Am Ende der Nacht gibt es immer Frühstück. Kaffee und Croissants.





Every time you laugh, smile or frown, these facial movements can crease the skin. With time, these recurrent tensions form expression lines: crow's feet, wrinkles on the forehead and between the eyebrows and nasogenian lines which gradually become deep wrinkles. Your features become set and your face loses the expression of its youthfulness.
Retin-Ox Correxion, Beipackzettel.

[so don't laugh, smile or frown. die botoxisierung der pflegenden kosmetik. das x und das ox in den produktnamen, analog zu den ipod-me-toos. symptomatische lose-lose-situationen des 21. jahrhunderts.]





Wenn jetzt jemand in mein Weblog hineingesehen und sich gefragt hat, ob mir etwas widerfahren ist.

Was den Text in eine körperliche Lebensäußerung verwandelt, Atmen, Herzschlag vergleichbar. Der Weblogtext ist der Spiegel, den man sich selbst unter die Nase hält: beschlägt ihn das Leben noch?


In Wahrheit habe ich Stifter gelesen.


In Wahrheit habe ich auf Balkonen geraucht.


In Wahrheit habe ich auf dem Fahrrad gesessen.


In Wahrheit habe ich Windhunden zugesehen.

[Die Sehnsucht nach einem Leben, in dem sie einen Windhund hätte.]


Das Leben auf den Inseln.


Mein Bildschirmschoner ist jetzt von Kafka. Nicht mehr von Diesel.


Andrew Blakes Pornografien. Atmen, ein- und ausstülpen, puckern. Anemonen, Seegurken im Wasser, ein Wehen hin und her. Moderato plantabile.


"Ich setze meinen Fuß doch nicht auf eine Yacht, die kleiner als 60 Fuß ist."


"Stylish creep"


Sozialdemokratischer Justizminister, an den ich mich noch erinnere: Christian Broda und seine Idee einer gefängnislosen Gesellschaft.


Dass der Sozialismus den Leuten mittlerweile als eine viel verrücktere Religion erscheint als all die zweifellos noch verrückteren Religionen. Vielleicht ist das aber auch nur Realismus. Wunder von sich selbst, seinesgleichen erhoffen?


Das Erniedrigende an den Zuständen ist, dass sie einen permanent dazu nötigen, das Denken für so was von sinnlos zu halten.


Ich wäre so gerne ein öffentlicher Mensch. Aber das wäre etwas völlig anderes als über das Private öffentlich zu reden.


Frühstückfernsehen: "Der Unterschied von uns zu den anderen ist: Wir sagen es offen und ehrlich vor der Wahl."


Im Flugzeug nach Hamburg auf 5 B gesessen. Auf 5 A und 5 C saßen zwei Männer aus derselben Firma, zwischen denen mich der Quick-Check-In-Automat plaziert hatte. Irgendwann begannen sie, während ich die SZ und die FAZ las (zwei erbitterte Leserbriefe, in denen das Wort Mittelosteuropa gegeißelt wurde, das die FAZ statt Ostmitteleuropa verwandt hatte), sich an meinem Nacken vorbei darüber zu unterhalten, ob der Terminplan irgendeines Projektes, mit dem einer der beiden beschäftigt war, auch eingehalten werden konnte. Man war guter Hoffnung. Allerdings gab es (kleinere, lösbare) Probleme mit dem Budget. Das Programmierer-Unit stammte aus Polen, saß nun offensichtlich fern der Heimat und der Lieben in irgendeiner deutschen Stadt und programmierte schon seit einigen Monaten. Irgendwann mussten sie wieder zurück. Es gab aber kein ausreichendes Budget für Wocheendflüge. Sie mussten aber auch zurück, um die Steuergesetze nicht zu brechen. Ein paar Monate in der deutschen Provinz zu sitzen ist keine Dienstreise mehr. Wer aber sollte die dann anfallenden Steuern bezahlen? Die Programmierer konnten nicht, die Firma wollte nicht, sonst wäre das Budget über den Jordan. Man beschloss, die Sache den Anwälten zur Prüfung zu übergeben. Zwischendurch schnappte ich eine Summe auf. Sie war vierstellig. Mein Gott, dachte ich, wie popelig Kapitalismus geworden ist.


[Ohnehin altes Problem von mir. Dass ich mir den Kapitalismus immer noch als eine Veranstaltung ausmale, die Zastillionen bewegt statt Cent-Beträge für Klingteltöne, Brötchen, polnische Programmierer. Man stellt sich den Gegner gerne großzügig vor, aus irgendeinem Grund, um sich selbst nicht so kleinmütig zu fühlen bei der Kritik. Dabei ist er das nicht. Kapitalismus ist eine Veranstaltung wie eine Sudoku-Tabelle. Man schiebt in Tabellen-Zellen irgendwelche Summen hin und her, radiert wieder aus, wird ganz wuschig, wenn es nicht aufgeht.]


Trains and boats and planes are passing by.


Die Vorstellung, dass Tillmans ein Freund wäre.

"Ich habe am Sonntag fast geheult, als ich in der FAS sein Foto der Venus vor der Sonne gesehen habe."


Kunst nur noch danach beurteilen, ob derdie sie gemacht hat, ein/e Freun/in sein könnte, sollte.


Geschlechter nur noch im Bett.


Zwei, drei Passagen aus dem Kommunistischen Manifest, gleich wieder merken, wie elend mit dem Manifest verglichen alle Texte sind, die das Manifest zitieren.


Die Entstehung der Moral aus dem Verliebtsein. Was immer es ist, es soll dir nicht schlecht gehen dabei, meinetwegen.

Meine nie zu Ende geschriebene Dissertation über das Ethische des Mimetischen bei Adorno. Siehst einen Menschen an, kannst nicht mehr böse sein, siehst ein Tier an, kannst nicht mehr böse sein, siehst Flickrfotos an, siehst Weblogs an, streams of love. Social Software: Werkzeug, das es ermöglicht, so miteinander zu sein as if fallen in love. Tillmanfotos.


Stifter, dem die Selbstmörder durch die Texte laufen wie anderen Autoren Mensc hen, in die sie sich verlieben könnten.


Man sieht vor lauter Wald die Bäume nicht, an denen man sich erhängen könnte.


Die Großzügigkeit der Liebe bei Stifter (und seinen Zeitgenossen, of course): Wie schnell einer eine mit Liebesbeteuerungen überhäuft wird, der eine Blick, das eine Gespräch, das dazu genügt. Wann ist damit begonnen worden, das als Schwärmerei abzutun und dem Schwärmen mit dem Misstrauen zu antworten? Das kannst du jetzt nicht sagen, das kannst du jetzt noch nicht sagen, das kannst du nur zu einem einzigen Menschen sagen, das kannst du nicht zu oft zu einem Menschen sagen. Sonst verbraucht es sich.


Selbstverletzung durch Misstrauen.


Stadler: "Sie waren aus irgendwelchen, aus unerfindlichen Gründen gleichzeitig geboren worden."


