Meine Frau hatte sich von mir getrennt, aus purem Überdruss, aber in meinen Träumen liefen wir immer noch durch Straßen und brüllten uns an. Am erträglichsten waren die Montage, wenn ich wieder im Büro saß und mit jemand anderem reden konnte als mit den Wänden und den Möbeln. Da hörten sich die Wörter gleich wieder an, als wären sie zu etwas nütze. Abends ging ich mein Adressbuch durch und fand darin niemanden, den ich treffen wollte. Manchmal las ich in den Zeitungen die Kontaktanzeigen und nahm mir vor, selbst eine aufzugeben. Aber ich scheiterte an meiner Selbstbeschreibung.

Im Sommer fuhren wir immer an die Ostsee. Alle liefen nackt herum. Ich wollte nicht nackt sein. Ich hatte da unten Haare bekommen und wollte nicht, dass einer das sah. Ich wollte es ja nicht einmal selbst sehen. Aber es half nichts, die Hosen mussten runter. Stell dich nicht so an, sagte mein Vater, schaut dir doch keiner was ab. Es ist die vollendete sozialistische Demokratie, sagte mein Vater, alle sind wir gleich. Warum waren die einen dann schön und die anderen häßlich? Ich war häßlich. Meine Haut war so weiß. Ich hatte rote Haare. Ich hatte Sommersprossen. Und in der Sonne lief ich rot an. Ein in der Wolle gefärbter Roter, sagte mein Vater. Tante Veronika sagte: Egon, dein Sohn ist bald ein richtiger Mann. Tante Veronika war immer dabei im Sommer, ihr Mann war gestorben. Baggerunfall, hieß es, ich kann mich nicht erinnern, ihn je gesehen zu haben. Jetzt bin ich so lange alleine, sagte Tante Veronika oft , jetzt will ich mich nicht mehr gewöhnen an das Joch der Ehe. Wenn jemand gekommen wäre und mich gebeten hätte, meine Eltern auszuspionieren, ich hätte sofort unterschrieben. Ich hätte ihnen alles erzählt. Es kam aber niemand.
Manchmal habe ich Träume, das glaubt mir keiner.

Ich weiß auch nicht, wieso ihr immer denkt, daß man über sechzig keinen Hunger mehr hat. Ihr glaubt, die Gier hört auf, sobald man Falten bekommt, das verläuft sich schon irgendwo. Es hört aber nicht auf, es wird nur noch schlimmer. Man weiß nämlich, wie sehr einer sich überwinden müsste, einen anzufassen, also besteht man darauf, dass man angefasst wird, alles andere wäre eine Beleidigung. Und deswegen hast du dir einen Liebhaber zugelegt? Ich will ihn doch nur benützen, lieben tue ich deinen Vater doch schon. Warum erzählst du mir das alles? Ich möchte dir imponieren. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie armselig man sich fühlt, wenn man für keinen mehr eine Überraschung ist. Ach Mama. Dabei ist er nicht einmal gut.





ABIGAIL SLOPER

MRS Abigail Sloper geboren zu Broad Chalke, unweit Salisbury, A.D. 1648. Hochmut; Lüsternheit; undankbar ihrem Vater; verheiratet; wurde irrsinnig; kam wieder zu Sinnen.

RICHARD STOKES

RICHARD STOKES, M.D.; sein Vater war Fellow am Eaton College. Er ward dort & am King´s College aufgezogen. Mr W. Oughtred unterrichtete ihn in Mathematiques (Alegbra). Damit machte er sich wahnsinnig, wurde aber wieder vernünftig - doch wie ein Glas, das einen Sprung hat, fürcht´ ich. Wurde ein Römisch-Catholischer; verheiratete sich unglücklich zu Liege; Hund & Katze etc. Wurde Trinker. Starb in Newgate, April 1681, in Schuld-Haft.

ANDREW YARRINGTON

HAUPTM. Yarrington starb ca. März letzten Jahres zu London. Die Ursache seines Todes war: er wurde zusammengeschlagen und in eine Wasser-Bütte geworfen.

John Aubrey, Brief Lives, 1669 ff.





