auf arte gerade s 21 über tuol sleng, das schlimmste gefängnis der khmer rouge. lange peinigende interviews mit den folterern und wärtern von damals, dazwischen immer wieder gespräche mit vann nath, der das gefängnis überlebt hat, weil er ein begabter maler war und deswegen die killer malen durfte, mit schöner makelloser haut [die lesenswerten memoiren vann naths sind übrigens unter dem titel a cambodian prison portrait. one year in the khmer rouge's S-21 in der bangkoker white lotus press erschienen.]

sofort wieder die erinnerung an den kambodscha-aufenthalt im mai 2004. wie fast jeder, mit dem wir ins gespräch kamen & bei dem wir uns zu fragen trauten, seine trauma-geschichte erzählte, den kopf abgewandt, zum boden sprechend, es klang narkotisiert, aber wir hatten natürlich keine ahnung über die tonfälle von khmer. diese frau, die ich für meine reportage interviewte, und plötzlich in ihre eigene kindheitsgeschichte kippte, davon erzählte, wie man sie mit sechs bis zum hals eingegraben und ohne wasser in der hitze sich selbst überlassen hatte, weil sie angeblich aus hunger irgendeine wurzel gestohlen hatte. der letzte abend in einem biergarten von siem reap, als unsere betreuer, nachdem sie fünf tage lag anderer leute trauma-geschichten übersetzt hatten, dann ihre eigenen kindheitsgeschichten erzählten. die kollektiven abendessen in den kollektiven dorfspeisehallen (statt in den familien, wie es vor und nach pol pot der brauch gewesen ist), du siehst, wie am anderen ende der halle einer von den angkar-leuten auf deinen vater zugeht, ihn anherrscht, aufzustehen, mit ihm hinausgeht, du schaust ihm aus den augenwinkeln nach, obwohl du weißt, dass du es nicht tun solltest, es wird das letzte sein, was du von deinem vater gesehen haben wirst, du weißt, draußen am dorfrand werden sie ihn gleich erschlagen, mit irgendeiner spitzhacke oder einem spaten, weil eine kugel zu kostbar wäre, um an einen feind angkars vergeudet zu werden.

where are they?, fragten wir.

oh, amongst us, sagten sie. still here.





Am Nachmittag ein zweiter Besuch im Dorf, diesmal bei einer ärmeren Familie, es ist ja nicht so, dass Elend sich nicht immer noch weiter abstufen ließe.

Das Haus war noch schiefer als die anderen im Dorf, ein Verschlag aus grob zusammengehauenen Brettern, von Termiten angefressen, im Boden Löcher, durch die man ein Schwein beobachten konnte, unwillkürlich hatte ich Angst, das alles könnte jederzeit unter mir zusammenbrechen, wie ich ohnehin in einen Modus des Dauervorsichtigseins geraten war: bloß nichts den Menschen hier kaputtmachen, bloß nicht husten, bloß nicht die Menschen hier anstecken mit der Erkältung, die ich mir im Flugzeug geholt hatte, die hier konnten es sich nicht leisten, dass etwas kaputt ging oder dass man sie mit irgendetwas ansteckte.

Zwei Tage später hielt uns eine alte Frau, kahlgeschoren wie fast alle alten Frauen im Dorf, ein Kind entgegen, bat uns, es nach Siem Reap zu bringen in das Krankenhaus des Cello spielenden Kinderarztes aus der Schweiz, das Kind glühte vor Fieber, die Augen pupillenlos, der Körper eine gummiartige Masse.

Gleich fragte ich mich, ob die alte Frau wohl lange damit zugewartet hatte, uns anzusprechen, ob wir wirklich alles richtig gemacht oder nicht doch den Eindruck erweckt hatten, man dürfe uns nicht bedenkenlos um einen Gefallen bitten.