Frühstücksraum, an einem Tisch am anderen Ende sitzt einer, der aussieht, wie Foucault auf den späten Fotos ausgesehen hat, zittert unaufhörlich beim Essen und Zeitungsseitenumschlagen, Parkinson oder irgendein anderer Nervenschaden, grandios daran: dass nichts, nicht der kleinste Krümel danebengeht, ein makellos heller Sommeranzug, wenn er schwarz zu tragen beginnt, hat er kapituliert.


Erinnerung daran, wie ich damals auf Gran Canaria gemeinsam mit dieser Zirkustruppe mein Frühstück genommen habe, die Tod Brownings "Freaks" als Theaterstück re-inszenierte, ein Haufen von Zwergen, Krüppeln, Verwachsenen und ich, Gott, was für einen Spaß wir an diesem Morgen hatten.


Gran Canaria, wo er gestorben ist, von seinen Freunden zum Sterben hingebracht, als sie wussten, dass es nun zu Ende ging, auf einer Luftmatratze liegend, in den Himmel schauend, im Wasser schaukelnd, festgehalten von ihnen, verhaucht. Immer noch hin und wieder der Gedanke: Dass es genau so sein müsste, das Sterben, in Wassern liegend, en commun, sich verschaukelnd, Styx.


Constant, Wolfgang Bauer: Zu viele Tote, way too much.


Patti Smith Anna Karina Joanna Preiss Jean Rhys Violette Leduc Veruschka von Lehndorff Sophie Coppola Sophie Calle


Einmal im Monat die Stadt wechseln.


(morgen mehr)





Man ist vielleicht ein wenig erleichtert, Graham Mason nicht gekannt zu haben, vielleicht aber auch enttäuscht. Der Nachruf auf ihn im Telegraph ist, in a way, mit einer Feder geschrieben, die in die Tinte reiner und inniger Liebe getaucht wurde. [via Slate, das diesen Text zu Unrecht für witzig hält.]

With BBC Television News he reported from the Northern Ireland troubles, and in 1975 took another year out to run a bar in Nicosia. It happened to coincide with civil war, and he and Marsh Dunbar were lucky to be evacuated by the RAF. From then until 1980 he worked for ITN. One day he was found asleep under his desk, drunk. It was something of a low point.

He was living with Marsh Dunbar in a flat in Berwick Street, Soho. A fire there sent them, fleeing bills, to a run-down council tower-block on the Isle of Dogs. The compensation was a view of a sweep of the Thames towards Greenwich. He worked while he still could managing Bobby Hunt's photographic library.

Graham Mason cooked Mediterranean food well, liked Piero della Francesca and Fidelio, choral evensong on the Third Programme and fireworks. After Marsh Dunbar's death in 2001, with almost all his friends dead, he sat imprisoned by emphysema in his flat, with a cylinder of oxygen by his armchair and bottles of white wine by his elbow, looking out over the Thames, still very angry.





Frühmorgens vor dem Computer, Frühstück (Tee, Zigaretten, Internet), in meinem Weblog schickt mich jemand, den ich nicht kenne, in einen alten Text in der Jungle World, Adalbert Stifter & Rainald Goetz, in meine Dankbarkeit läutet das Telefon, ich solle herunterkommen auf den Parkplatz vor dem Haus und mit auf den Markt, M. erzählt von der windstillen & deswegen spiegelglatten Alster, auf der sie gerade anderthalb Stunden lang gerudert hat, what a glorious day, she says, wann haben wir eigentlich damit begonnen, in unseren Konversationen so viel auf englisch zu sagen, und wann ich damit, so viel auf englisch zu denken, die Sprachen, die der Körper für einen aussucht, es muss der Körper sein, der das tut, auf dem Markt sagt jemand ich sag mal tschüss, wir kaufen Käse, Brot, Himbeeren, Kirschen, und sie zwei Arm voll Blumen, wir freuen uns über das unbebaute Grundstück gleich neben dem Markt und ich mich über meine Vorstellung, dass die Frau, der die Wiese gehört, es niemals über sich bringen wird, ihre Wildnis zu verkaufen, auf dem Heimweg fahren wir an dem Bungalow vorbei, den sie mir neulich im Internet gezeigt hat, weiße Quader, Mies van der Rohe-Style, der Volkspark liegt gleich um die Ecke, hier könnte man einen Hund haben, sage ich, der Saluki, von dem sie immer redet ("wenn du einmal tot bist, werde ich mir einen Saluki zulegen"), wieder im Auto spricht jemand im Radio über die Cowboy Junkies, über die Trinity Sessions und über die neue CD, ich sage, dass ich Margo Timmins immer schon sofort hätte heiraten können, der Art wegen, wie sie singt, wenn ich Margo Timmins höre, sage ich, möchte ich sofort wieder auswandern, in die amerikanische Leere hinein (die kanadische kenne ich ja nicht), eine zerfallende Farm haben, verschwinden, eine Helmut-Salzinger-Existenz, something like that.





Sie brachte mich dann doch zum Flughafen. "Ich dachte: wenn du abstürzst, ist dein letzter Gedanke vielleicht, dass ich dich nicht zum Flughafen gebracht habe."


"Ich hatte mal Haarausfall, da hat mir Hildegard von Bingen geholfen."


"But you are not Patrick Demarchelier."


Im Flugzeug K. getroffen. Sie erzählte, neulich wäre bei einem Meeting über mich gesprochen worden, jemand sagte, ich hätte "Kultstatus im Internet". Ach ja, sagte ich müde. "Und wo kann man das nachlesen?" Nichts öderes, als jemandem eine URL aufzuschreiben.


Jeden Morgen rauchend, Kaffee trinkend, die Emails aus der vergangenen Nacht lesend. Umzingelt von Handke, Hegel, Updike, Jock Sturges, dem Einzug der Gräser und Farne in den Garten. Schlechtes Gewissen, schlechtes Gewissen, du lebst ein falsches Leben. Jetzt, da ich es aufschreibe, die Beruhigung, dass ich auch völlig blind jedes Buch in diesem Raum wiederfände. Was könnte ein Blinder davon haben, dass er jedes Buch wiederfände?


Gebäude, denen man die Selbstmörder gleich mit ansieht.


Gestern morgens trafen wir uns auf dem Münchner Flughafen zum Frühstück, wir hatten einen Time-Slot von fünfzig Minuten. Sie erzählte von ihrer Fabriksbesichtigung in Italien. Die Belastbarkeit des Sofaleders werde ermittelt, indem man verschiedene Testflüssigkeiten über es kippe: Fernet, Kaffee, Coca Cola, Bier, Whisky, Martini. Ein Tee, ein Espresso, zwei Müdigkeiten, dann musste ich zum Flugzeug, ihr Flug ging erst eine dreiviertel Stunde später, in Hamburg wartete ich auf sie, so konnten wir an einem Vormittag gleich zweimal auf Flughäfen einander in die Arme fallen.





