal dem Untergang stellt, der um uns alle spielt, musst ja nur ins Fernsehen schauen, was für einen Dreck sie da spielen, musst nur das Radio anmachen, was für einen Dreck sie da spielen, musst nur in einen Buchladen gehen, was für einen Dreck sie da stapeln, musst nur in einen Schuhladen gehen, was für einen Dreck sie dir da andrehen wollen, musst nur in ein Arbeitsamt gehen, was für begabte junge Menschen, die Besten ihrer Generation, da herumwarten und kein Auskommen finden. Als so ein Buch also wird der Tellkamproman da oder dort besprochen, als ein Menetekel, das er der selbstvergessenen Gesellschaft geschrieben hat. Dabei reden doch die Merkel und der Merz, solange er noch im Amt war, und der Stoiber und der Industrie- und Handelstag den ganzen Tag auch nichts anderes, so dass man für einen Klamottenmarkenroman schon wieder zutiefst dankbar wäre.

Falls man den Tellkamproman aber tatsächlich liest - denn wozu sollte man sich noch ein paar Epochenschelten und noch ein paar Ruckreden und noch ein paar Zustandslamentos zumuten - findet man aus der Verwunderung nur schwer wieder heraus. Das soll es jetzt sein? Dieser Trash, der dem, was er verdammt und womit er sich quält, so sehr gleicht?

Von den prononciert ausgesuchten Adjektiven abgesehen, hat Tellkamp eine Plotte geschrieben, auf jeder Seite ahnt man im Tellkampkopf den inneren Fernsehproduzenten, der eine To-Do-Liste abarbeitet: Vorstadtvilla, verkommenes Altbauloch, Bösewichter in Nadelstreifen, kinky Sex, mad scientists, Frauen, die's im Bett nicht ernst meinen, Kindheitstraumata, Explosionen, große Abschlussreden zu gezogenen Pistolen - alles, was in einen deutschen Fernsehkrimi hineingestopft wird, ohne dass er sich dagegen wehren könnte, kommt bei Tellkamp auch vor.

Ein Leser wie ich zum Beispiel, der zufällig auch Philosophie studiert hat, fragt sich nach spätestens fünfzehn, zwanzig Seiten, was das denn für einer ist, der als Philosoph durch den Roman gescheucht wird, ein Depp, der ständig die Philosophie mit Distinktionsgespreize verwechselt und mit ihr nichts anderes anzufangen weiß, als sich bei jeder Gelegenheit selbst zu attestieren, dass er ein geistiger und ein musischer und ein sehr ernsthafter Mensch ist. Damit fängt es schon an in dem Tellkamproman: Einer, von dem behauptet wird, dass er ein Philosoph ist, ist noch lange keiner. Dazu sollte er nämlich denken und analysieren und argumentieren können. Doch einem vom Format des Herrn Ritter würden selbst an einer überlasteten Massenuniversität bereits die Proseminararbeiten wieder zurückgeschmissen werden, weil die Philosophie schon lange nicht mehr ein Werkzeug dafür ist, sich selbst vornehm zu finden. Es ist bei Tellkamp wie so oft in der Unterhaltungsindustrie: Der Geisteswissenschaftler ist ein Maniker mit flackernden Augen und wundem Herzen, der keinen Tau hat von seiner eigenen Disziplin. In der Unterhaltungsindustrie hat die Geisteswissenschaft immer nur einen Gefühls-Dekorations-Job zu erledigen und nie einer Disziplin zu gehorchen, in der Unterhaltungsindustrie sitzen, lamentieren, denken Geisteswissenschaftler immer nur herum und sagen Sätze, die man sich irgendwo hinsticken und in einen Herrgottswinkel hängen könnte, aber in einem geisteswisssenschaftlichen Text nichts verloren haben. So ein Depp also ist der Tellkampromanphilosoph: einer, der ein ganzes Buch lang, in dem er sich unablässig bescheinigt, einen supertiefen Gedankenreichtum zu haben, keinen einzigen Gedanken denkt, den man für einen Gedanken nehmen könnte; einer, aus dessen Kopf bloß ekelige Wehleidigkeit herauskommt oder ekeliger Abscheu vor dem blöden Massenmenschen oder ein ekeliges Sichbesserdünken gegenüber der Welt der materiellen Zwecke, der interessengepeitschten Geldwelt, in der das Geistige die Dignität nicht mehr abbekommt, die das Geistige für einen Unterhaltungsindustriellen vermutlich nur solange haben kann, solange man es gegen die Welt hinausdeklamiert, ohne dass die Welt widersprechen dürfte. Kein Gedanke, ein ganzes Buch lang. Keine Analyse, keine Kritik, keine Argumentation, kein Urteil, keine Ableitung, nichts, was Philosophen seit reichlich über 2000 Jahren machen. Bloß Ressentiment, Selbsterhebung, Selbstbehauptung, Geschwalle.

