In den Kommentaren auf ein paar postings früher schreibt Birgit Kellner:

(...) ein nachsatz zum freien willen als antwort auf die frage "warum tun selbstmordattentäter, was sie tun?" bin mittlerweile draufgekommen, warum mich die antwort stört. sie beantwortet eine frage nach ursachen mit beabsichtigten zielen ("weil sie damit eine staatsgründung bewirken wollen"). sie beantwortet sie also eben nicht. man kann auch gern sagen, es wäre in dem fall nicht interessant, nach ursachen zu fragen, weil es um die ziele geht. man kann auch sagen, es wär einem wurscht, warum es im nahen osten selbstmordattentäter gäbe und etwa in nordirland nicht (mir zum beispiel scheißegal). aber man kann nicht sagen, der freie wille gäbe eine ursächliche begründung von selbstmordattentaten.
Kann man doch, finde ich. Tatsächlich ist für mich der Wille die Ursache einer Handlung. Das liegt im Begriff der Handlung: Sie ist das Mittel, mittels dessen das handelnde Subjekt seinen Willen zu realisieren versucht. Demnach kann es gar keine Handlung ohne Willen geben, ist der Wille ihre causa efficiens. Nicht alles, was der Mensch so tut, ist eine Handlung - es gibt auch Reflexe, Tics und dergleichen. Wenn ich sage, die Ursache eines Selbstmordattentates sei der freie Wille des Attentäters, dann sage ich damit: es handelt sich um eine Handlung - im Unterschied zu einer bloßen Folge, einem Reflex, einer Wirkung usw.

Dass das banal ist, weiß ich selber. Weniger banal kommt mir vor, dass in ziemlich vielen Selbstmordattentats-Erklärungsversuchen diese Banalität nicht mehr vorkommt und häufig suggeriert wird, Selbstmordattentate wären etwas wie eine naturhaft sich einstellende Konsequenz bestimmter Umstände, als müsste man sich nicht erst einmal entscheiden, ehe man loszieht und sich und eine Pizzeria in die Luft sprengt, sondern würde dazu getrieben werden (mir kommt das jedenfalls ziemlich mechanistisch vor).

Ich nehme an, die Frage nach den Ursachen von Selbstmordenattentaten gilt den Umständen, unter denen man auf den Gedanken verfallen kann, sie wären ein vernünftiges Mittel, irgendwelche Ziele durchzusetzen. Dass es solche Umstände gibt, habe ich nie bezweifelt und würde ich nie bestreiten. Man muss da auch nicht viel argumentieren drüber. Es ist ziemlich evident, dass miese Lebensbedingungen, Massenarmut, permanente Bedrohungsgefühle usw. (man könnte die Liste noch lange verlängern) Überlegungen begünstigen, die zu Entschlüssen wie Selbstmordattentaten führen. Dennoch hat man immer noch die Wahl. Die Selbstmordattentäter, beziehungsweise ihre Sprecher/Organisationen, würden das übrigens nicht bestreiten. Für sie sind Selbstmordattentate freiwillige, heldenhafte Akte des Widerstands gegen eine Besatzungsarmee, nichts, zu dem sie getrieben worden wären und das sie als Vollstrecker eines Welt-, Volks- oder sonstwas-Geistes dumpf exekutieren.

Ich nehme nicht an, dass alle Berichte, die ich über Hamas, den Islamischen Dschihad (die Organisation), die Hizbollah und die Al Aksa Brigaden lese, Desinformation sind. Alle sagen sie nämlich unter anderem: Wenn man Selbstmordattentäter werden will, meldet man sich bei der jeweiligen Organisation, von der man weiß, dass sie einem mit (auch psychischem) Training, Logistik und Material versorgt; Leute, die zu jung sind (von denen man also annimmt, sie hätten sich das nicht reichlich durch den Kopf gehen lassen) werden abgewiesen; Leute, von denen man annimmt, sie wären klar im Kopf und hätten sich dafür entschieden, ihr Leben einzusetzen, werden trainiert, ausgerüstet und bei Bedarf zum Einsatz abkommandiert.

Warum also beschließt einer, zum Selbstmordattentäter zu werden?