Beim Bordkartenvorzeigen spricht mich ein Junge, zwölf oder vierzehn, an: "Fliegst du auch nach München?", dann, als wir beide als erste ins Flugzeug steigen: "Wo sehe ich denn, wo ich sitzen muss?", offensichtlich sein erster unbegleiteter Flug. Gleich wieder die Erinnerung an den Kindheitstag, an dem mein Vater mich ins Kino ausführte und ich nach der Vorstellung auf der Straße meine Hand in die eines Fremden legte, der erst zwei, drei Sekunden später darüber erschrak, so spät, dass aus einem Irrtum schon eine Verlegenheit und die Möglichkeit einer Geschichte geworden war. Wie alt bin ich damals gewesen? Sechs, acht? Wie lange bin ich auf der Straße an der Hand meines Vaters gegangen - eine Berührung, die ich mir heute kaum noch vorstellen kann? (Und wann, aber das ist eine andere Geschichte, haben meine eigenen Kinder aufgehört, an meiner Hand zu laufen? Diese abgründigeren Stationen von Lebensgeschichte, Individuation...). Jedenfalls habe ich mich seit jenem Tag immer wieder gefragt, was geworden wäre, wenn der Mann vor dem Kino mich mitgenommen hätte und ich mit ihm gegangen wäre, in ein anderes Leben. Später, in der S-Bahn nach München, in der SZ Franziska Augsteins Porträt zum 75. Geburtstag Klaus Wagenbachs und darin die merkwürdige Wendung: "Es liegt ihm zuallererst in der Natur, die - was immer Genetiker sagen mögen - vom Elternhaus mitgeprägt wird."


Zum Aufwachen Espresso in einer Flughafen-Snack-Bar. Am Nebentisch zwei junge Männer, die beide einen Beckham-Bürzel tragen und auch sonst "völlig nachgemacht" aussehen (ohnehin müsste man einmal die Spielregeln und Spielregelverletzungen des Kopierens genauer untersuchen; das Affektive in den eigenen Reaktionen, von dem man nicht so genau weiß, wodurch es ausgelöst wird in der gnädigen Gleichgültigkeit, mit der man andere Menschen bloß als besetzte Orte im Geh- und Sichtfeld wahrnimmt und gleich wieder vergisst…). Der eine erzählt dem anderen ausführlich, was eine gewisse Birgit im Urlaub gemacht oder vielleicht auch nicht gemacht hat oder gemacht haben könnte, er weiß es nicht genau, er hat etwas gehört, Andeutungen, jemand hat etwas gesagt, aus dem er nicht schlau geworden ist, aber er war auch besoffen. Der andere, sachlicher: Es wird schon nichts gewesen sein. Der erste: Nicht im Bett, das nicht, aber sonst, irgendwas hat sie gemacht, da ist er sich sicher. Ganz plötzlich eine Sprungbildempfindung, wie sie mich öfter überkommen: Als spränge die vertraute Welt in einen Ort um, an dem man noch nie gewesen ist. Wie rätselhaft, dass Menschen darüber reden, dass Menschen andere Mensche irgendwo angefasst haben! Wie absurd, dass menschliche Körper Landkarten mit öffentlich betretbaren Zonen und No-Go-Areas sind! Die Verteilung von Berührungserlaubnissen und Zugangsprivilegien auf so einem Körper! Die Dramen, wenn ein Unbefugter irgendwo gewesen ist, wo er nicht hätte sein dürfen! Die Katastrophenkaskaden, die durch so eine Unbefugtheitsandeutung ausgelöst werden können! Merkwürdige Welt, in der eine Hand unter einem T-Shirt oder eine Knutscherei oder ein Händchenhalten oder eine Errregung so viel bedeuten können! (Und meine vollautomatische Parteinahme für Birgit; "ich kenne die doch gar nicht"; "weißt du doch nicht, was die beiden für eine Geschichte haben"; "ist doch nur ein Eigenname in der Unterhaltung zweier Fremder"…)


In der S-Bahn sitze ich mit drei Türkinnen, die Kopftücher tragen. Und High Heels, Jackie O.-Sonnenbrillen, schwere Uhren, die Kopftücher sehen aus wie von Paul Smith. Und schon kommt mir eine Wendung wie "Türkinnen mit Kopftuch" so albern vor wie etwa "Deutsche in Jeans".


Am Abend, ehe ich nach München flog, war ich bei der ersten Hamburger Kuschelparty. Kuschelparties, in New York erfunden, sind Veranstaltungen, bei denen Fremde sich treffen, um einander in den Arm zu nehmen, zu streicheln, zu liebkosen, aneinander zu drücken. Die Spielregeln sind rigide kodifiziert wie bei einem Franchising-System: Die Klamotten bleiben an, jeder kann jederzeit Nein sagen, ehe man jemanden berührt, muss man ihn fragen, ob ihm das auch recht sei, Sex ist verboten, Erregung aber erlaubt ("lasst es fließen, Energie ist gut"). Weil einem so ein Regelwerk aber nicht wirklich dazu ermuntert, sich mit Menschen, die man noch nie gesehen hat und von denen man die meisten auf der Straße auch jederzeit übersehen würde, auf eine Matratze zu legen, um mit ihnen Zärtlichkeiten auszutauschen, wird das Neinsagen, das Berührungsbitten, das Aufeinanderzugehen und das Kuscheln erst einmal anderthalb Stunden lang spielerisch eingeübt, so lange, bis niemand mehr ein weiteres Spiel aushält. Und so lag ich, als es ernst wurde, zuerst mit zwei Frauen, dann nur noch mit einer herum, umzingelt von 20 anderen, die auch miteinander herumlagen, und hatte eine im Arm und ließ mich von einer im Arm haben, mit der ich davor nicht mehr als zwei, drei Sätze geredet hatte, seltsam, dachte ich, wie sehr Handlungen, eine Praxis die Gefühle modellieren können, denn natürlich war ich so etwas wie "verliebt", man kann das schwer vermeiden (nicht, dass ich etwas vermeiden hätte wollen), wenn man an Haaren riecht, in Augen hineinschaut, jemanden sich wohlig räkeln fühlt und mitbekommt, wie ein Atem sich verändert. Man lacht und kichert ein wenig miteinander, sagt einander, wie schön das gerade ist, nicht bloß, weil es unhöflich wäre, einander gar nichts zu sagen, sondern weil es wirklich schön ist, man verhandelt ein wenig miteinander, ob es denn für mich okay wäre, wenn sie sich fallen ließe, fragt sie, und ich muss lachen und sage, sie sollte jetzt um Gotteswillen keine Gerechtigkeitserwägungen anstellen, sie sagt, dass sie mit Männern aus Wien wohl Glück hätte, und was man eben sonst so redet in solchen Situationen (als ob man sonst solche Situationen erlebte), angenehm Unwichtiges, und irgendwann sind einem auch die Körperzonierungsregeln gleichgültig und umstreichelt man nicht mehr weiträumig die privater codierten Gegenden, mag schon sein, dass das jetzt nicht Sex ist, aber Kuscheln ist es vermutlich auch nicht wirklich, schon klar, dass Kuscheln so ziemlich das beste Wort ist, das man sich für solche Parties ausdenken konnte, weil es einen mit seiner militanten Harmlosigkeit gar nicht auf den Gedanken kommen lässt, das wäre etwas anderes als etwas harmlos Regressives. Dann wird das Licht wieder hochgedimmt, man braucht ein wenig, bis man sich wieder in der Welt der Körperdistanzen justiert hat, jeder gibt der Runde durch, wie es gewesen ist für ihn, man verabschiedet sich freundlich voneinander, und das war es dann. Am Heimweg traf ich noch J., die einzige, die ich gekannt hatte, ich teilte mir mit ihr einen Fisch, sie fragte, wie es mir gefallen hätte, es war gut, sagte ich, ob ich noch einmal käme, wollte sie wissen, nein, sagte ich, es käme mir ein wenig seltsam vor, in einer Geschichte nicht am Anfang anzufangen, dafür dann aber gleich wieder aufhören zu müssen und dass mir zum Beispiel so etwas wie eine Affäre "logischer" erschiene, aber das könne man doch, sagte sie, kein Problem, doch, sagte ich, willst du denn eine Affäre haben, von der du dir selbst oder deinen Enkeln erzählen müsstest, sie hätte auf einer Kuschelparty begonnen, & so mussten wir beide lachen.