Aufs Ganze gehen, neuer Ton, you wish! Wie in jedem schundigen deutschen Formelvorabendfernsehfilm und wie in jedem schundigen amerikanischen formula book, die Tellkamp so inbrünstig verachtet, kann er sich für den Weg seines Geisteshelden zum Beinahe-Terroristen auch wieder nur Motive vorstellen, die von jenseits des Nachdenkens stammen, in Urszenen, in der Pubertät, im Biografiemüll verkapselt sind. Ohne Motive kommt der Tellkamproman so wenig aus wie eine Erik-Ode-Kommissar-Folge, in der ja auch immer der Trinkspiel-Augenblick dräut, in dem beim Verhör in der Waldvorortvilla die kalte herzlose Pubertät des Verdächtigen ausgepackt wird. Nix kommt von nix, aber vom Nachdenken kommt es nie. Der Tellkampphilosophenvati nämlich ist ein Investmentbanker, und früher war er ein 68er und hat auch seine Ideale gehabt, da wird dem Tellkampleser gleich mitgegeben, dass das eine Sowasvonsau sein muss, doppeltböse. Damals in der Wiggofrühgeschichte haben die Ritters in Nizza gelebt, wurzellose globale Investmentbankersippschaft, nirgendwo schollig werdend. In Nizza hat die Mutter Wiggo irgendwann zum Maßschneider geschickt, damit er immer einen schönen Maßanzug tragen kann, und Wiggo hat sich in die Schneidereiangestellte verliebt, aber gleich nachdem er das erste zarte Liebesgefühl in seinem Leben verspürt hat, hat er beim Spazierengehen am Nizzastrand seinen Vati mit der Schneidereiangestellten beim Ficken belauscht, und dabei hat die Schneidereiangestellte zum Vati gesagt, sie glaubt, dass der Sohn sich in sie verliebt hat. Bumm, ist ein Trauma fertig, man kann es nicht anders sagen, immer sind die Alten da und nehmen einem die Gelegenheiten weg. Und es bleibt einem gar nichts anderes übrig als ein empfindsames Traumahascherl zu werden, das in eine Privatschule hineingesteckt und vom Vati für eine gute Karriere verplant wird, auch wenn man das selbst gar nicht mag, sondern lieber ein Philosoph werden und über die Welt nachdenken will, bloß nicht auch so ein entwurzelter Geldmensch werden, der überall herumzieht und überall Geschäfte macht und überall mit den Frauen herumschläft und die Mutti schließlich herzlos austauscht gegen eine viel jüngere Flitschen.

Damit hat es aber im Tellkamproman noch nicht sein Bewenden, da kommt wie in der Unterhaltungsindustrie immer noch etwas nach, da kommt die Wucht aus dem Auftürmen, da müssen dem Romanleser noch ein paar weitere Traumata des begabten Kindes hineingeprügelt werden, damit er denkt: na bumm, ein armer Hund, der Romanheld, kein Wunder, dass er so leidet. Also lässt Vati Wiggo in seiner Bank antanzen, um ihm die Flausen auszureden, kannst anfangen bei mir, 100.000 Anfangsgehalt, Philosoph, so ein Schwachsinn. Und hetzt ihm gar seine eigene Spitzenassistentin an den Schwanz, gehns Fräulein, denkt sich der Tellkamproman vom Philosophenvater aus, gehns Fräulein, würden sie bitte meinen Sohn verführen, damit der wieder einen Gefallen am Leben findet und nicht ein Philosoph werden will, falls Sie das schaffen, Fräulein, bekommen Sie auch den Job in Singapur. Und sicher macht die das und verführt Wiggo und fickt mit ihm in einer Wohnung, von der aus der Blick über den Bundeskanzlerpalast schweifen kann, und der Wiggo ist auch gründlich verwirrt hinterher und kommt ein wenig ins Straucheln mit seinem Philosophiewollen, aber dann sagt die Vatiassistentin, dass das jetzt aus und vorbei ist, all over now, Englisch, Entwurzelungssprache, war ein Spaß, war schön, aber jetzt nicht mehr, und ob er denn glaubt, dass sie das denn freiwillig getan hätte. Noch ein Trauma also für den armen Wiggo, superdick kommt das in so einem Symptomroman, Trauma galore.