Diese Ratlosigkeit, mit der ich drei Tage lang herumgestapft bin. Das drittärmste Dorf Kambodschas, eine karitative Organisation, die den Kindern hier ein paar Zukunftschancen eröffnen wollte, die sie aus eigener Kraft vermutlich nie hätten, und ich, der Journalist, der darüber berichten sollte, damit ein paar Leser spendeten, die nicht allzulange darüber nachdenken würden, wie verrückt eine Welt ist, in der die einen es zulassen, dass die anderen sich in einer Lage befinden, in der winzige Almosen immense Effekte haben können. Und wie lächerlich es war, dass ich mir darüber Gedanken machte, über diesen Unterschied, der darin liegt, dass ich an Konstellationen leiden kann, während sie an Unterernährung litten! Und wie lächerlich es war, sich über diese Lächerlichkeit Gedanken zu machen! Abends im Princess Angkor Hotel ließ sie sich prächtig wieder beheben. Nach ein paar Flaschen Angkor Beer unterhielt man sich wieder über mögliche Urlaubsorte, einfache Hotels an vietnamesische Sandstränden, die noch nicht von Touristen überlaufen waren, fragten wir uns, ob es möglich wäre, sich ein Tuk-Tuk samt Fahrer zu mieten, sich durch Südostasien karren zu lassen und darüber eine Reportage zu machen. Und selbstverständlich fiel uns nichts leichter, als die frisch angekommene Reisegruppe zu verachten, Öko-Kämpfer, die in der Lobby saßen und sich noch einmal hochputschten für ihre Mission, etwas gegen den Raubbau in Kambodscha zu unternehmen, denn es war so, dass die Abholzung des Dschungels durch die Armen die Artenvielfalt gefährdete. Ihr verdammten Arschlöcher, dachte ich sofort über sie, die meinesgleichen waren, Komplizen, aber hey!, empfand ich nicht die peinigendere Scham und den größeren Durchblick, sogar auf den Metaebenen, und fiel mir nicht immerhin auf, wie sehr das alles hier Idiotie war und Idiotie blieb, aus welcher Richtung auch immer man sie sich ansah, die schlimmste Idiotie von allen natürlich wieder der Gedanke, dass, letzten Endes, sowieso nur der Kommunismus daran etwas wirklich ändern konnte, alle Verhältnisse umstürzen, in denen der Mensch dem Menschen undsoweiter, und übrigens war hier das Allerschlimmste nicht, dass Menschen ausgebeutet wurden, sondern dass sie nicht einmal ausgebeutet, sondern einfach nur völlig ignoriert wurden, der Kommunismus also, auf den, wie immer, die Gedanken hinausliefen (oder war es denn denkbar, dass irgendeine Sorte von Kapitalismus irgendein Interesse daran haben konnte, das zu tun, was hier getan werden musste), aber dann fiel einem natürlich sofort wieder ein, dass wir uns in einem Land befanden, in dem die Kommunistische Partei es innerhalb von fünf Jahren geschafft hatte, auf die eine oder andere Weise zwei Millionen Leute umzubringen oder verrecken zu lassen.

Was das kranke Kind betrifft, das verstand sich von selbst, fünf Minuten später war es im Jeep, ins Kinderkrankenhaus unterwegs, kann sein, dass unsere Anwesenheit ihm das Leben gerettet hat, kann sein, dass es im Krankenhaus starb, ich habe vergessen, mich später nach seinem Zustand zu erkundigen.

Die Familie, die wir besuchten: Eine Frau, ihr Vater, sechs Kinder. Der Mann war in der Armee, kam alle paar Monate auf Besuch, ließ manchmal ein wenig Geld da, meistens aber nicht, hatte längst eine Neue an seinem Garnisonsort. Die Frau war 38, sie sah jünger aus, trotz der sechs Kinder, vielleicht lag das aber auch nur an ihrer Magerkeit, an einem anderen Ort, in anderen Klamotten hätte man sie leicht für eine gut erhaltene Enddreißigerin gehalten, sehnig, gute Wangenknochen, gutes Gesicht, macht noch was für ihren Körper, lässt sich nicht gehen.

Wenn sie 38 ist, dachte ich, muss sie ihre eigene Kindheit unter den Khmer Rouge verbracht haben. Wie ist es Ihnen damals ergangen, ließ ich sie durch Leak fragen.