Gestern Supermarkteröffnung in der Nachbarschaft. Statt des alten Spar-Markts mit dem tristesten Warenangebot aller Zeiten nun ein riesiger Intermarché, o la la. US-Format, man fällt nicht dauernd über die Kartonpyramiden mit den Sonderangeboten oder läuft Regal-Einräumer über den Haufen. Das ganze Programm. Sogar eine Sushi-Theke. Und Austern. Am Eingang fiel man einem Bäckerei-Angestellten in die Arme, der einem eine Tüte Einführungsangebot aufnötigte. Drei Scheiben Graubrot, na toll. Beim Eröffnungs-Rubbelspiel gewann M. eine Flasche Gewürzketchup, noch toller. Irre, dass sie jetzt abgepackte Wurst verkaufen, auf deren Verpackung Wellness-Wochenenden verlost werden, Fotos mit Frauen in weißen Morgenmänteln, die Schönheitsfarm-Ästhetik. Ich fragte mich sofort: Verkaufen sie jetzt schon Wurst als Beauty-Konzept? Eine riesige TK-Truhe nur mit Pommes. Eine Sorte, die sich "Steak Frittes" nannte, im Untertitel allerdings gleich wieder "Toscana". Das müsste man auch mal untersuchen, diese Kultur-Image-Hybride in der Warenwelt. Zum Beispiel, dass in praktisch allen Rezeptgeschichten über asiatische Länderküchen die "Frühlingsrolle" auftaucht, und immer schmeckt sie gleich, obwohl sie doch chinesisch, thai oder vietnamesisch sein soll. Wusstet ihr, dass es ein Hundefutter namens PLATON gibt? M. war schneller als ich, wie immer, und sagte sofort: Das Hundefutter-Äquivalent zu CAESAR (für die Katze). Darüber gerätselt, ob dann das Wellensittich-Futter eher MARC AUREL (Selbstbescheidung) oder BRUTUS (natürlicher Feind der Katze) heißen sollte. Auch sehr lustig: Dass es schon am Eröffnungstag des Supermarktes die klassischen Supermarkt-Herumsteher gab, die aussahen, als hätten sie die vergangenen zehn Jahre an diesem Tisch der Inhouse-Bäckerei verbracht, mit einer Zichte und einer Tasse Dünnkaffee. Wie spricht sich das eigentlich bei solchen Leuten herum? Wechseln sie ihr Revier, wenn sich neue Reviere auftun? Am lustigsten allerdings, wie wir beide uns fühlten: ein Landehepaar, das in die Stadt kommt und leicht schwindelig durchs Warenangebot taumelt, guck mal, was die alles haben.





So oft ich unter Menschen gewesen bin, bin ich als ein geringerer Mensch heimgekommen. [Thomas von Kempen, I, XX.]





Als ich klein war, war Afghane noch ein brand name.





Über Taliban nachdenken.





Weil man alte Jahre ordentlich bilanzieren soll, hier mein persönlicher unvollständiger Poll 2000:

Investitionsruine 2000: Vivi@n, die moderne Frauenzeitschrift aus dem Hause Burda. Pünktlich zum 30. Dezember 2000 eingestellt, nachdem auch die Abschaffung des @ im Titel nichts mehr gebracht hat. Das Sofa wusste es schon nach der premiere issue.

Website 2000: Die Euroranch. Jeden Tag eine gute Tat - ein guter Soundclip. Sehr oft: traurige Country-Musik. Runner-up: Langreiter.com. Auf keiner anderen Website steht so viel, das ich nicht verstehe, aber in mir so viel Sehnsucht erweckt, es zu verstehen.

Gesamtwerk 2000: Jenes von Heimito von Doderer. 39 Jahre lang nicht zur Kenntnis genommen, im vierzigsten ohne Vorwarnung angefallen worden. Anspieltip, wie es die PR-Idioten der Plattenfirmen formulieren: Die Wasserfälle von Slunj.

Nicht realisiertes Konzept 2000: Ein Filmclub auf der Reeperbahn. Es wäre so schön gewesen. Eines von den Wichspornokinos mieten, die kein Geschäft mehr machen, weil sich zu Hause vor dem Videorecorder viel gemütlicher masturbieren lässt. Einmal im Monat eine Sonntagsmatinée, wie damals im Wiener Stadtkino, sagen wir gegen 15 Uhr. Mit all den Filmen, die in Hamburg nicht gespielt werden: Eustache oder Melville oder meinethalben auch Hail! Hail! Rock'n'Roll. Und dazu das passende Catering. Wenn wir hundert eingeschriebene Mitglieder haben, die fuffzich Mark im Jahr bezahlen, müsste es zu schaffen sein. Wir haben gar nicht erst angefangen, das zu organisieren. Zu faul. 1999 waren wir zu faul für das "mobile Restaurant", 1998 für die "kollektive Bar" und das "Vorspeisenrestaurant nach dem Prinzip eines Running Sushi, aber mit Wiener Schnitzel und Kaiserschmarren". Mal sehen, welche Geschäftsidee 2001 nichts wird.

Ewige Wiederkehr des Gleichen 2000: Deutscher linker Antisemitismus. A.k.a. Antizionismus. Der durchschnittliche deutsche Linke hält Kinder, die mit Steinen nach Juden werfen, für Freiheitskämpfer. Reiht euch ein, Genossen, in die deutsche Leitkultur!

Zeitschrift 2000: Die Jungle World. Nie Fehler gemacht. Und den deutschen linken Antisemitismus beim Namen genannt.

Völlerei 2000: Sobanudeln. Sogar in klingonischen Rezepten.