Wieso, frage ich mich dabei, wieso müssen in den aufs Ganze gehenden Romanen dieser Ganzgehburschen die Frauen immer so zwanghaft geschlechtlich sein und den Romanhelden immer so eine Geschlechtsangst machen? Bei Kunkel ist das ja auch so gewesen oder bei Hoeullebecq. Dass denen nie eine andere Frau einfällt als eine, die ihr Geschlechtsteil berechend, lüstern oder sonstwie hinterhältig einsetzt und den Männern einen Geschlechtsdolchstoß gibt! Sind es denn nicht die Ganzgehburschen, die vor der Dekadenz und der Verkommenheit der zeitgenössischen Welt verächtlich ausspucken? Warum bringt dann ihr Kunst- und Zeitdiagnostik- und Verurteilungsgewolle nie etwas anderes zustande als diese Trashmädels, die ihre Pussies zu Panikattacken schmieden? Dass die immer noch so schreiben, als würden sie dem Theweleit Belegstellen für die Männerfantasien liefern wollen! [Wäre vielleicht eh gut, gäbe es einen dritten Männerfantasieband, Gegenwart statt Weltkrieg I: das Flintenweib in der Epoche des globalisierten Kapitalismus, transnational.] Im Tellkamproman jedenfalls hat es viele böse Pussyfrauen: die Schneidereiangestellte, die es mit dem Vati tut, und die 30jährige, die den Vati heiratet, und die Vatiassistentin, die nach Singapur will, und die Terroristenschwester, die kinky Revolversex haben will, und die eigene Schwester, die es mit dem Vati hält und mit einem Fernsehcomedy-Idioten lebt, und als der Wiggo schließlich verbrannt in der Intensivstation liegt, wird er von einer feministisch anagitierten Krankenschwester mit Bettpfannen und Stuhlgangfragen traktiert - das kann sich der Tellkamproman nämlich auch nicht ersparen, dass er der lästigen Krankenschwester einen Feminismus ankreidet, so wie er dem lästigen Vati ein 68-er-Bekenntnis ankreidet, das muss auch sein, unforced historische Vertiefung, drangepapptes Ressentiment. Und die einzigen Frauen, die gut sind im Tellkamproman, sind erstens Mutti, zweitens die Spachtelmassenfabrikantin, die ein apricotfarbenes Kostüm zu apricotfarbenen Lippen und apricotfarbenen Schuhen trägt, jede Menge color coordination, und eine andere Krankenschwester, die Eichendorffgedichte auswendig hersagen kann. Oh ja, es gibt sie, die sanfteren Frauen, sie haben kein Geschlecht, sie tragen Apricot und kennen Eichendorff. Schon klar, ein jeder kann sich ausdenken, was er will in so einem wuchtigen Roman. Aber manchmal macht man sich schon seine Gedanken darüber, ob die Erhabenheit eine Funktion der Geschlechterpanik ist.

Fair bleiben jetzt, Praschl. Es sind ja nicht nur die Frauen, die einen Terroristen machen. Das hier ist mehrdimensional, großes Ganzes, Motiv-Multitasking. Nächstes Trauma auf der To-Do-Liste: Arbeitsplatzverlust. Erstaunlicherweise hat es nämlich der Tellkampphilosoph dem Vater zum Trotz doch zu etwas gebracht; grandiose Dissertation über Thomas Morus geschrieben, danach vom Doktorvater zum Assistenten erkoren, alles prima. Doch dann schmeißt der Professor ihn von einem Tag zum anderen einfach raus, wegen irgendwelcher unbotmäßig reaktionärer Gedanken, ah! die Diktatur der politischen Korrektheit. Das ist es dann gewesen mit der Philosophie als Beruf. Jetzt sitzt Wiggo auf dem Arbeitsamt und muss sich sagen lassen, dass es noch nie gelungen ist, einen arbeitslosen Philosophen in ein philosophisches Arbeitsverhältnis zu vermitteln, lassen Sie sich doch umschulen, anders wird das nichts mehr mit einem Auskommen. So ist das nämlich, Job weg, einfach so, und was ist das denn bitte schön für ein Staat, in dem Fernsehcomedy-Idioten und Investmentbankerassistentinnen eine Wohnung und ein Auto und alles andere auch haben, aber ein ehrlicher Philosoph, der niemandem etwas zuleide tut und über ernste Fragen nachdenkt, kein ehrliches Auskommen mehr findet, sondern sich als subalterner Labordiener verdingen muss?