Als ich zehn war, erzählte die Frau, es muss also 1975 gewesen sein, im Jahr Null, haben sie mich einmal bis zum Hals eingegraben. Nur der Kopf stand noch heraus, und die Sonne brannte. Wieso? Sie sagten, sie wüssten, dass ich Tapiokawurzeln gestohlen hätte. Und? Ich habe sie nicht gestohlen. Nein, ich wollte wissen, wie Sie da wieder rausgekommen sind. Ein anderer von ihnen hat gesagt, ich hätte das Tapioka nicht gestohlen. Dann haben sie mich wieder ausgegraben. Was ist mit Ihrer Mutter geschehen? Meine Mutter ist verhungert. Aber das war später. Sie sagt, übersetzte Leak, dass ihre Mutter irgendwann aufgehört hat zu essen. Es ging darum, dass die Kinder ihre Rationen bekamen. Also, sagte Leak, ist sie absichtlich verhungert.

Wir werden mit den Frauen auch über Geburtenkontrolle reden, sagte später jemand. Aber die Kinder, sagte ich, sind ihre Zukunftssicherung. Du hast die Frau doch gesehen, wie mangelernährt die war. Und dass mangelernährte Frauen mangelernährte Kinder zur Welt bringen, kann man sich ja leicht ausrechnen. Wenn sie statt sechs vier Kinder hätten, würde es den Müttern und den Kindern besser gehen.

Aus welcher Richtung man die Idiotie auch ansah, sie blieb immer gleich idiotisch, am alleridiotischsten aber waren die Gedanken, die man sich über sie machte.





Das Dorf, individuelle Vorlieben, Familiengeschmäcker, Klassenunterschiede und sonstige Abwechslungen existieren erst jenseits des Elends, das Dorf also lebt vor allem vom Reis.

Die Familien haben kleine Felder, wir haben sie bei der Anfahrt gesehen, besser: erahnt; was man im April, am Ende der Trockenzeit sehen kann, ist nur armselig verdorrtes Staubareal. Das Land ist nicht gut, die Gräben, in denen in der Regenperiode das Wasser steht, sind nicht tief, nicht abgedeckt, das Wasser verdunstet schnell, zu einem Bewässerungssystem haben sie es hier nicht geschafft, sie wissen selbst, sagt einer, dass sie zu altmodisch produzieren, auch nach den Maßstäben kambodschanischer Landwirtschaft, sie müssten Zisternen anlegen, Kanäle ziehen, aber dazu haben sie weder die Mittel noch die Energie noch die Zeit, sie sind unentwegt nur mit dem Gerade-so-Überleben beschäftigt.

Es gibt nur eine Reisernte im Jahr; wenn das Klima einigermaßen mitmacht, reicht der Ertrag für zehn, wenn es Dürren gibt, für acht Monate. In den letzten beiden Jahren gab es Dürren. Also haben sie Hunger. Sie bräuchten mehr Land, noch besser eine zweite Ernte, nur eine zweite Ernte versetzte sie in die Lage, zu Kräften kommen, Vorräte anlegen, investieren zu können, es versteht sich von selbst, das solche Begriffe am Nullpunkt der Ökonomie etwas völlig anderes bedeuten als in den hiesigen Kalkülen. Die Dorfbewohner, man muss sich gar keine Mühe geben, das zu bemerken, sind mangelernährt, zumindest jetzt, im April. Der Reis geht zu Ende, die Kinder und Frauen sammeln in den Wäldern Tapioka oder fangen Insekten und Frösche. Das Fett stammt aus Kokosnüssen, Palmöl, Bananenöl, es ist immer zu wenig, es reicht nie. Obst, Gemüse: in den drei Tagen, in denen ich im Dorf war, habe ich nichts gesehen. Eine Frau hatte hinter dem Haus einen armseligen Kräutergarten, ein paar Büschel Koriander, mit ein wenig Reet abgedeckt gegen die Sonne. Manchmal sah ich ein paar Stücke Salzfisch in den Reisschüsseln, immerhin, das ersetzt die in der Hitze verlorenen Elektrolyte. In der Regenzeit, wurde erzählt, kann man manchmal Fische fangen, die sich aus dem Fluss hierher verirren, wenn alles unter Wasser steht. Ein Mittagessen, das ich sah, bestand aus Reis, in den ein wenig Chili geschnitten, ein wenig Salz gestreut waren: das war alles. Wie oft Kühe, Schweine, Hühner geschlachtet werden, wie viele Eier die Hühner legen und ob sie gegessen werden: ich habe vergessen, danach zu fragen. In François Ponchauds Bericht über die Machtübernahme Pol Pots bin ich auf folgende merkwürdige Passage über die Besetzung der sowjetischen Botschaft durch die Khmer Rouge gestoßen:

