Beim Bordkartenvorzeigen spricht mich ein Junge, zwölf oder vierzehn, an: "Fliegst du auch nach München?", dann, als wir beide als erste ins Flugzeug steigen: "Wo sehe ich denn, wo ich sitzen muss?", offensichtlich sein erster unbegleiteter Flug. Gleich wieder die Erinnerung an den Kindheitstag, an dem mein Vater mich ins Kino ausführte und ich nach der Vorstellung auf der Straße meine Hand in die eines Fremden legte, der erst zwei, drei Sekunden später darüber erschrak, so spät, dass aus einem Irrtum schon eine Verlegenheit und die Möglichkeit einer Geschichte geworden war. Wie alt bin ich damals gewesen? Sechs, acht? Wie lange bin ich auf der Straße an der Hand meines Vaters gegangen - eine Berührung, die ich mir heute kaum noch vorstellen kann? (Und wann, aber das ist eine andere Geschichte, haben meine eigenen Kinder aufgehört, an meiner Hand zu laufen? Diese abgründigeren Stationen von Lebensgeschichte, Individuation...). Jedenfalls habe ich mich seit jenem Tag immer wieder gefragt, was geworden wäre, wenn der Mann vor dem Kino mich mitgenommen hätte und ich mit ihm gegangen wäre, in ein anderes Leben. Später, in der S-Bahn nach München, in der SZ Franziska Augsteins Porträt zum 75. Geburtstag Klaus Wagenbachs und darin die merkwürdige Wendung: "Es liegt ihm zuallererst in der Natur, die - was immer Genetiker sagen mögen - vom Elternhaus mitgeprägt wird."


Zum Aufwachen Espresso in einer Flughafen-Snack-Bar. Am Nebentisch zwei junge Männer, die beide einen Beckham-Bürzel tragen und auch sonst "völlig nachgemacht" aussehen (ohnehin müsste man einmal die Spielregeln und Spielregelverletzungen des Kopierens genauer untersuchen; das Affektive in den eigenen Reaktionen, von dem man nicht so genau weiß, wodurch es ausgelöst wird in der gnädigen Gleichgültigkeit, mit der man andere Menschen bloß als besetzte Orte im Geh- und Sichtfeld wahrnimmt und gleich wieder vergisst…). Der eine erzählt dem anderen ausführlich, was eine gewisse Birgit im Urlaub gemacht oder vielleicht auch nicht gemacht hat oder gemacht haben könnte, er weiß es nicht genau, er hat etwas gehört, Andeutungen, jemand hat etwas gesagt, aus dem er nicht schlau geworden ist, aber er war auch besoffen. Der andere, sachlicher: Es wird schon nichts gewesen sein. Der erste: Nicht im Bett, das nicht, aber sonst, irgendwas hat sie gemacht, da ist er sich sicher. Ganz plötzlich eine Sprungbildempfindung, wie sie mich öfter überkommen: Als spränge die vertraute Welt in einen Ort um, an dem man noch nie gewesen ist. Wie rätselhaft, dass Menschen darüber reden, dass Menschen andere Mensche irgendwo angefasst haben! Wie absurd, dass menschliche Körper Landkarten mit öffentlich betretbaren Zonen und No-Go-Areas sind! Die Verteilung von Berührungserlaubnissen und Zugangsprivilegien auf so einem Körper! Die Dramen, wenn ein Unbefugter irgendwo gewesen ist, wo er nicht hätte sein dürfen! Die Katastrophenkaskaden, die durch so eine Unbefugtheitsandeutung ausgelöst werden können! Merkwürdige Welt, in der eine Hand unter einem T-Shirt oder eine Knutscherei oder ein Händchenhalten oder eine Errregung so viel bedeuten können! (Und meine vollautomatische Parteinahme für Birgit; "ich kenne die doch gar nicht"; "weißt du doch nicht, was die beiden für eine Geschichte haben"; "ist doch nur ein Eigenname in der Unterhaltung zweier Fremder"…)


In der S-Bahn sitze ich mit drei Türkinnen, die Kopftücher tragen. Und High Heels, Jackie O.-Sonnenbrillen, schwere Uhren, die Kopftücher sehen aus wie von Paul Smith. Und schon kommt mir eine Wendung wie "Türkinnen mit Kopftuch" so albern vor wie etwa "Deutsche in Jeans".