Jetzt ist er reif. Jetzt ist er ansprechbar. Jetzt ist er verführbar. Jetzt stiehlt sich der Mauritz Kaltmeister mühelos in seine wunde Seele hinein. Dass das System, das einen so begabten musischen Menschen wie einen Wiggo Ritter einfach ausspuckt, nur ein Dreckssystem sein kann, dazu muss der Kaltmeister ihn gar nicht erst lange überreden. Und dass eine Wiedergeburt, in der der Geist noch etwas wert ist und die Kulturmenschen das Sagen haben statt des Pöbels, ist ebenfalls ein Gedanke, der ihm schnell einleuchtet. Wo die Wiedergeburtsmitglieder doch so schöne Apricotkostüme tragen und ein Bischof zu ihnen gehört und sie so einen guten Benimm haben und die klassische Musik und die Linnésche Taxonomie schätzen. Und vielleicht ist es sogar richtig, dass wieder einmal ein Krieg hermuss, damit die Gesellschaft endlich wieder einmal durchgeschüttelt wird und den Mehltau abschüttelt, das öde Demokratische, das doch nur zum Massengeblöke und zur Pöbelherrschaft führt. Jetzt ist der Wiggo also fällig, und das alles nur, weil Paps vor vielen Jahren mit der Frau, in die der Sohn sich verliebt hat, geschlafen hat, umgedrehter Ödipus, böser böser 68er-Triebdämon.

Bequemerweise sind die Wiedergeburtler ja gar keine Nazis. Ein Nazi, ich?, schüttelt sich der Wiedergeburtler, mit derselben Geste, mit der sich auch ein Michael Ballack gegen die Schiedsrichterpfeife verwehrt, obwohl jeder im Stadion das Foul gesehen hat. Der Wiedergeburtler hat doch nix gegen den Juden, nix gegen den Ausländer und nix übrig für die Welteroberung. Die Sorte Krieg, die Kaltmeister sich herbeisehnt, ist einer gegen das Lasche, nicht gegen den Osten - der Geist soll einen Lebensraum bekommen, nicht das deutsche Volk. Und wenn die Wiedergeburts-Elitetruppe, zuerst zögernd, dann erleichtert die Nationalhymne anstimmt, dann aber eh nicht die Nazistrophen, kannst ganz beruhigt sein. Später, in der zweitschäbigsten und zweitbilligsten Passage des Tellkampromans, wird Kaltmeister in einer U-Bahn ganz alleine, sich beherzt auf Samurai-Kampfeskunst verlassend [oh! all die deutschen Fernsehkrimis, in denen die Bösewichter in Judoanzügen das Verkloppen trainieren!], einen Kampfhund schlachten und ein paar Skinheads fast tothauen, weil sie ein ausländisch aussehendes Paar bedroht haben. Da weiß der Leser: Der Nazi-Verdacht geht ins Leere, hier ist etwas anders zuhause, das wollmer mal festgehalten wissen, nicht wahr?

Was muss ein Rekrut machen, um seine Loyalität zu beweisen? Richtig: eine Mutprobe. Kaltmeister verlangt von Ritter, den Professor zu erschrecken, der ihn hinausgeworfen hat. Und so steigt in der allerschäbigsten und allerbilligsten Passage des Tellkampromans Wiggo in einem Clownskostüm in die Wohnung des alten Phiosophen ein, um dessen Heimkehr zu erwarten. Es stellt sich heraus: der Professor ist ein Messie, eine Drecksau, seine Wohnung mit Staub überzogen, Müll im Flur, eine einzige Müllhölle. Und im Arbeitszimmer stehen Heideggerbände! Obwohl er sich doch immer über Heidegger lustig gemacht hat! Als der alte Herr dann nach Hause kommt, beobachtet Ritter aus seinem Versteck, wie er im Bademantel durch die versiffte Wohnung schlunzt, wie er duscht, wie er ein Micky-Maus-Heft liest. Und dann sieht er auch die eintätowierte Nummer auf dem Arm des alten Herrn. Und beschließt, ihn nicht zu erschrecken, sondern sich leise wieder aus der Wohnung zu stehlen.