Einige Vermutungen:

(1) Er ordnet die eigene Existenz einem höheren Staatsziel unter, stellt eine Kalkulation auf, der zufolge es völlig in Ordnung ist, das eigene Leben für ein erst noch zu gründendes Staatswesen zu opfern. (2) Er hält es im Kampf gegen den Feind seines Staatswesens für ein probates Mittel, so viele Zivilisten der Gegenseite wie möglich zu töten, auch wenn er selbst dabei ins Gras beißt. (3) Er hat keine Mittel zur Verfügung, Angehörige des feindlichen Kollektivs zu vernichten, ohne dabei selbst draufzugehen. (4) Er glaubt, dass er sich nützlich machen kann, indem er sein eigenes Leben auslöscht, während er anderer Leute Leben auslöscht. (5) Er will seine Familie materiell versorgen; 25.000 $ für die Hinterbliebenen von Saddam Hussein, Hinterbliebenen-Pensionen durch die jeweiligen Organisationen - dass das ein Motiv ist, bestreiten die zuständigen Organisationen allerdings. (6) Er glaubt den ganzen hohlen Schwachsinn, mit dem das Sterben fürs zukünftige Vaterland ideologisch verbrämt wird und an dem es ja auch in Palästina keinen Mangel gibt.

In all dem wird immer eine Berechnung aufgemacht: zwischen der eigenen Existenz und dem Wohlergehen, dem Vorankommen des Staates (nennen wir es mal so, es ist noch keiner, ich weiß...), und immer wird sie zugunsten des letzteren beantwortet; das eigene Leben ist das Unwichtigere, kann eingesetzt werden usw. Der Selbstmordattentäter macht sich also die Zwecke des höheren Ganzen zu eigen, zu dessen Fortkommen er seine Tat begeht, er relativiert seine eigenen Zwecke (was man halt so gern macht als Mensch) an denen des Kollektivs, für das er sich in die Luft sprengt. Das Selbstmordattentat ist politisch, es verfolgt einen bestimmten politischen Zweck, und das Selbstmordattentat ist nicht privat (sonst wäre es etwas dem Erfurter Massenmord vergleichbares, ein "Amoklauf"). Das ist, glaube ich, der Grund dafür, dass Arafat sich eben nicht von den Selbstmordattentaten distanziert bzw. nur wenn es nicht anders geht bzw. nur mit allen erdenklichen Vorbehalten und rabulistischen Schnörkeln: kein Staatsmann distanziert sich von seinen eigenen Soldaten, und natürlich sind die Selbstmordattentäter so etwas wie die Soldaten in der Armee der PA, und wenn er reguläre Streitkräfte mit einer regulären Bewaffnung hätte, dann bräuchte er die Kinder nicht, die sich in die Luft jagen.... Es ist Arafats Entscheidung, sein höchst freier Wille, das laufen zu lassen; er hätte da schon etwas tun können, wenn es ihm am Herzen gelegen hätte, dass Kids etwas anderes mit ihrem Leben anfangen als es für seinen tollen Staat in die Luft zu jagen.

Wie man die Selbstmordattentäter als Massenphänomen wieder los wird, ist nicht allzuschwer zu beantworten, denke ich. 1. Palästina kriegt, was es will, nämlich einen eigenen Staat (ich wünsche mir das mittlerweile schon aus dem Grund, dass dann endlich dieser beknackte Staatsidealismus ein wenig aufhört, den mittlerweile angebliche Autnome mit Möllemanns usw. teilen). 2. Israel zieht sich aus den besetzten Gebieten zurück, stellt den Siedlungsbau ein. 3. Hamas, Hisbollah, der Islamische Dschihad und die Al Aqsa-Brigaden erklären ihre Selbstauflösung oder werden von den Palästinensern verboten. 4. Arafat zieht sich zurück, wird zurückgezogen, hat nichts mehr zu sagen, whatever.