Als ich das Hotel reserviert hatte - das Olympic im Glockenbachviertel, in dem ich seit 18 Jahren schlafe, wenn ich in der Stadt bin -, wusste ich nicht, woher auch, dass in München just an diesem Samstag der Christopher Street Day begangen werden sollte. Und so kamen mir auf dem Weg vom Sendlinger Tor in die Hans-Sachs-Straße unvermutet Männer in Kettenhemden, aufwendig aufgerüschte Transen und einer im weißen Engelskostüm mit federzarten Engelsflügeln entgegen, auf einem Stuhl vor dem Ivan, eine Hausnummer vor dem Olympic, saß ein Dicker mit nacktem verpelzten Oberkörper und glücklich alkoholrotem Gesicht und trug eine Plastik-Prinzessinnenkrone. Wenn Heten sich verkleiden und es krachen lassen, kommt meistens nur so etwas wie der VW-Betriebsrat heraus.


Gekauft: DeLillo, Players. Lethem, The Disappointment Artist. Surowiecki, Wisdom of Crowds. Für M. den Jane Austen's Guide to Dating. (Seltsam, dass wir alles miteinander teilen außer die Bücher, die wir lesen. Jane Austen, Edith Wharton, Nicholson Baker, Goethe, Shakespeare: bis auf das Nötigste kaum je gelesen, so wenig wie sie Updike, Faulkner, Handke, Proust, Fichte. Ihre Liebe zum 18. Jahrhundert oder davor, meine Liebe zum 19. und 20., Konversation vs. Psychologie, Zivilisation vs. Selbstzerfleischung, Garten vs. Stadt, Erwachsene vs. Adoloszente, irgendwo entlang dieser Linien. Und diese Überraschungen über die Schnittmengen, DeLillo, Kleist, Joyce.)


Abends Wohnungseinweihungsparty bei Jochen. 80, 100 Leute. Die Zentren: Balkon (Zigaretten), Küche (Alkohol), Esszimmer (ein Buffet für ungefähr 200 Leute, auf dem Weg hatte ich J. getroffen, der kurz vor Ladenschluss noch in den Supermarkt hetzte, um Leberkäse und Madeleines zu kaufen, weil der Thai-Caterer, bei dem sie bestellt hatten, "nur für Asiaten" geliefert hatte, das reiche nicht einmal zehn Minuten. Es stellte sich natürlich heraus, dass man nicht nur eine Party lang, sondern eine Woche davon hätte leben können. Als ich M. davon erzähle, lacht sie, weil ich genauso bin und jedesmal für zwölf koche, wenn vier kommen: "Was ist es mit euch Männern, genetische Großzügigkeit?" - "Die Höhle muss voll sein, sonst nagt die Angst vor dem Mangel. Man mag nicht um vier Uhr nachts betrunken zur Tanke."). Parties sind dann gut, wenn in der Küche so viele Leute sind, dass man nicht mehr zum Wein kommt. Das Wasserstellen-, Oasen-Prinzip von Community Building. Leute erzählen von ihren Berufen oder über die Berufe anderer Menschen. Die DJesse macht bei Focus Titelbilder: gut käme alles an, was mit Ich zu tun hat (Meine Intuition, mein Urlaub, meine Steuerersparnis usw.), die iMagazine-Generation, denke ich sofort und finde es völlig eingängig. Vor ein paar Wochen wäre ihr zum ersten Mal nichts mehr eingefallen, das habe sie tödlich erschrocken. Als ich frage, wie lange das gedauert habe, sagt sie: "eine halbe Stunde lang". Immer mehr Berufe, bei denen ich fünfzehn, zwanzig Minuten nachfragen muss, um einigermaßen zu verstehen, was die Leute tun, manchmal das Gefühl, dass auch die Leute es selbst nicht wissen (oder auch nur wissen können), Schnittstellen in Zusammenhängen, die viel zu groß sind, als dass man sie noch überblicken könnte. Der Wort-Markt. "Sitzt da und analysiert, welche Wörter er kaufen muss, damit seine Arbitrage gut ist." - "Einmal die Woche fliege ich nach London, dort sitzen die Anwälte." Auf dem Balkon Weblogger, rauchend, irgendwie vage cool, "ihr seid ja so ein komischer Club". Der Club, der alles aufschrieb. Vielleicht funktionieren Weblogs besser als Journalismus oder Literatur, weil Journalismus und Literatur eben nicht alles aufschreiben können, die Arbeit der Ent-Dichtung. Später werden wir sagen können, dass Anfang des 21. Jahrhunderts Leute darauf gekommen sind, dass man vor zu vielen Informationen und zu vielen Unordnungen keine Angst haben musste. Auf der Party viele Kinder, eine Etage tiefer, in Kniehöhe der Erwachsenen, es muss sein, wie durch einen Wald zu gehen, sofort der Wunsch, sich zwischen Riesen bewegen zu können, denen man nur bis ans Knie geht, wie die Welt dann wohl wäre. Stefan beruhigt seine Tochter, indem er sich mit ihr unter die Slideshow mit den Flickr-Squared-Circle-Bildern setzt, die Jochens Laptop an die Decke loopt; das hell auflachende Glück der Tochter, wenn sie die Gegenstände auf den Fotos erkennt, ein Nutelladosen-Verschluss, ein Duschkopf, ein Kanaldeckel, Wörter, die sich mit Bildern von Gegenständen verstöpseln, schon bist du glücklich wie nur was. Fabian Mohr kennengelernt, als ich ihn sah und seine Stimme hörte, keine Sekunde lang erstaunt gewesen, gleich gedacht, er sieht so aus und redet so, dass es "zu seinen Fotos passt", und ich möchte endlich einmal einen gescheiten Text darüber lesen, wie ein Autorenkörper und eine Autorenstimme dann in Autorentexten und Autorenfotos eingeht ("ohne dass man es wirklich merkt, aber irgendwie doch"), ihn sofort innig gemocht, die lost-brother-Empfindung, die ich ja auch bei Malorama und Hack sofort gehabt habe, sehr seltsam. Gegen halb zwei ins Hotel, in der S-Bahn erzählt eine, die auch auf der Party war und deren Namen ich vergessen habe (shame on me), vom langsamen Sterben ihres Hundes nach siebzehn Jahren gemeinsamen Lebens, zum Schluss habe er nachts alle zwei Stunden hinausgemusst. Wie immer, wenn eine Geschichte gut ist, gleich synchron begonnen, mir den Roman auszudenken, in dem eine ein Jahr lang jede Nacht alle zwei Stunden mit ihrem sterbenden Hund auf die Straße hinausgeht und ihm zusieht dabei, wie er sich quält, und immer verzweifelter darüber ist, dass er bald tot sein wird und ihn nicht einschläfern lässt, weil man niemanden einschläfern lässt, mit dem man siebzehn Jahre gelebt hat, und ihr ganzes Leben sich um die Pflicht herum organisiert, alle zwei Stunden mit einem sterbenden Lebewesen hinauszumüssen. Jetzt, erzählt sie, kann ich nicht mehr so gut schlafen, weil in meinem Zimmer niemand mehr auf dem Boden vor meinem Bett liegt und schnarcht, ich müsste mir schnarchende Männer suchen und sie vor mein Bett legen, damit ich wieder gut schlafen kann. Im Hotelzimmer noch ein wenig den NTV-Nachrichtentickerband-Meldungen hinterhergeguckt (die abzuzählenden Schafe der Gegenwart: Tote in London, Etappensieger bei Tour de France usw.), Westerwelle rät Merkel von einem TV-Duell mit Schröder ab, weil der die Medien meisterlich beherrsche. Bitch!