[Ja, es geht tatsächlich so schäbig im Tellkamproman zu. Als ich mir auszumalen versucht habe, wie an genau dieser Stelle die Tellkampimagination beschaffen gewesen sein muss, ist mir gleich wieder so klamm geworden wie jedes Mal, wenn einer die Auschwitzkarte zieht, Auschwitzkarte, weil das ja immer nur ein Spielzug ist, ein Signal, mit dem herumgefuchtelt wird an bestimmten Stellen, an denen Leute sich einbilden, dass jetzt ein Spielzug oder ein Signal fällig wird, und ich stellte mir dann Tellkamp vor, wie er über seinem Text gesessen und einen alten Mann in eine Badewanne hineingeschrieben hat, und er hat sich vorgenommen, ein junger Mann soll ihn gleich fürchterlich erschrecken, und wie kriegt er es jetzt hin, dass der junge Mann von seinem Vorhaben ablässt, und dann fällt Tellkamp genau ein Spielzug ein: er tätotowiert den alten Mann, den er sich ausgedacht hat, mit einer Auschwitznummer. Und genau an diesem Punkt, Auschwitz ex machina, fällt es einem so schwer, was einem doch sonst immer gelingt: der literarischen Imagination alles für – eben nur literarisch durchgehen zu lassen. „- na und, verdammt noch mal? Kann einer der im KZ gesteckt hat, nicht trotzdem ein Arschloch sein?“, lässt Tellkamp hinterher Kaltmeister dem Ritter sagen, nachdem der ihm von der Auschwitz-Nummer erzählt hat. Und einen Augenblick lang, nachdem ich das gelesen habe, habe ich mich gefragt, ob das vielleicht der Satz gewesen ist, den Tellkamp als allerersten hatte, der eine Satz, den er loswerden, in einem Buch haben wollte, but then again, solche Fragen stellt man nicht… (– Na und, verdammt noch mal? Kann einer, der bloß einen Roman geschrieben hat, nicht trotzdem ein Arschloch sein?) ]

Danach: Kaltmeister ist gründlich enttäuscht, Wiggo nimmt an einer Art Wehrsportübung teil und verliebt sich in Kaltmeisters Schwester, die sich ihrerseits verliebt, Kaltmeister wird immer manischer, Showdown mit großer Kaltmeisterterroristenverzweiflungsabschlussrede, Pistolengefuchtel, schließlich Wiggo, der Kaltmeister erschießt, aus fertig. In einem Sat1-Filmfilm wäre das Gebäude umstellt und ein Polizeihubschrauber würde über ihm kreisen, aber geht das zur Not auch so.


Sicher kann sich einer ausdenken, was er will. Ist doch eh nur ein Roman. Was mach ich aber mit den Ehnurromanen von einem Ehnurdichter, der sich in seinen Marketing-Maßnahme-Interviews ein Branding verpasst, in dem die Dichtung eine Dignität hat, vor der du lieber in Deckung gehst, so ernst meint die Dichtung das?


Das bin doch nicht ich, das ist doch nur meine Figur, komm mir doch nicht so unliterarisch daher.

Andererseits: ein bisserl Empathie geht alleweil.


Das rein Somatische an all den Figuren. Alles, was die gegen die Zeit, die Epoche, den Staat, das System haben - ist so etwas wie ein Jucken, eine Allergie. Die rechte Revolution wäre dann so etwas, wie sich zu kratzen. Oder endlich einen Pullover anziehen zu dürfen, der nicht juckt.


Worüber ich auch nachgedacht haben könnte, wenn ich nicht zu müde gewesen wäre: Warum Tellkamp in seiner Geschichte keiner einfällt, der die Fragen stellt, die jeder sich stellen würde, würde er mit so einem Kriegs- und Revolutionsprogramm anagitiert – wie so ein Elitedingsbums sich denn praktisch, alltagsmäßig ausgestalten ließe. Ich jedenfalls würde da ja nachfragen: Bittschön, Herr Kaltmeister, und wenn die Wiedergeburt dann gesiegt haben wird, wie stellen Sie sich das dann vor mit der Eliteherrschaft? Machen Sie da vorher Elite-Assessment-Center, ob einer auch hart und musisch genug ist für die hohe Aufgabe, würde ein Minister hinausgeschmissen, wenn er den Genetiv nicht beherrscht, würde man in ein Umerziehungslager kommen, falls man mit einer Britney-Spears-Platte oder einem Stuckradbarre-Buch erwischt würde? Und was würden Sie denn mit den arbeitslos gewordenen Investmentbankern oder den Fernsehcomedyidioten anfangen? Würden die dann Eichendorff-Gedichte vortragen müssen?