Wir können auch gerne noch über das Moralische, von dem bislang nicht die geringste Rede war, verhandeln. Mein Standpunkt dazu ist mir selbst schon langweilig, aber ich kann ihn gerne noch einmal wiederholen: Jeder, der die Benutzung von Teenager-Körpern als Low-Tech-Trägerraketen zum Irgendwie-schon-verständlichen-Widerstands-Heldentum erklärt, ist mir moralisch außerordentlich suspekt; Typen, die in Wort und Schrift das Märtyrertum predigen, können sich von mir aus gerne selbst in die Luft sprengen, und zwar am besten dort, wo sie keinen Schaden anrichten; jeder in einer Pizzeria oder in einem Einkaufszentrum in die Luft gesprengter Zivilist erweckt bei mir mehr Mitgefühl als ein paar Wochen Hausarrest und Demütigung für Herrn Arafat; jeder, der mir einreden will, Selbstmordattentate wären ehrenhafter als Kapitulationen, kommt mir verdächtig vor; jeder, der den Heldentod für glorioser hält als völlig unheldisches Leben, muss von meiner Seite aus mit moralischem Misstrauen rechnen. Mit Westen, Osten, Kultur, Religion, USA, Weltordnung und ähnlich großen Keulen hat das wenig zu tun; der Platz, der in meinem Herzen für moralische Verdammnis vorgesehen ist, ist ziemlich groß, das kann man mir getrost glauben.

Weil es gerade dazu passt, hier einige Lesehinweise:

Female Suicide Bombers: The New Factor in Mideast's Deadly Equation: Ein Artikel aus der Washington Post über Selbstmordattentäterinnen, was deren Auftreten mit der Entscheidung der Al Aqsa-Brigaden zu tun haben könnte, eine Strategie zu wählen, die bisher eher von der Hamas und der Hizbollah ausgingen, und über den Kult, der um sie betrieben wird.

Inside the mind of a suicide bomber: Aus dem Sidney Morning Herald eine Reportage, in der ein Journalist mit Ideologen und zukünftigen Selbstmordattentätern spricht.

Suicide Bombings. The Ultimate Weapon? Ein schon etwas älterer Beitrag von einer israelischen Website, die sich mit Terrorismus und Counter-Terrorismus beschäftigt, über den Charakter und die Absichten von Selbstmordattentaten. Wie mir scheint, angenehm nüchtern analysiert.

The Charter of Allah: The Platform of the Islamic Resistance movement (Hamas): Von derselben israelischen Website: eine englische Übersetzung, sparsam und eher philologisch kommentiert, des Gründungsmanifests der Hamas. Handelt nicht von Selbstmordattentaten, gibt aber erschöpfend Auskunft über Ziele, Selbstverortung usw. der Hamas.

Und das hier auch noch:

The 'engineer'. An engineer of the fiercest battle waged by the Palestinians during the invasion of the West Bank spoke to Jonathan Cook about the days of defiance in Jenin. Aus dem hochinteressanten ägyptischen Al-Ahram Weekly Online: Ein Gespräch mit einem palästinensischen Kämpfer, der sich aus den Kämpfen um Dschenin absetzen konnte. Relativiert die Version, Dschenin sei ein "Massaker" gewesen, ohne dabei die israelische Version zu stützen.






tüdelüüü

absichten sind andere typen von handlungsursachen als tatsachen, umstände und dergleichen. wie man den unterschied genau faßt, ist frage der philosophischen theorie, aber es gibt einen, und ich habe ihn, um deutlich zu sein, so gefaßt, dass eine absichtserklärung eine erklärung einer handlung unter dem gesichtspunkt ihres ziels ist, und eben nicht unter dem einer ursache, weil die absicht immer auf ein ziel gerichtet ist (was andere umstände, wie etwa arbeitslosigkeit, verzweiflung, entrechtung, haß, nicht sind). eine ursächliche erklärung schließt eine absichtserklärung nicht logisch aus, aber absichtserklärungen haben oftmals die eigenartige eigenschaft, alle anderen erklärungstypen in den hintergrund zu drängen und in richtung eines merkwürdigen selber-schuld-kannst-eh-frei-entscheiden-individualismus zu zeigen. deswegen sind mir absichtserklärungen suspekt. bei den lösungsvorschlägen, die du auflistest - denen ich voll zustimme -, spielt der freie wille ja prägnanterweise überhaupt keine rolle. deswegen versteh ich nicht so ganz, warum du dich so an ihn hängst. da ich darin aber kein politisches problem sehe, das zu lösen notwendig wäre, erkläre ich deine anhänglichkeit durch deinen freien willen und bin damit vollauf zufrieden.