Sonntag vormittags im Platzregen zum Stadtmuseum, zur Ausstellung mit den Fotos von Regina Relang, Müncher Modefotografin, ab 1932 in Paris, bei Kriegsausbruch wieder in Deutschland, nach Kriegsende vor allem für Madame tätig. Interessant: wie auf ihren Foto oft ein Duell Geschichte vs. Style ausgetragen wird. Vorne die Märchen, im Hintergrund die Gespenstergeschichten. Frauen in Haute Couture vor dem Geröll des zerbombten München, manchmal sieht man Hintergrund Passanten in ärmlichen Nachkriegsanzügen, einmal steht das Modell neben einem Versuchs-Atomreaktor. Während der Nazi-Zeit, in Nazi-Illustrierten: Eine Reise-/Mode-Reportage über die Trachten kroatischer Frauen, eine andere über spanische Franco-Falangistinnen. Das waren die Leute, die die Serben und die Internationalen Brigaden massakriert haben, aber fesch ausgesehen haben sie dabei. Seltsam, so durch die Welt stapfen zu können, mit einem Sensorium für Faltenwürfe und Silhouetten, alles andere aus der Wahrnehmungs-Wiedergabe löschend, der Réfus im schönen Bild, in dem die Geschichte völlig stillgelegt, nur noch Deko ist. Mit einigen dieser Leute habe ich in den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren ja hin und wieder gearbeitet, mein Erstaunen immer wieder über die Tribes, die in der Sahara, in den GUS-Ländern ein paar Tage lang Mode fotografierten, in zehn, zwanzig Kilometern Entfernung Geschützlärm, in Zelten oder auf dem Boden irgendwelcher kärglichen Unterkünfte schlafend, von lokaler Eintopfpampe und von mitgebrachtem Mineralwasser lebend, es immer schaffend, überall hinzukommen, wo sie hinkommen wollten, weil sie sich dort eine Landschaft, ein Licht, eine Foto-Stimmung schön vorgestellt hatten und schlafwandlerisch sicher das immer auch unbeschadet herunterspulend, ohne dass ihnen irgendetwas widerfahren wäre; ihr Erstaunen über mein Erstaunen, wenn ich mir nicht vorstellen konnte, warum man "so etwas macht", aber das Licht! und die Menschen dort! wie schön! Und sie meinten das immer ganz tief empfunden ernst.

Auf derselben Etage des Stadtmuseums eine Ausstellung zum Ende des zweiten Weltkriegs in München. Die Exponate: von Zeitzeugen zur Verfügung gestellte, hochprivate Gegenstände, auf Texttafeln wird erzählt, welche Erinnerungen sich in den Objekten verkapselt hat. Eine wollene kurze Jungshose, blitzweiß, Lederhosen nachempfunden, die Mutter der Erzählerin hat sie für deren Bruder gestrickt, eines Tages hat er entsetzliche Bauchschmerzen bekommen, der aufgesuchte Arzt wollte ihn nur gegen Lebensmittel behandeln, als er schließlich - zu Fuß - im Krankenhaus eingeliefert war, starb er, bei den Sachen des Toten auch die gestrickte Lederhose. In einer Vitrine: Ein winziges Stück Brot, fast schon zu Stein geworden, aus der Ration eines KZ-Gefangenen, der das KZ dann doch mit knapper Not überlebt und seinem Kind das Erinnerungs-Brot vererbt hat. Historische Auskultation, der Versuch, den Gegenständen ihre Geschichte abzuhören, abgründige Vorstellung, wieviel Erzählung an den winzigsten Objekten hängen kann, und wie wenig man ihnen das ansehen kann.


Nachmittags bei Beatrix und Jochen, schön mäandernde Gespräche, Kuchen, Kaffee, Kinder, Wolkengespräche, begrifflicher Modellbau.


Abends mit Joule und Marlene im Wirtshaus in der Au, ah! the girls!, wie sehr ich sie vermisst habe, Schweinsbraten, Knödel, Dirndl-Figuren, diese großartige Resistenz der bayerischen Welt, die dazu führt, dass in den Knödel-Wirtshäusern die Musik dann eben von Outkast kommt. Als wir bezahlen, sind es 18 Himbeergeist gewesen. Nachts träume ich von einer Navigation auf einer Flickr-ähnlichen Seite, eine Schlagwort-Liste, in der die libidinös aufgeladeneren Tags größer erscheinen, im Traum fahre ich mit dem Finger, der sich dabei in einen Browser-Finger verwandelt, über die Wörter, als Kind habe ich manchmal in die Bücher hineingefasst und die Bilder und hin und wieder auch die Wörter gestreichelt, jetzt im Internet ist diese Kinderfantasie verwirklicht, hinter jedem Wort kann man in eine andere Wortlandschaft stürzen.


Dieses mich manchmal ratlos machende glückliche Leben, das ich lebe.