Fair bleiben, Praschl: Das ist eine grauenhafte Kolportage, heißt es da oder dort in den Kritiken ja auch. Und dann kommt hintendrein gerne der Satz: „Aber sprachlich kann er was“. Nun ja. Man könnte ihn ja zitieren:

- Philosophie. Aha. Der alte Kaltmeister blies geruhsam den Rauch seiner Zigarre aus, neigte den Kopf nach hinten, ließ Rauchringe steigen, die im Halbdämmer des Zimmers wie in einem mäßig beleuchteten Aquarium aufschwammen, durch die herabgelassenen Jalousien einfallendes Licht durchtauchten, unter der hohen Decke, an der ein ausgreifender Leuchter in Gestalt eines Oktopus hing, zerflatterten. Dann sind Sie also auch ein geheimer Baumeister. Die Kunst des Staatsbaus scheint mir eine der schwierigsten Künste zu sein, die das Menschenwesen kennt. Ordnung und Unordnung, diese zwei Gefahren bedrohen unaufhörlich die Welt, sagt Valéry. Womöglich ist die Unordnung gefährlicher? Jedenfalls scheint mir heute einiges dafür zu sprechen... Möchten Sie noch einen Tee, Herr Ritter?


Die Welt, 13. August 2004:

Die Welt: In Klagenfurt wurden Sie aus durchaus nahe liegenden Gründen vor lauter Begeisterung gleich zur Reinkarnation von Claude Simon geschlagen.

Uwe Tellkamp: Naja. Simon kenne ich zwar und mag ich auch, wie Lobo Antunes und Faulkner und Günter Grass. Aber wenn ich mich auf zwei Vorbilder festlegen sollte, wären das Thomas Mann vor allem und Marcel Proust. Weil beide Epiker sind und mich das Epische immer interessiert hat. Das Weltumgreifende, der Roman als Kapsel, als Botanisiertrommel der vergangenen Zeit.


Fühllosigkeitsliteratur.


Die Wahrnehmungsimpotenz von so einem.






blaufaschismus nannten wir das frueher,

sone art umgekehrte rote khmer sache, die dummen muessen ausgerottet werden oder so..


Bizarr. Aber dass man gleich einen Roman schreiben muss, wo doch ein grumpfender Essay auch gereicht hätte...


das musste schon ein roman sein; in romanen kann man motive pflanzen statt begründungen zu geben, maskeraden an- und ablegen, mit sound operieren usw., romanvorbehalt sozusagen.


Das mit dem Himmels-W wußte ich von den Planetariumsbesuchen her. Aber wieso heißt das Buch nun Der Eisvogel?


der eisvogel ist das wappentier der wiedergeburtler. warum, kann man hier unter dem Eintrag Halkyone nachlesen.


Ach deswegen Alcedo atthis. danke.


so auf die schnelle

fallen mir nicht viele (junge) deutsche ein, die sich mit der gattung roman an die post 68er themata rangetraut haben. aber vermutlich haben Sie recht: auf den einen grossen (literarischen) wurf der in-betweenies müssen wir noch warten. danke für die warnung


den wunsch, dass es über irgendeine epoche (die 68er, den luftkrieg, die wiedervereinigung, you name it) große romane gibt, habe ich nie verstanden. den autor, der sich sagt, ich setz mich jetzt hin und schreibe einen roman über 68, kann ich mir nur als schlechten autor vorstellen. und all die romane, die ich verehre, würden sich nur unter anwendung barbarischer gewalt unter so einem epochen-branding einsortieren lassen: der mann ohne eigenschaften als großer roman über den untergang der österreichischen monarchie? der kinogeher als großer roman über die einsamkeit im entfremdeten spätkapitalismus? der große gatsby? gravity's rainbow? underworld? usw usf etc pp. ich denk ja eher, dass es die romanform verfehlt, wenn man sich so etwas vornähme. und dass das historische in romanen anders funktioniert. ganz abgesehen natürlich davon, dass ein roman auch keinen höheren grad an erkenntnis, verstehen usw. verbürgt als andere formen der äußerung.