d´accords

größtenteils jedenfalls. an den willen häng ich mich nur so, weil mir zu viele mechanisten herumschreiben gerade, die fast manisch darauf beharren, es ließen sich die handlungen auch ohne die handelnden erklären. mir kommt, wie gesagt, das meiste, was ich sage, trivial vor.


fein

nachdem ich sowieso für die aufwertung trivialer aussagen bin ("die japaner haben zwei beine"), klingt das sehr vielversprechend.


unfreier Willen

Gebe zu Bedenken, dass es vermutlich nur eine verkürzte (und sicherlich auch vereinfachende) Redeweise ist, wenn in Kommentaren eine Kette an begünstigenden Umständen so wie eine Kausalkette dargestellt wird (kann man jetzt ja auch bei den Berichten über Erfurt sehen). Aber ich glaube nicht, dass das allgemein als Behauptung eines Determinismus missverstanden wird; der Unterschied zwischen solchen Erklaerungsweisen und solchen der Physik wird, denke ich, intuitiv verstanden. Und so viel ist mit dem Beharren auf freien Willen ja auch nicht gewonnen, wenn darunter nur die Moeglichkeit, etwas nicht zu tun verstanden wird. Oder wuerdest Du bestreiten, dass es unterschiedliche Grade gibt der Einfachheit, etwas nicht zu tun? Ich hatte zum Beispiel gerade Dein Ha'aretz Zitat so verstanden, dass dort die Beeintraechtigung des freien Willens anderer beschrieben wird. Noch eine Frage: Kann Deine Definition "unfreien Willen" zulassen? Und wo wir gerade dabei sind, empfehle ich noch G.E.M. Anscombes "Intention," nach dessen Durcharbeitung man komplett den freien Willen, jemals wieder ueber freien Willen und Absichten nachzudenken verliert.


intuition und intention.

ich hab auch erklärtermaßen nie behauptet, dass man mit dem beharren auf den freien willen so wahnsinnig viel für erklärungen gewinnt. man begeht nur einige fehler nicht, die derzeit, wie mir scheint, häufiger mal begangen werden. angefangen hat das ja mit einer bemerkung von mir über ein "nachtstudio" im fernsehen, in dem für die selbstmordattentate alles mögliche verantwortlich gemacht wurde (mangelnde elternliebe, demoskopische assymetrien usw.), nur nicht eben der wille der selbstmordattentäter, selbstmordattentate zu begehen. und ich bin mir nicht so sicher, dass der unterschied zwischen determinismus und nicht-determinismus so sehr gemacht wird, wie Du sagst.

einen "unfreien willen" gibt es natürlich nicht in meinem sprachgebrauch, insofern kann ich mir das frei natürlich auch sparen. ich verwende es halt, weil es ein traditioneller philosophischer begriff ist, von dem ich mir einbilde, dass man mit ihm intuitiv einigermaßen weit kommt. für meine punkte genügt das glaube ich auch - es geht mir ja nicht um feine verästelungen von sprachanalyse, sondern in diesem zusammenhang um politisches.

anscombe habe ich auch gerne & mit gewinn gelesen, als ich mich noch mehr mit analytischer philosophie befasst habe. die sache ist nur die: mir geht es gerade um die erklärungen politischer handlungen und die diskussion politischer erklärungen, nicht um die präliminarien, die den sprachgebrauch betreffen.


Wille?

lest mal A.R. Damasio's "Descarte's Irrtum - Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn".

Damasio, ein Neurologe, beschreibt, welche Mechanismen seiner Erfahrung nach zur Willensbildung beitragen. Der Körper, die durch/in ihm empfundenen Gefühle bzw. deren Wahrnehmung im Gehirn spielen dabei eine entscheidende Rolle.

Gute Quelle, wenn man das scheinbare Kausalitäten des menschlichen Handels betrachten möchte.