Montag vormittags Geschäftsgespräche. Danach im Haus der Kunst Paul Mc Carthy's "Lala Land" und Robert Adams' "Turning Back". Im Erdgeschoss höhnische Territorialeroberungsgeschichten, ein Fort mit Planwagen, Piratenschiffe, Pornografie, it's about Landnahmen. In einem Raum liegt an eine Pumpe angeschlossen ein mechanical pig, die lebensgroße Nachbildung einer Sau, weiche pinke Kunststoffhaut, das Kunstschwein atmet Kunstluft ein und aus und öffnet und schließt dabei Augen und den Mund und röchelt ein wenig, vielleicht ist es die Übermüdung, vielleicht der Restalkohol, vielleicht bin es aber auch nur ich, plötzlich merke ich, wie ich dabei bin, in Tränen auszubrechen, Empathieüberflutung. Es wird nicht besser in der ersten Etage bei Robert Adams' Landschaftsfotografien aus dem immer noch fast nicht besiedelten amerikanischen Westen, karge Landschaften, containerhafte Häuser, die schon beim Einzug der Bewohner wieder am Kaputtgehen sind, die Pazifikküste, dahinter nichts mehr, wohin man go west könnte, harte wächserne Pflanzen, Obstbaumhaine, die einfach so in die Weite hineinwachsen. Du lebst ein falsches Leben! loopt es in mir, du lebst ein falsches Leben!, es ist moralisch gemeint, als ginge von den Silvergelatineprints ein moralischer Imperativ aus, Ethik der Abbildung, Transfiguration of the common place. Dass Aura durch die Reproduzierbarkeit verloren geht, habe ich Benjamin nie geglaubt. Seltsam übrigens, dass dieses Return-of-the-heroic-Malerpose, die jetzt überall abgefeiert wird, diese Aura nicht hat, Fuck-You-Regression, öde, born to be expressionistisches Kunsthandwerk. Vielleicht steckt das Auratische, Ethische in der Idee, im Gedanken, in der Konzeption, der modesten Abbildung dessen, was ist. Kunst als platonic platoon.


Im Flugzeug das Playboy-Bordexemplar gelesen. Die Pin-ups studiert und gedacht, wie verzweifelt das ist. Die Rüschenstrumpfbänder, die Spitzen, die airgebrushten Landestreifen, die Weichzeichner-Brüste, das big hair, die Mittelschicht-Boudoir-Bettwäsche, die pastellenen Vorhänge, die Geschrubbtheit, man meint, das KölnischWasser zu riechen, das in der Location versprüht worden ist. Was für ein Aufwand, damit so ein Playboy-Leser keinen Schiss mehr haben muss vor der Frau, in die er sich hineinträumen soll.


Abends sitzen M. und ich am Altonaer Balkon, schauen in die Elbe, wieder ein Paar, heruntergedimmte Gespräche, the good life.





kindheitsmüdigkeitserinnerungen auf dem weg zum flughafen: wie es sich anfühlte, morgens um fünf oder sechs auf die rückbank eines autos gepackt zu werden und acht, zehn stunden später am meer wieder aufzuwachen. wie es sich zwölf jahre lang anfühlte, jeden morgen um acht uhr wo sein zu müssen.

"aber ich habe mich davon nicht brechen lassen."

"ich bin journalist geworden, nur um nicht früh aufstehen zu müssen."

der leserbrief vergangene woche in der hamburger morgenpost, in dem jemand (meiner erinnerung nach "ein mann, was denn sonst?") seine wut über den einfall deponierte, die schulen erst um neun uhr morgens beginnen zu lassen: wir könnten es uns ja leisten, wir in deutschland. währenddessen aber steht der chinese noch früher auf und tunkt uns noch weiter ein, wir werden schon sehen, was wir davon haben, doch wenn wir es endlich sehen, ist es schon längst zu spät. [die globalisierung als gelegenheit, den inneren faschistischen cockerspaniel gegen den kuschelstaat loszuschicken, auf die verweichlichten leute, die immer noch nicht begriffen haben, was die stunde geschlagen hat. & jedes mal fällt mir an den wutleserbriefschreibern auf: zu welcher kaltbitternis sie sich sprachlich feinkalibrieren, "wir haben es ja", ihre lippenspannung davon, zusehen zu müssen, wie andere angeblich ihren spaß haben (wobei der spaß oft nur darin besteht, dass es ihnen immer noch nicht elend genug geht, um die bitternis des verweichlichungskontrolleurs in empathie umschlagen zu lassen). man kennt das noch aus der diskothek, dort gab es auch immer die zwei, drei verbitterten spaßbeobachter, die sich, jeder für sich, mit ihren chinin-gesichtern, am dancefloorrand postiert hatten und dabei zusahen, wie die auf dem dancefloor einander antanzten, einander an die körper gingen und in irgendwelche geschichten hineintrieben. "fast schien es einem, sie wären nur gekommen, um uns zu hassen." ["und wie wir, wenn wir sie überhaupt bemerkten, gleich ungehalten wurden, weil sie uns die stimmung verdarben, obwohl sie doch nichts anderes taten, als muffig da zu stehen."] & wie sie witterten, wir würden später [wenn sie schon wieder zu hause waren & ihre reden an die menschheit hielten, weil man den schauhass doch nicht länger als zwei, drei stunden durchhält] schönen casual sex miteinander haben, oder jedenfalls dachten, wir könnten später miteinander schönen casual sex oder etwas noch schöneres haben, denn es ist ja die möglichkeit, die den faschistischen cockerspaniel anschlagen lässt, nicht erst das eintreten der wirklichkeit]

[& jetzt erst, in meiner müden unkonzentriertheit, denn auch heute bin ich zu früh aufgestanden und habe ich zu wenig geschlafen, jetzt erst fällt mir auf, dass die kritik an der pop-literatur wahrscheinlich oft genug das ressentiment des verächtlich am dancefloorrand stehenden vergnügungs-musterers gewesen ist, dem nicht eingehen wollte, dass man mit einer schönen oberflächlichen casual literatur so gut durchkommen kann, während anderswo [& früher, in den heroischen epochen] die autoren gründlich schaffen müssen, & gleich hat der popliteraturkritiker noch einen leserbrief gegen kracht geschrieben und dessen uncodiertes vergnügen verachtet. vielleicht sind die zeitungen nur dazu da, damit journalisten ihre leserbriefe abgedruckt bekommen.]

jedenfalls saßen wir punkt 6:30 im flugzeug nach wien, einfach so, weil sie sich zum geburtstag gewunschen hatte, wieder einmal josef hader zu sehen, nachdem ihr ein josefhadersatz eingefallen war, kein besonders guter satz, wenn man mich fragt, aber da hatte ich schon die flugtickets und das hotel bestellt und versucht, haderkarten zu bekommen, was nach einer woche auch funktionierte, weil anko so nett war, für uns einen anruf zu tätigen, danke anko,