Am Abend, ehe ich nach München flog, war ich bei der ersten Hamburger Kuschelparty. Kuschelparties, in New York erfunden, sind Veranstaltungen, bei denen Fremde sich treffen, um einander in den Arm zu nehmen, zu streicheln, zu liebkosen, aneinander zu drücken. Die Spielregeln sind rigide kodifiziert wie bei einem Franchising-System: Die Klamotten bleiben an, jeder kann jederzeit Nein sagen, ehe man jemanden berührt, muss man ihn fragen, ob ihm das auch recht sei, Sex ist verboten, Erregung aber erlaubt ("lasst es fließen, Energie ist gut"). Weil einem so ein Regelwerk aber nicht wirklich dazu ermuntert, sich mit Menschen, die man noch nie gesehen hat und von denen man die meisten auf der Straße auch jederzeit übersehen würde, auf eine Matratze zu legen, um mit ihnen Zärtlichkeiten auszutauschen, wird das Neinsagen, das Berührungsbitten, das Aufeinanderzugehen und das Kuscheln erst einmal anderthalb Stunden lang spielerisch eingeübt, so lange, bis niemand mehr ein weiteres Spiel aushält. Und so lag ich, als es ernst wurde, zuerst mit zwei Frauen, dann nur noch mit einer herum, umzingelt von 20 anderen, die auch miteinander herumlagen, und hatte eine im Arm und ließ mich von einer im Arm haben, mit der ich davor nicht mehr als zwei, drei Sätze geredet hatte, seltsam, dachte ich, wie sehr Handlungen, eine Praxis die Gefühle modellieren können, denn natürlich war ich so etwas wie "verliebt", man kann das schwer vermeiden (nicht, dass ich etwas vermeiden hätte wollen), wenn man an Haaren riecht, in Augen hineinschaut, jemanden sich wohlig räkeln fühlt und mitbekommt, wie ein Atem sich verändert. Man lacht und kichert ein wenig miteinander, sagt einander, wie schön das gerade ist, nicht bloß, weil es unhöflich wäre, einander gar nichts zu sagen, sondern weil es wirklich schön ist, man verhandelt ein wenig miteinander, ob es denn für mich okay wäre, wenn sie sich fallen ließe, fragt sie, und ich muss lachen und sage, sie sollte jetzt um Gotteswillen keine Gerechtigkeitserwägungen anstellen, sie sagt, dass sie mit Männern aus Wien wohl Glück hätte, und was man eben sonst so redet in solchen Situationen (als ob man sonst solche Situationen erlebte), angenehm Unwichtiges, und irgendwann sind einem auch die Körperzonierungsregeln gleichgültig und umstreichelt man nicht mehr weiträumig die privater codierten Gegenden, mag schon sein, dass das jetzt nicht Sex ist, aber Kuscheln ist es vermutlich auch nicht wirklich, schon klar, dass Kuscheln so ziemlich das beste Wort ist, das man sich für solche Parties ausdenken konnte, weil es einen mit seiner militanten Harmlosigkeit gar nicht auf den Gedanken kommen lässt, das wäre etwas anderes als etwas harmlos Regressives. Dann wird das Licht wieder hochgedimmt, man braucht ein wenig, bis man sich wieder in der Welt der Körperdistanzen justiert hat, jeder gibt der Runde durch, wie es gewesen ist für ihn, man verabschiedet sich freundlich voneinander, und das war es dann. Am Heimweg traf ich noch J., die einzige, die ich gekannt hatte, ich teilte mir mit ihr einen Fisch, sie fragte, wie es mir gefallen hätte, es war gut, sagte ich, ob ich noch einmal käme, wollte sie wissen, nein, sagte ich, es käme mir ein wenig seltsam vor, in einer Geschichte nicht am Anfang anzufangen, dafür dann aber gleich wieder aufhören zu müssen und dass mir zum Beispiel so etwas wie eine Affäre "logischer" erschiene, aber das könne man doch, sagte sie, kein Problem, doch, sagte ich, willst du denn eine Affäre haben, von der du dir selbst oder deinen Enkeln erzählen müsstest, sie hätte auf einer Kuschelparty begonnen, & so mussten wir beide lachen.


Als ich das Hotel reserviert hatte - das Olympic im Glockenbachviertel, in dem ich seit 18 Jahren schlafe, wenn ich in der Stadt bin -, wusste ich nicht, woher auch, dass in München just an diesem Samstag der Christopher Street Day begangen werden sollte. Und so kamen mir auf dem Weg vom Sendlinger Tor in die Hans-Sachs-Straße unvermutet Männer in Kettenhemden, aufwendig aufgerüschte Transen und einer im weißen Engelskostüm mit federzarten Engelsflügeln entgegen, auf einem Stuhl vor dem Ivan, eine Hausnummer vor dem Olympic, saß ein Dicker mit nacktem verpelzten Oberkörper und glücklich alkoholrotem Gesicht und trug eine Plastik-Prinzessinnenkrone. Wenn Heten sich verkleiden und es krachen lassen, kommt meistens nur so etwas wie der VW-Betriebsrat heraus.


