Fritz J. Raddatz, Unruhestifter. Erinnerungen, List 2005 (zuerst 2003)

Herrje. Das ist eines der Bücher, von denen man nicht weiß, ob man sie für peinlich oder grandios befinden soll, für beides hätte man gute Gründe. Einer, der im deutschen Kulturleben von beträchtlichem Einfluss gewesen ist - als Verlagsleiter bei Rowohlt, Feuilletonchef und Autor bei der Zeit, schließlich als Publizist - erzählt sein Leben und legt das ganz merkwürdig an: als Verteidigungserinnerung, als würde er der Nach-und Nebenwelt präventiv die Korrekturfahnen lesen. Da und dort hätte man ihn missverstanden, da und dort hätte man ihm Unrecht getan, da und dort hätte man seine Mimikry an den Betrieb mit seinem Charakter verwechselt, da und dort hätte man der Gerechtigkeit nicht ganz Genüge, ihm gar Unrecht getan. Das ist selbstverständlich albern, wenn es von einem 70jährigen kommt, über den der Betrieb, an den er sich erinnert und an dem er sich abarbeitet, längst befunden hat, er sei bedeutsam gewesen - und es dabei auch bewenden lässt, weil man sich mit Leuten, die im Betrieb keine aktuelle Rolle mehr spielen, eben nicht weiter aufhalten will. Das ist es aber, was Raddatz zu kränken scheint. Er insistiert darauf, lange nach den Schlachten, die den Beteiligten wie den Zuschauern völlig egal geworden sind, noch einmal zu sagen, was seine exakte Rolle darin gewesen und weswegen er dieses und jenes getan oder unterlassen hat, als läge da einer nach seiner Pensionierung schlaflos im Bett und hielte seinen ehemaligen Vorgesetzten und Konkurrenten immer noch Klarstellungsreden. Ja sicher, er hat seinerzeit möglicherweise zu selbstherrlich die Geschäfte Rowohlts geleitet, so dass Ledig sich übergangen fühlen konnte - aber doch nur, um die Integrität des Verlags, des Ledigschen Programms zu bewahren; ja gewiss war die Erwähnung der Bahnhofsuhr im Goethe-Artikel ein veritabler Bock, aber es gab erstens zwei Gegenleser, zweitens, unter uns Komplizen, widerfährt das doch im Journalismus ständig, drittens, wie die Gräfin das gehandhabt hat: selbstgerecht bis zum Gehtnichtmehr, ganz miese Vorstellung. Es ist ein Angestelltenroman, den er schreibt, der Roman des Angestellten im Kulturbetrieb. Man schindet sich für die Fabrik, tagaus tagein, man ist betriebsam, man vernachlässigt das Privatleben, man macht sich zum Affen und alles mit, die Parties, die Flüge, das ganze Geldgezerre, man muss sich mit Leuten einlassen, für die man viel zu gescheit ist, man wird mit Ikea-Möbeln, Erbsenzählern und schlechte Sekretärinnen gedemütigt, und der Dank dafür sind bloß nur Rancunen, Missverständnisse, Spielfeldverweise. Das ist vielleicht das Merkwürdigste an den Memoiren eines Mannes, der ja immerhin Feltrinelli, Genet, Fichte, Updike, Hans Meyer, Johnson und weiß Gott wen nicht allen gut gekannt hat: in seiner Rückschau reduziert sich sein eigenes Leben auf den mickrigen Demütigungs-, Positionierungs-, Anpassungs-, Resistenz- und Terrain-Kram, den jeder andere mittlere und höhere Kader in jeder anderen Firma ebenso gut rekapitulieren könnte. Er hätte ja auch, nur so zum Beispiel, darüber nachdenken können, ob ihm sein Leben als gelungenes erscheint, er hätte ja auch, nur so zum Beispiel, seiner geistigen Entwicklung hinterher erzählen können, über Positionen, Haltungen, Debatten, Erkenntnisse; aber noch nicht einmal über seine eigenen Romane, immerhin eine erstaunliche Wendung, vermerkt er mehr, als dass sie in Frankreich euphorisch besprochen wurden, in Deutschland dagegen eher missachtet. Es ist traurig: Er scheint sich selbst kein Werk attestieren zu können, bloß eine Laufbahn. Andererseits ist es diese Reduktion aufs Führungszeugnishafte, die Raddatz Memoiren auf eine bestimmte Weise so grandios hellsichtig macht: denn natürlich ist der Kulturbetrieb genauso, wie Raddatz ihn protokolliert, ein Markt, auf dem es zu wenig Platz für zu viele Ichs gibt, die gegeneinander behaupten und einander belauern zu müssen sich einbilden, auf dem jeder Charakter, jede Persönlichkeit unmittelbar ein Mittel im Konkurrenzkampf ist und jede Zurücksetzung möglicherweise eine Zurückstufung, einen Geländeverlust signalisiert. Deswegen dieses ständige Sich-mit-den-anderen-Messen, von dem Raddatz auch in der Erinnerung nicht ablassen kann, die Geburtstagsparty von Grass, zu der kaum noch ein Jüngerer erscheint, dagegen sein Geburtstagsempfang im überfüllten Literaturhaus, usw. usf. etc. pp. Man möchte so eine Empfindsamkeit selbst nicht haben, aber sie ist seismographisch, ein fein gestimmtes Messinstrument für die Notationen an der Kulturbörse; Raddatz selbst bekommt das gar nicht mit, er beharrt bloß darauf, respektiert, gemocht, geliebt zu werden, wie Knörer das schon anderswo notiert hat, aber nebenbei erledigt er es, das durch und durch Warenförmige des Betriebs, dessen innerlich reservierter Mitspieler er gewesen sein will, genau zu protokollieren. Wenn man weiß, wie viel Verlogenheitspathos sonst dem Kulturleben hinterhergekleistert wird, kann man dafür recht dankbar sein.