The Soviets had put up big posters in French on the doors of their nearby embassy, reading: "We are Communists, we are your brothers. Come forward with a French-speaking interpreter." The young Khmer Rouge hat looked at the posters, presumably without understanding a word, and then forced open the doors using Soviet B-40s! Once inside they searched out the diplomats and led them to the embassy refrigerator, from which they removed some eggs and broke them under the Russians´ noses. The Soviets had no idea what this gesture meant; implicitly, it accused them of revisionism - a true Communist, a Khmer, does not eat eggs; he puts a hen on them to hatch them so he can eat the chickens later, at a meal shared with his fellows."
Schwachsinn, solche Sätze für einen Beleg zu nehmen, was kann man als völlig Fremder nach drei Tagen schon wissen über die Ausgestaltung der Armut? Bezeichnend aber, dass man nachdenkt über solche Passagen, nachdenkt über das Essen anderer Leute, haben sie Eier, essen sie Eier, geben die Kühe Milch, was machen sie, wenn ihre letzten beiden Säcke Reis verbraucht sind, wie satt kann man von Insekten werden? Ständig dachte man über den Hunger der Leute nach, die man beobachtete und mit denen man sprach, nahm sie fast nur noch als Hungerleider wahr.

Auch das, natürlich, machte sie nicht satt.

Es war nicht so, dass sie verhungerten, aber man sah, dass sie hungerten. Aufgedunsene Kinderbäuche, Rippen zählen. Man sieht so etwas gelegentlich als Schwenkfutter im Fernsehen. Aus der Nähe sieht es anders aus. Noch eine Wahrnehmung, von der die Wahrgenommenen nicht profitierten.





Wir besuchen die Familie des Dorfvorstehers.

Sie wohnt in einer aus Brettern zusammengenagelten Hütte, die auf Pfählen steht wie fast alle Wohnhäuser in kambodschanischen Dörfern, Schutz gegen die Ratten, außerdem schafft es Stauraum für Mopeds, Fahrräder, Tiere, Handwerksarbeiten, in der Mittagshitze findet man ein wenig Schatten, Schatten ist wichtig hier.

Der Dorfvorsteher besitzt eine kleine Reismühle, die mit Benzin betrieben wird.

Benzin, die rote Sorte für die Mopeds, wird in Kambodscha in Einliterflaschen entlang der Straße verkauft, an Imbissstand-Zigarettenladen-Benzinshop-Kombinationen, die ihrerseits auch nur Bretterbuden sind.

Die Familie, Mutter, Vater, sechs Kinder, lebt in einem einzigen großen Raum, auf vielleicht zehn mal vier Meter Grundfläche. Das Dach ist aus selbstgemachtem Reet, da und dort ein wenig löchrig, sie werden es noch ausbessern müssen vor dem Monsun.

Der Besitz der Familie, soweit ich ihn sehen kann: ein paar Klamotten, wahrscheinlich für jedes Familienmitglied eine zweite Garnitur. Ein Essgeschirr, für jeden eine Schüssel, zwei, drei Blechtöpfe. Kleinkram, das meiste in Plastiktüten verstaut und irgendwo ins Reetdach gesteckt, die Schulsachen der Kinder zum Beispiel. Und dann ein Fernseher, mitten im Raum, der an einer Autobatterie angeschlossen ist, Strom gibt es ja hier keinen.