[& man kann so einen satz gar nicht mehr hinschreiben, weil in einem sofort eine danke-anke-endlosschleife in heavy rotation zu rotieren beginnt und einen noch mürber macht, "dass sie es immer wieder schaffen, einen mit ihren blöden sätzen zu penetrieren, die man ein ganzes leben lang nicht mehr loswerden wird", & jetzt stell dir vor, dann bist du 70 und hast einen kurzzeitgedächtnisschaden, aber das langzeitgedächtnis funktioniert immer noch prächtig, und du quälst deine drittweltpflegerin damit, dass du jedesmal, wenn sie dir deinen hintern abwischt, danke anke brüllst, und sie geht nach hause nach ihrer alzheimerpatientenhinternabwischschicht und will alles vergessen, & an diesem abend ganz besonders, weil sie ihre freundin sechs wochen lang nicht gesehen hat und einen schönen abend mit ihr verbringen will, aber gerade als ihre freundin ihr den hüftknochen streichelt, wird ihr körper ein granitmassiv statt ein nervengeflecht und ihrem kopf ist eine ewige danke-anke-echoendlosschleife losgegangen & in sich hat sie das bild dieses alzheimerpatienten, der seine körperfunktionen nicht mehr unter kontrolle hat und jedesmal, wenn sie sich um ihn kümmert, und wie mürbe es sie macht, sich jedesmal um ihn kümmern zu müssen, danke anke brüllt (und dieser danke anke brüllende patient bin einmal ich gewesen, ein junger aufstrebender weblogautor), & sie wird starr und stein und bemerkt, so sartre-nausée-mäßig, wie klebrig die existenz ist, und ihre freundin merkt es jetzt auch und es ist vielleicht immer schon ein problem zwischen den beiden gewesen, dass die eine sich nie so hat gehen und fallen und einlassen können, wie sie es nach den vorstellungen der anderen hätte tun sollen, aber nach sechs wochen trennung, in denen die freundin am meer gewesen ist und alles ganz schaumkronenleicht gewesen ist, so dass sie sich wieder freuen konnte auf sie und neuen mut geschöpft hat, war das eine steinstarre zu viel, und dieser riss, den es schon gab zwischen den beiden, ist nun endgültig durchgerissen, und das ist dann gewesen mit dem reconnaissance fuck nach sechs wochen,

& wie mürbe so eine vorstellung macht, weil du weißt ja, wie leicht alles, was du dir ausdenkst, eine wirklichkeit werden kann, das ist auch so eine ekelkonstante, dass jede fantasie sich über kurz oder lang fangzähne wachsen lässt und sich eines tages in irgendeiner gurgel verbeißt, wirst schon sehen, eines tages wirst du schon noch sehen,]

sonntags um acht waren wir in wien, und das erste gespräch, das wir dort nicht untereinander geführt haben, war mit diesem deutschen ehepaar, das von uns wissen wollte, wo man denn die tickets für den flughafen-zu-und-wegbringer-zug entwerten müsse, & ich wusste es auch nicht & sagte, es würde schon jemand kommen und falls nicht, wäre es ja auch egal, aber das beruhigte sie kein bisschen, sonntag morgens um acht in einem fremden habitat unentwertet durch die gegend zu fahren & weißt nicht, wie die ordnung geht, & wurden nervös, als würden sie übel bestraft werden & redeten untereinander geschlagene zehn minuten lang, während der zug schon anfuhr, was sie denn nun tun sollten, bis endlich die schaffnerin kam & ihre tickets ansah & sie darauf aufmerksam machte, dass sie im falschen zug saßen & ich gleich wieder dachte, dass mich das wirklich nicht überraschte, zuerst nervös wie sonstwas wegen ihrer tickets, aber dann schnurstracks in den falschen zug steigen. mein eigener ekeliger hochmut gleich wieder, aber gut, ich war ja müde, 4:30 aufgestanden, um eine stunde vor dem abflug anwesend zu sein & all die nächte zuvor auch kaum etwas geschlafen wegen meiner entzündung & meiner schwellung, "groß wie hessen", die an diesem tag glücklicherweise nur noch groß wie das saarland war. manchmal ist man regelrecht dankbar für so etwas wie die erfindung des penicillins, & wie bescheuert ist das denn: für eine episode aus der geschichte der pharmakologie dankbar zu sein, wahrscheinlich geht patriotismus genauso, du wirst in deiner kindheit mit pumpernickel gefüttert oder mit mannerschnitten, und wenn dir ein vierteljahrhundert später ein pumpernickelgeschmack unterkommt oder eine altrosa mannerschnittenpackung, denkst du vollautomatisch: ah! deutschland! oder ah! österreich! [dieses genre der heimatgefühlumfragen, bei denen die befragten kulturschaffenden immerzu erzählen, dass sie weltbürger sind, aber diese warmen gefühle, wenn ihnen mitten in brooklyn oder in der wüste gobi irgendwelche heimatlichen madeleines unterkommen]

& kurz nach zehn, nachdem wir unsere taschen in der beletage hollmann deponiert hatten, saßen wir endlich im prückel & bestellten das erweiterte frühstück, am nebentisch eine frau, die sonntags um halb zehn schon einen eisbecher verdrückte & vor jedem löffel "wie dankbar" in den eisbecher hineinschaute, als würde das eis sie von innen verwöhnen, das hasswort nummer eins in meiner hasswortkompilationsliste, & gegenüber saß ein korpulenter herr und las le monde & gleich dachte ich wieder, das ist ja ein tolles foto und nahm meine kamera und fotografierte ihn, & das ist auch so etwas ekeliges, dass man fotos macht, von denen man sich einbildet, sie hätten irgendetwas lustiges, auch wenn man auf den fotos nur einen dicken mann sieht, der eine zeitung liest, beim fotografieren fällt man sich noch weniger als sonst in den arm, jedenfalls ich nicht, & du kannst immer noch sagen: so ein tolles licht & so eine tolle komposition & so ein toller kontrast & so eine tolle typik, weil weißt eh: wien und kaffeehaus und korpulenz und zeitungsleserversunkenheit & so ein wenig altmodisches möbiliar & so eine ganz bestimmte zauberhafte stimmung & dann war da noch diese achtköpfige familie, die sich für ihr prückel-sonntagsfrühstück regegelrecht aufgemascherlt hatte, die töchter in gestärkte sommerkleider gesteckt und die frauen trugen perlen, erste bezirk-bourgeoisie, dachte ich gleich ganz warm, als der warme singsang herüberwehte, & wie hast du das gerade genannt, fragte sie & aufgemascherlt sagte ich, habe ich das denn noch nie in deiner gegenwart verwendet & sie sagte, nein & wie immer gleich wörter zurückkommen, wenn ich in wien bin und wie ich sie schon genau in der sekunde, in der sie zurückgekommen sind, retrospektiv vermisse und mich ein paar augenblicke lang frage, wie ich es überhaupt ohne ein wort wie aufmascherln aushalten habe können, my own private mannerschnitten, wie dumm von mir & wie wir dann sprachen, ob das wort aufbrezeln daher käme, dass das dekolletee einer aufgebrezelten frau von vorne oben gesehen angesehen brezelförmig sei oder ob aufbrezeln abstrakter und eine anspielung auf das ornamentale sei & an einem anderen tisch das sonntagsmorgenliebespaar & wie ihr gesicht leuchtete & wie sie alle zwei, drei minuten sein gesicht berührte (seines sah ich ja nicht, er saß mit dem rücken zu mir) & ihre handbewegungen & wie ich beim hinschauen gleich ein wenig sauer auf ihn geworden bin, völlig überzeugt davon, dass er ihrer nicht würdig wäre, einer frau, deren gesicht so sehr leuchtete