(Außerdem. Ein paar grandiose Anekdoten, etwa die von Ledig, der sich für einen nächtlichen Reeperbahn-Bummel mit Genet eigens einen Lederanzug schneidern lässt, was jener trocken mit "Sie sehen aus wie ein Koffer" quittiert.)

(Außerdem. Diese eine Passage über Augstein, bei der man sich auch noch eine Woche nach der Lektüre immer wieder fragt, warum er sich selbst und auch sonst ihm niemand - die zwei, drei Korrekturleser, die es wohl gegeben haben wird - in den Arm gefallen ist:

Verwunderlich dann doch der offenbar tiefsitzende Minderwertigkeitskomplex dieses mächtigen Pressetycoons. Er vergaß buchstäblich in keinem seiner Artikel eine Art Kellnerperspektive à la "Den habe ich doch jahrelang bedient" einzubauen. Ob eine Rezension der Genscher-Memoiren, er war natürlich ein "Freund", oder eine Replik auf Hans-Ulrich Klose - "Seine Tochter war mein Patenkind"-, was ja im Kontext der Diätendebatte wenig zu besagen hat; ob in einer Polemik gegen Robert Leicht, in der er "DIE ZEIT, deren Mitbesitzer ich mal war" einflocht, oder in einem Nachruf auf Horst Janssen, von dem er viele Kärtchen bekommen habe (als gebe es irgend jemanden in Hamburg, der sich hätte retten können vor diesen scheußlichen Schmierkärtchen): Augstein war, was Tucholsky den "Dabey-gewesen-Bey" nannte. Auch mit Bucerius - der sich vor ihm schüttelte: "Der Mann, der gegen mich prozessiert hat" - war er per Nachruf natürlich befreundet. Ein Splitter vom Holz des Literatenbaums, eine Eintragung im Tagebuch, hält mein Erschrecken fest:
17. Januar 1993 Mit sonderbarer Entfernung hat mich der Tod von Rudolf Nurejew berührt. Es muss dreißig Jahre her sein, dass ich ihn im Amsterdam in einer Schwulenbar kennen lernte, ein interessant-knäbischer Mann, der mich ansprach. [...] Es war dann - falls es "elegant" im Bett gibt - eine elegante Nacht in seinem Hotel [...] (und ich hatte mich an seinem wahrlich makellosen Körper delektiert wie an einer köstlichen Speise - es war, ohne Zärtlichkeit, Sex pur, aber voller Grazie....)[...] Peinlicher ein anderer Rudolf. Augstein ist ertappt, als junger Mann im Völkischen Beobachter geschrieben zu haben; [...]
Im Zusammenhang einer Stelle, in der es um die Ich-Sucht Augsteins geht, länglich mitzuteilen, dass Nurejew (hat immerhin auch Rudolf geheißen....) mit einem gefickt hat: das hat was.)