Auf dem Fernseher Luxus: eine kleine Schale mit drei vier Tüten Sunsilk-Shampoo. In diesem Zusammenhang ein Zitat aus einem Interview mit der Autorin des Buchs "Asian Business Wisdom" über die Einführung der Sunsilk single-use sachets auf dem indonesischen Markt:

Unilever Indonesia is another company that uses smart pricing. To make sure all Indonesians can afford at least some of its products, Unilever introduced single-use sachets packets of Sunsilk shampoo and Rinso detergent for about four cents each. As a result, the company sold 2.9 billion sachets of Rinso and 3.8 billion of Sunsilk last year.
Wir sitzen auf dem Boden und treiben ein wenig Konversation mit Oat, dem ältesten Mädchen. Wegen der Kinder sind wir ja gekommen, um sie soll es gehen, die Zukunft Kambodschas.

Wie sieht dein typischer Tag aus?

Ich stehe um sechs Uhr auf. Ich hole Wasser vom Brunnen, kümmere mich um meine kleinen Geschwister, gehe in den Wald und sammle Feuerholz.

Feuerholzsammeln ist gefährlich. Möglicherweise liegen noch Minen herum. Letzte Woche hat es im Nachbardorf ein Mädchen zerfetzt, vor zehn Tagen haben in Tab Svay vier Jungs, Brüder, eine Mine gefunden und wollten sie ausgraben, damit der Vater Metall zu verkaufen hatte, jetzt liegen alle vier im Kinderkrankenhaus von Siem Reap, dort ist die Behandlung kostenlos, das Krankenhaus wurde von einem Schweizer Arzt gegründet, der jeden Samstag unter dem Namen Beatocello Bachsuiten und eigene Kompositionen auf dem Cello vorträgt, The Beat goes on! stand auf dem Plakat vor dem Klinikgebäude. Und vor einigen Tagen hat man im Dorf in einem Baum, den jemand - ich weiß nicht warum, vielleicht um Land zu roden - abfackeln wollte, gerade noch rechtzeitig eine undetonierte Handgranate entdeckt, sie steckt kaum erkennbar im Stamm, in ein paar Tagen werden die Entminer vorbeikommen und die Granate entschärfen.

Oder ich füttere die Tiere, sagt Oat.

Die Familie hat ein paar Hühner, ich kann mich nicht mehr erinnern, ob auch ein Schwein. Man darf sich die Tiere in diesem Dorf natürlich nicht vorstellen wie deutsche Tiere. Es sind jämmerliche Viecher, die Hühner sehen aus wie große zerrupfte Küken, die Schweine und Rinder haben keinen Speck auf den Rippen. Aber immerhin, es ist mehr als nichts.

Danach gehe ich zur Schule.

Oat ist in der zweiten Klasse, mit zehn. Bevor Angelina Jolie die Schule spendierte, gab es hier ja keine.

Was sind deine Lieblingsfächer?

Lesen und Schreiben. Geschichte. Rechnen.

Was willst du einmal werden, wenn du groß bist?

Lehrerin, sagt Oat.

Um Lehrerin werden zu können, muss man mindestens eine Sekundarschule absolviert haben. Die nächste Sekundarschule ist in Siem Reap, 40 Kilometer und eine Autostunde entfernt.

Könnten Sie sich denn leisten, Ihre Tochter auf die Sekundarschule in die Stadt zu schicken, falls sie sich als klug herausstellt.

Nein, lachen die Eltern, das geht auf gar keinen Fall. Das könnten wir nie bezahlen.

Also wird Oat keine Lehrerin werden können. So schnell erledigt sich das mit dem Träumen hier, unglaublich, dass man das mit dem Träumen dann doch nicht lassen kann.

Es sei denn, natürlich, es baut hier irgendjemand noch eine zweite Schule, es findet sich ein Lehrer, und so weiter. Immerhin, es kommen ja Leute wie wir um die halbe Welt geflogen, um in einem kambodschanischen Dorf nach den Kindern zu sehen. Vielleicht wird ja doch noch etwas draus.

Wie ist deine Lehrerin? Nett.

Ist sie manchmal auch streng? Ja. Wenn wir uns nicht an die Regeln halten.

Bestraft sie euch? Sie zieht uns den Stock über die Finger. Aber es tut nicht sehr weh. Und es kommt selten vor.