& im mumok grandioserweise [wir hatten uns ja nicht vorbereitet, lass uns einfach im falter nachsehen, was läuft] eine john baldessari-retrospektive, mein seltsamer und seltsamerweise immer größer ("verzweifelter") werdende hunger nach kunst (wie in "bildender kunst") (& gleich disclaimerhaft darauf erpicht, hier festzustellen, dass dieser hunger schon nagte, lange ehe die bildende kunst das neue hippe heiße ding für die illies-baby-boomer-leute geworden ist, die das eben jetzt brauchen, weil ihnen nacheinander der pop und die klamotten und die möbel langweilig geworden sind, es ist ein elendes baby-boomer-leben, irgendwann hat man alle platten und ist zu alt für das klamottengestenze und die wohnung ist schon eingerichtet, also verlegt man sich auf die kunst, aber etwas wie monopol ist dann auch nur ein baby-boomer-leben-verlängerungsinstrument mit albernen wichtigkeitslisten und albernen moritz-von-uslar-wir-lassen-es-krachen-petitessen und sammler-porträts und diesem ganzen immergleichdreck, & saatchi&saatchi-kunst). baldessari dagegen, wie immer, wenn mich etwas anspricht, etwas vernünftiges & helles & nüchternes & seine eigenen bedingungen aufschlüsselndes, & ohnehin habe ich dieses billige witzeln gegen das konzeptuelle nie verstanden, alles andere kannst du noch viel leichter bekommen, diese billige minimalistenerhabenheit beispielsweise und diesen billigen vitalistischen macker-expressionismus, aber wenn baldessari vor einer kamera auf und abgeht und manchmal aus dem kader hinaus und dann wieder halb hineingeht in den kader und dabei die ganze zeit i make art loopt, fast hospitalistisch, the joy of repetion, dann möchte ich auf der stelle vor dankbarkeit und begeisterung losschreien [ein downer, diese formulierung, das weiß ich schon selbst, aber vielleicht ist es, denke ich, eine kleinmütigkeit, die begeisterung über das einrasten von kognition von seinem körper anders behandeln zu lassen als einen freistoß in die linke obere kreuzecke]

& danach ein wenig lustige kleinkunst in den seitentrakten des museumsquartiers, autorennbahnen und autorennbahndisclaimer, & ein wenig tafelspitz mit kernöl & auf dem rückweg in die beletage hollmann noch ein zanoni-eis & endlich im bett gelegen & in diesem seitenblicke-magazin gelesen, was für ein mist, come on, gimme a break

& abends im palmenhaus & wie sie mich in wien jedes mal behandelt, als würde die stadt mir höchstpersönlich gehören und ich sie gewissermaßen durch immer noch ein zimmer meiner wohnung führen, als könnte ich etwas dafür & redet von ihrem namenlosen entzücken, wenn sie mir dabei zusieht, wie ich in wien bin, als ob ich in wien tatsächlich anders wäre, & tatsächlich sagt sie: "bist du ja auch"

& danach ins kino, kung fu hustle, & hinterher noch wein am naschmarkt. "namenloses entzücken". paartum: wie gerne ich das noch verstehen würde.

& montags bei sterngasse 4 & im adidas store [der letzte schuh von muhamad ali, ehe er ins gefängnis musste] & helmut lang & im steffl-basement & was für eine schande, dass in einem halben jahr es dann gewesen sein wird mit helmut lang [& die schau, die ich damals in paris gesehen habe mit elfie semotan & all den anderen aus seinem tribe & wie man das immer sofort merkt, wenn jemand klamotten macht für, ich weiß ja auch nicht, tomboys & nüchtern intelligente menschen & wie es sofort immer nicht gestimmt hat, wenn irgendsoeine dumpfbacke helmut-lang-sachen getragen hat, weil sie gelesen hatte, dass man das jetzt tut oder weil sie die ellbogenschlitze sexy fand, als ob es darum gegangen wäre] & auf dem weg zum museumsquartier, wo wir meinen bruder trafen, an einem plakat mit cordula reyer vorbeigegangen, and still, after all these years & nach dem essen mit meinem bruder zu park in der mondscheingasse, & wie groß war das denn, fast alle edgy fashion designer in einem einzigen laden gesammelt, sehr idiosynkratisch & wie jedesmal, wenn ich den raf simons-schmuck sehe, ein paar minuten darüber nachgedacht, ob ich mir nicht doch so einen punkismus leisten sollte & es wie jedes mal dann doch gelassen

& abends bei hader, seltsames stück, das er da aufführte, so outriert plötzlich & sie sagte: "ich hasse es, wenn einer eine frau spielen will und seine stimme so hochquetscht" & zwischendurch als er dann aber mit dieser ganz schäbigen fistelstimme ein mozart-lied sang in einer russennuttenrolle, ging es dann doch wieder [& sowieso meine seltsame rührung, wenn eine männerkörpermasse mit hoher stimme lieder singt, die bierbichler-rührung], & warum er diesmal die ganze zeit so schreien muss & dieses sich nach wiedererkennbarkeiten strecken wollen plötzlich, der blöde falco-part & das sind natürlich nur petitessen, denn es ist ja immer noch hader gewesen & dann wieder diese hadersätze: das leben besteht aus lauter katastrophen und dazwischen is fad &

& wie wir noch ein fluchtachterl getrunken haben im garten des hotel rivera & der kellner erzählte, dass seine kollegin sich so verliebt hätte & die kellnerin nicht protestierte, sondern ja sagte, zu uns fremden, und ich ihr beim gehen noch viel glück wünschte und sie danke, das werd ich brauchen sagte & wie jedesmal ihre wienabschiedstraurigkeit auf dem weg ins hotel & wann müssen wir raus & den wecker schon wieder auf sechs

& meine tochter, die gestern 17 geworden ist und sagte, ich geh dann von der party gleich in die schule

& heute immer noch diese müdigkeit zu wenig schlaf immer noch. aber jetzt. blöder schluss, suppt einfach so weg





& das glaubt mir auch keiner, aber ich bin jung gewesen in einer epoche, in der einem die unbekanntesten und entferntesten reisbauern & fabrikarbeiterinnen schwestern & brüder sein konnten & man liebte sie sogar & in meiner erinnerung bilde ich mir ein, man liebte sie tatsächlich & arglos & wie man eben lieben soll: einfach so & wenn man etwas las über sie & wenn man fotos sah von ihnen, dachte man: schwester! bruder!

seltsam schäbige welt, die sich das nehmen ließ





we met when we were almost young.