'tschuldigung

fürs ungenaue. ich meinte überhaupt nicht den roman als geplant, sondern als zeitbegleitend, -repräsentierend. und da hat es zeiten gegeben (insbes. die von Ihnen angeführten), in und zu denen via roman stellung bezogen und stellungen wieder verworfen wurden. und für die post 68er fällt mir nicht viel abarbeitung via roman ein


Romane sind für die Identitäts- und Stilbildung einfach nicht mehr so wichtig.


weiß nicht. es kommt ja darauf an, wie 68 definiert wird. beim gegenwärtigen 68er-bashing da & dort habe ich oft das gefühl, dass da eine sehr merkwürdige engführung passiert. auf diese organisationsfrage, die institutionalisierungsversuche und das institutionalisierungsscheitern, politische formen halt. ist mir immer reichlich verworren gekommen, was 68 überhaupt ist, mit all den strängen, die es da gegeben hat und all den machtfragen, die da gestellt worden sind.


Danke.

Vor einem Jahr oder so habe ich mal Gedichte von Tellkamp zu Gesicht bekommen, die hatten so einzwei schöne Stellen, wie ich damals fand, weshalb ich auf den Roman doch sehr gespannt war.

Was mir an der Kritik, so einleuchtend sie erstmal klingt, noch nicht ganz klar ist: ist jetzt für mich erstmal okay, wenn es so wäre, dass der Geheimbund so eingeführt und gezeigt wird, dass er sich selbst über den gemeinen Faschismus erhaben fühlt, wenn denn später das eigene Faschistische als das Faschistische desavouiert oder sonstwie herausgekehrt wird (oder bleibt da der Leser auf gleicher Höhe wie der Held?).

Und: auch Trash-Muster können ja erkenntnis- und unterhaltungsgewinnend, sofern mit ihnen gearbeitet wird, aber wie du ja richtig sagst, aus den Selbstaussagen heraus und den paar Minitexten, die ich kenne, ist das wohl bei Tellkamp genau so und ernst gemeint. Ich finde ja immer noch, dass das z. B. Georg Klein ab und an ganz gut gelingt (den man zu der Gehaufsganzechose wohl rechnen muss, auch und gerade wg. "Geschlechterkrieg", der aber mich gut zu unterhalten weiß).


immer wenn man gerade anfängt den herrn praschl zu vermissen (und ich weiß wie er es hasst, wenn die leute da an seiner schaufensterscheibe stehen, mit plattgedrückter nase), kommt er wieder und besorgt es einem mit einer wunderbaren langstrecke. danke.


Einer aus Dresden, der Yukio Mishima sein will? Musste sofort an zwei Krimis von gestern abend denken. Schimanski jagt irgend einen Andreas-Baader-Verschnitt und wilde Asiaten durch das Ruhrgebiet. Und diese beiden Cobra-Clowns; was mit Waffenhandel und Polizeikorruption oder so ähnlich. Jeweils fünf Minuten reichten da völlig.


An Mishima musste ich dabei jetzt nicht denken. Der ging bis zur allerletzten Konsequenz.


Adelt sein beschrubbtes Politgehampel natürlich genauso wenig wie die Tatsache, dass er wirklich schreiben konnte. Hush, hush, schweigen wir stille, sonst überlegen sich die Aufsganzegeher noch letzte Konsequenzen (fällt dann wahrscheinlich so aus wie bei Walser und Hochhuth).


Stimmt. Ich meinte eher: Mishimas Geschwurbel war von noch ganz anderer Qualität in Hinsicht aufs Ganzaufsganzegängertum.


ich bewundere dich dafür, dass du dich mit so einem buch derartig intensiv und analytisch auseinandersetzt. habe von tellkamp nur diesen bachmannpreis-winner-text gehört und der hat mir gereicht. fand schon, dass der mann gut schreiben kann, aber das sujet (dresdens geschichte aus dem blickwinkel eines trambahnfahrers) fand ich so was von konstruiert und belanglos (arrogant ich weiß). tellkamp kam mir vor wie jemand, der absolut nichts zu sagen hat, aber das in recht anspruchsvoller und gestelzter art. l'art pour l'art.