Was sind deine Lieblingsspiele? Seilspringen. Und Verstecken.

Es fällt einem auf: Kein Spiel dabei, das etwas kostet.

Zwei Tage später beobachte ich, wie die Mädchen auf dem Dorfplatz Gummitwist spielen.

Einerseits: Sie haben die Gummis aus alten Gummiringen zusammengebunden. Andererseits: Wo haben sie eigentlich die Gummiringe her?

Noch nie in meinem Leben bin ich an einem Ort gewesen, an dem mir die Frage einfallen hätte können, wo Kinder alte Gummiringe herhaben. Oder die Frage, wie jemand so reich sein kann, dass er sich vier Portionspackungen Sunsilk Shampoo leisten kann. Es ist nicht so, dass ich mich für solche Fragen, diese Hinterherschnüffelwahrnehmungen, nicht sofort wieder verabscheue, hallo, alte aufgeklärte Mittelschichtpsyche, und wenn man jetzt noch die Selbstwahrnehmung thematisiert, ist man dann noch fieser, all die Metafragen, Mannomann.

Nach allem, was ich gelesen habe, kommt es mir sehr wahrscheinlich vor, dass man unter Pol Pot für Sunsilk Shampoo mit einer Spitzhacke den Schädel aufgeschlagen bekommen hätte. Man ist damals ja auch für den Diebstahl eines Maiskolbens umgebracht worden.

Fragen: Wo liegt der Nullpunkt der Ökonomie wirklich? Und wie würde "Die kleinen Unterschiede" von Pierre Bourdieu in Kambodscha aussehen?

So etwas denkt man hier. Man kann das Denken ja doch nicht lassen.





Der Dorfplatz: ein niedergetrampeltes Areal vor der Angelina Jolie-Grundschule. Ein paar Bäume, im Schatten ein langer Tisch mit zwei Bänken, ein wenig wie in einem Biergarten. Und drei Hängematten für das Dösen in der Mittagsonne, wenn nichts mehr geht, 41 Grad, 42 Grad, im Verlauf des Aprils wird es noch heißer werden.

Etwas abseits sitzen auf Campingstühlen drei Uniformierte. Der eine ist der reguläre Dorfpolizist, die beiden anderen sind aushilfsweise da, von irgendjemandem zu unserem Schutz abkommandiert.

Es gibt, das ist mir schon auf dem Flughafen aufgefallen, viele Sicherheitsleute in Kambodscha. Vor den Mopedtaxifahrern paradierte ein Zwanzigjähriger mit Schlagstock und gut sichtbaren Handschellen auf und ab, er sah aus, als hätte er keine Probleme damit, den Schlagstock zum Einsatz zu bringen. Die Armee, wird Leak irgendwann in diesen Tagen erzählen, hat eine Stärke von etwa 150.000 Mann, lauter Freiwillige, Soldaten haben immerhin zu essen und eine Unterkunft in der Kaserne, alles Infanterie, die Marine besteht aus ein paar Küstenbewachungsbooten, die gelegentlich einen vietnamesischen Fischkutter aufbringen, die Luftwaffe, alte Migs und ein paar Helikopter, ist schon seit Jahren nicht mehr in der Luft gewesen, es fehlt an Geld, den Krempel zu überholen. Ansonsten: die üblichen Drittweltbewaffnung, chinesische Nachbauten russischer MGs und ähnliches. Unter der Herrschaft von Pol Pot, hat man gelesen, sind die Leute mit Spitzhacken und Hämmern erschlagen worden, weil sich die Khmer Rouge ihre Munition für die Vietnamesen aufsparen wollten; soviel zu den Vorzügen einer nicht hochgerüsteten Nation.