Sich selbst erfüllende Prophezeiung 2000: Als beim 3Sat-Börsenspiel der schmierigste aller Neuer Markt Analysten (kann mir mal endlich jemand erklären, warum das nicht "Analytiker" heisst?) sagte: "Morphosys. Kursziel 1000". Als er es sagte, lag der Kurs bei 100 oder so. Danach nicht mehr. Wir hätten wirklich zu gerne gewusst, wieviele Morphosys-Aktien der gute Mann vor seinem Auftritt gekauft hat.

Trailer 2000: Dr. Thuneke, No-Nonsense-Internist, bei der Ultraschall-Untersuchung meiner Eingeweide: "Ach hier, da haben Sie einen Nierenstein. Damit Sie gleich sagen können, was es ist, wenn Sie vor Schmerzen schreien."

Geduld zahlt sich aus 2000: Die Balzac-Coffeeshops in Hamburg. 12 Jahre lang war hierorts Kaffee ein Synonym für dünne bittere Suppe. Jetzt nicht mehr. Grande latte to go. Und die Verkäuferinnen sehen alle verdammt gut aus.

Versäumnis 2000: Während ich in Thailand war, die Histoire(s) du Cinema von Jean-Luc Godard auf Arte. Kann mir jemand das Video kopieren? Zahle jeden Preis.

Selbstbewussteins-Booster 2000: Jeden Morgen auf dem Weg zum Büro an der Hamburger Scientology-Zentrale vorbeigehen. In den Schaufenstern dieses Vereins, der nichts zu verbergen hat, sitzen lauter Loser, die wirklich alle, jeder einzelne, wie Loser aussehen.

Natur 2000: Der Himmel über Bahrenfeld, von unserer Wohnung (5. Stock, 12 Meter Glasfront, 3 Meter hoch) aus beobachtet. Sieht aus wie von Turner gemalt. Nein, noch besser. Erhabenes galore!

Restaurant 2000: Ninja Crepes. Koh Samui, Thailand. Es schmeckt wie es heisst: instant paradise.

Bargain 2000: Progression Sessions Vol. 4 by LTJ Bukem Featuring MC Conrad (2 CDs) für VIER Mark im Zardoz auf der Ottenser Hauptstrasse.

Bewegung 2000: Weblogs, of course.

Kunstwerk 2000: Scanner bei sound a.k.a space in Hamburg. Eine Ausstellung von Sound-Installationen, musique ameublement, so etwas in der Art. Scanners Installation waren fünf (glaube ich) lange Regalbretter mit Tonbandcassetten, die die Leute vorbeigebracht hatten. Tapes also, wie es sie gegeben hat, ehe es mp3 gab. Tapes, auf denen man seine Lieblings-Headbanger-Mucke aufgenommen hatte oder die Stücke, mit denen man die neue Freundin flachlegen wollte. Ein stummes Archiv, das nur in der Imagination sang. Groß!

Unschuldslämmer 2000: Jetzt tun sie in Sebnitz alle, als gäbe es keine Rechten in der Kunstblumenstadt.

Ist zwar politisch nicht korrekt, es zuzugeben, aber trotzdem geilster Körperteil 2000: Der sensationelle Hintern von Cameron Diaz in Charlie's Angels. Harry sieht es genauso.

Unerfüllbare Sehnsucht 2000: Eine Rückenmassage von Lucy Liu. Um einer solchen Gnade teilhaftig zu werden, muss man sein wie Larry Ellison.

Vertragsklausel 2000: "Der Verlag verpflichtet sich, keine Rezensionsexemplare an die Wiener Tageszeitung "Die Presse" zu liefern, so lange diese Andreas Mölzer als Kolumnisten beschäftigt." Andreas Mölzer ist Kulturberater Jörg Haiders. Die Klausel steht im Vertrag, den Meike und ich mit Droemer-Knaur über das Buch "Doppelpack" (buy it!) abgeschlossen haben, dem die Bild-Zeitung attestiert, es sei "Ally McBeal für Fortgeschrittene". Wo sie recht haben, haben sie recht...

Gadget 2000: Das Palm V Snap-On-Modem, im Duty Free des Abu Dhabi Airport gekauft.

Gefühl 2000: Ratlosigkeit.





  1. Wo wollen wir leben ? Im fünften Stock & das Haus gegenüber hat nur vier. Und das einzige was man sieht, ist der Himmel. So leb ich jetzt. Zweitens: Sidney. Drittens: Im Netz

  2. Womit verdienen wir die nächsten Jahre unser Geld (nachdem der 2 Mio Fall bisher nicht eingetreten ist)? Wird auch nicht mehr. Also wie bisher: Geschichten erzählen. Es braucht Geschichtenerzähler am Lagerfeuer, das weiß man aus jedem Western. Die Lagerfeuer sind die Monitore geworden.

  3. Wo fahren wir im Urlaub hin ? Asien. Dorthin, wo man nichts versteht. Singsang und Zeichen. Und Hot Chili Clubs.