Die Dorfkinder sind zur Begrüßung angetreten. Wir sind ein wenig verlegen, sie sehr schüchtern, sie wissen nicht, was das alles soll, ich habe keine Ahnung, was ihnen erzählt worden ist. Wir bekommen Blumen überreicht. Wir versuchen, der Situation das Offizielle zu nehmen, machen Scherze, wahrscheinlich ist das immer so, wenn reiche Menschen plötzlich in ein armes Dorf einfallen. Ich kann mir gut vorstellen, wie unheimlich das alles für sie ist. Es ist ja auch für mich unheimlich. Man steigt in Hamburg in ein Flugzeug, hat sich auf dem Terminal noch die Che Guevara-Nummer von Stern Biografie gekauft, man hat während des Flugs noch ein wenig über Pol Pot und die Khmer Rouge nachgelesen, und einen Tag später steht man in einem armseligen Kaff und starrt armselige Kinder an, die einen anstarren. Wahrscheinlich könnte jeder Flugkilometer Dutzende kambodschanische Dörfer ein ganzes Jahr lang ernähren. Man weiß seit langem, dass man in einer Welt lebt, in der man ununterbrochen solche Rechnungen aufmachen könnte, aber man kann es immer noch nicht lassen, über solche Rechnungen zu staunen. All die Vermittlungen, all die Kurzschlüsse des Kapitalismus, sehr unheimlich, immer noch.

Was eigentlich soll man mit Blumen anfangen, die einem auf dem Dorfplatz eines kambodschanischen Kaffs übergeben werden?





Tab Svay, es gibt auch andere Schreibweisen, liegt 40 Kilometer außerhalb Siem Reaps in der Gemeinde Chub Ta Trav. Es ist die ärmste Gemeinde in der Provinz und die drittärmste in ganz Kambodscha.

Der Gouverneur würde uns nur zu gerne begleiten, sagt der Gouverneur. Leider hat er keine Zeit, die Amtsgeschäfte, Sie wissen ja.

Der Gouverneur trägt einen dunkelblauen Pyjama und seine kleinen Fingernägel sehr lang.

Über dem Schreibtisch des Gouverneurs hängen Fotos des Königs und der Königin.

Eine Angestellte serviert Wasser.

Er ist schon einmal in Deutschland gewesen, erzählt der Gouverneur, bei einer Entwicklungskonferenz in der Nähe Bonns, am Rhein. Der Wein. Das Bier. Das deutsche Volk. Die Freundschaft zwischen den Völkern.

Wir haben viele Fortschritte gemacht seit dem Ende des Kriegs, sagt der Gouverneur. In Siem Reap, es ist Ihnen sicher aufgefallen, wird ein neues Hotel ums andere errichtet.

Die Schreibtische wurden von den Vereinten Nationen spendiert.

Wir befinden uns in einem Land, das so arm ist, dass es sich sogar die Schreibtische spendieren lassen muss.

Der Amtssitz des Gouverneurs ist so groß wie ein deutsches Zweifamilienhaus.

Im Garten spielen ein paar Kinder.

Das Innere des Amtssitzes ist eine Art Großraumbüro.

Acht, zehn Schreibtische, ein paar Aktenschränke, es sind erst zwei Angestellte da, es ist gerade erst acht.

Am Eingang hängt ein Plakat, das den Kambodschanern erklärt, wie demokratische Wahlen funktionieren. Die nächsten nationalen Wahlen finden im Juli statt. Das Ergebnis steht schon fest, die People Party wird mit satter Mehrheit gewinnen, Hun Sen Ministerpräsident bleiben. Auch er war früher eine Zeitlang irgendwie mit den Khmer Rouge verbandelt, wie auch der König, so trennscharf sind die Fronten hier nicht, wenn man rechtzeitig abgesprungen ist, wird einem verziehen, im Internet stehen nun die Golfrekorde des MPs.

Der Gouverneur hat ein eigenes Büro, tiefe Ledersofas für Besprechungen, eine Art Schrein für Medaillen, eine kambodschanische Flagge. Ein netter Mann. Es ist nicht so wichtig, was er früher gemacht hat, es ist nur ein Höflichkeitsbesuch, man tauscht ein paar Sätze aus, hallo, hier sind wir. Er sieht aus, als hätte er es sich gerichtet. So sind die Leute, die den Fortschritt machen.

Da draußen in den Dörfern ist noch nichts zu bemerken von einer Friedensdividende.

Kurz nach neun sind wir wieder draußen. Es hat 37 Grad. Es ist April, der Vormonsun, der heißeste Monat des Jahres, jeder ein Dummkopf, der im April nach Kambodscha fährt.

Das Dorf liegt 40 Kilometer entfernt.

Für die vierzig Kilometer braucht man mit dem Auto eine Stunde, davon 40 Minuten für die letzten 15 Kilometer. Und sehr widerstandsfähige Bandscheiben, Cambodian massage wird Leak es nennen.

Während wir fahren, erklärt Leak, was wir draußen sehen.

Die Leute auf den Fahrrädern, sagt Leak, suchen in der Stadt Arbeit. Sie verkaufen ein paar Kokosnüsse, ein paar Kürbisse. Oder sie versuchen, sich auf einer Baustelle verdingen. Es wird viel gebaut in Siem Reap. All die Touristen, die die Tempel von Angkor Wat sehen wollen. Seitdem der Krieg zu Ende ist, kann man sie ja endlich gefahrlos besichtigen. Angkor Wat ist das einzige, was Kambodscha zu verkaufen hat. Abgesehen von Kindern. Kinder gehen auch gut, liest man da und dort. Ach, und man kann sich in Kambodscha ganz leicht das Gefühl kaufen, ein guter Mensch zu sein. Es gibt nicht viele Plätze auf der Welt, an denen das Gutsein billiger ist, es kostet bloß ein paar Dollar, die einem nicht weiter fehlen.

Das klingt zynisch. Aber es sagt nur, wie verzweifelt das Land ist. In einem Land, das nichts hat, macht jede Kleinigkeit einen Unterschied. Man neigt dazu, sich lustig zu machen über die Leute, die sich das Gutsein ganz billig erkaufen. Dabei sind sie es, die hier für die großen Unterschiede sorgen. Manchmal für jene zwischen dem Verrecken und dem Überleben.

Die Leute, die auf einer Baustelle unterkommen, bekommen pro Tag einen Dollar.

Das durchschnittliche Monatseinkommen in Kambodscha liegt bei ungefähr 25 Dollar. Da, wo wir hinfahren, in den Dörfern, verdienen sie sechs oder sieben Dollar im Monat. Sie würden es sowieso nicht in die Stadt schaffen. Man braucht ja mit dem Auto schon eine Stunde. Und sie haben nicht einmal Fahrrräder.

Jetzt sind wir im Dschungel, sagt Leak.

Hier beginnt die Gemeinde Chub Ta Trav, ingesamt vier Dörfer, der staubigen Piste entlang aufgereiht, je weiter man fährt, desto größer die Armut.

539 Haushalte, 3088 Bewohner, davon 1582 weiblich. Aber hier sind penible Volkszählungen wahrscheinlich noch ein wenig sinnloser als an anderen Orten. Die Kindersterblichkeit. Die Geburtenrate. Die Lebenserwartung. Erst letztes Monat ist wieder ein Mädchen von einer Landmine zerfetzt worden. Da machen die Einerstellen im Zensus von vornherein keinen Sinn.

In jedem Dorf gibt es einen Polizeiposten. In Tab Svay gibt es eine medizinische Station, in der alle zwei Wochen ein Arzt vorbeischaut. In Chub und in Tab Svay gibt es, allerdings erst seit zwei, drei Jahren, Grundschulen, beide von Angelina Jolie spendiert.

Angelina Jolie, der Hollywood-Star, wie alle hier sagen, hat in den Tempeln von Angkor Tomb Raider gedreht, sich in das Land verliebt, ein kambodschanisches Kind adoptiert und zwei Schulen gestiftet.

Das alles klingt so grauenhaft billig, wenn man es in den Zeitschriften liest. Hier braucht man nur ein, zwei Tage, um zu verstehen, dass Angelina Jolie tatsächlich ein guter Mensch ist. Ein besserer jedenfalls als der, der die Geschichten über Angelina Jolies Liebe zu Kambodscha für billig befindet.

In einer besseren Welt behielte man recht mit seinem Hochmut den Almosen gegenüber. In einem Land aber, das so bettelarm ist, dass ihm die Grundschulen von Hollywoodstars spendiert werden müssen, kollabiert einem die Verachtung sofort.