Gekauft: DeLillo, Players. Lethem, The Disappointment Artist. Surowiecki, Wisdom of Crowds. Für M. den Jane Austen's Guide to Dating. (Seltsam, dass wir alles miteinander teilen außer die Bücher, die wir lesen. Jane Austen, Edith Wharton, Nicholson Baker, Goethe, Shakespeare: bis auf das Nötigste kaum je gelesen, so wenig wie sie Updike, Faulkner, Handke, Proust, Fichte. Ihre Liebe zum 18. Jahrhundert oder davor, meine Liebe zum 19. und 20., Konversation vs. Psychologie, Zivilisation vs. Selbstzerfleischung, Garten vs. Stadt, Erwachsene vs. Adoloszente, irgendwo entlang dieser Linien. Und diese Überraschungen über die Schnittmengen, DeLillo, Kleist, Joyce.)


Abends Wohnungseinweihungsparty bei Jochen. 80, 100 Leute. Die Zentren: Balkon (Zigaretten), Küche (Alkohol), Esszimmer (ein Buffet für ungefähr 200 Leute, auf dem Weg hatte ich J. getroffen, der kurz vor Ladenschluss noch in den Supermarkt hetzte, um Leberkäse und Madeleines zu kaufen, weil der Thai-Caterer, bei dem sie bestellt hatten, "nur für Asiaten" geliefert hatte, das reiche nicht einmal zehn Minuten. Es stellte sich natürlich heraus, dass man nicht nur eine Party lang, sondern eine Woche davon hätte leben können. Als ich M. davon erzähle, lacht sie, weil ich genauso bin und jedesmal für zwölf koche, wenn vier kommen: "Was ist es mit euch Männern, genetische Großzügigkeit?" - "Die Höhle muss voll sein, sonst nagt die Angst vor dem Mangel. Man mag nicht um vier Uhr nachts betrunken zur Tanke."). Parties sind dann gut, wenn in der Küche so viele Leute sind, dass man nicht mehr zum Wein kommt. Das Wasserstellen-, Oasen-Prinzip von Community Building. Leute erzählen von ihren Berufen oder über die Berufe anderer Menschen. Die DJesse macht bei Focus Titelbilder: gut käme alles an, was mit Ich zu tun hat (Meine Intuition, mein Urlaub, meine Steuerersparnis usw.), die iMagazine-Generation, denke ich sofort und finde es völlig eingängig. Vor ein paar Wochen wäre ihr zum ersten Mal nichts mehr eingefallen, das habe sie tödlich erschrocken. Als ich frage, wie lange das gedauert habe, sagt sie: "eine halbe Stunde lang". Immer mehr Berufe, bei denen ich fünfzehn, zwanzig Minuten nachfragen muss, um einigermaßen zu verstehen, was die Leute tun, manchmal das Gefühl, dass auch die Leute es selbst nicht wissen (oder auch nur wissen können), Schnittstellen in Zusammenhängen, die viel zu groß sind, als dass man sie noch überblicken könnte. Der Wort-Markt. "Sitzt da und analysiert, welche Wörter er kaufen muss, damit seine Arbitrage gut ist." - "Einmal die Woche fliege ich nach London, dort sitzen die Anwälte." Auf dem Balkon Weblogger, rauchend, irgendwie vage cool, "ihr seid ja so ein komischer Club". Der Club, der alles aufschrieb. Vielleicht funktionieren Weblogs besser als Journalismus oder Literatur, weil Journalismus und Literatur eben nicht alles aufschreiben können, die Arbeit der Ent-Dichtung. Später werden wir sagen können, dass Anfang des 21. Jahrhunderts Leute darauf gekommen sind, dass man vor zu vielen Informationen und zu vielen Unordnungen keine Angst haben musste. Auf der Party viele Kinder, eine Etage tiefer, in Kniehöhe der Erwachsenen, es muss sein, wie durch einen Wald zu gehen, sofort der Wunsch, sich zwischen Riesen bewegen zu können, denen man nur bis ans Knie geht, wie die Welt dann wohl wäre. Stefan beruhigt seine Tochter, indem er sich mit ihr unter die Slideshow mit den Flickr-Squared-Circle-Bildern setzt, die Jochens Laptop an die Decke loopt; das hell auflachende Glück der Tochter, wenn sie die Gegenstände auf den Fotos erkennt, ein Nutelladosen-Verschluss, ein Duschkopf, ein Kanaldeckel, Wörter, die sich mit Bildern von Gegenständen verstöpseln, schon bist du glücklich wie nur was. Fabian Mohr kennengelernt, als ich ihn sah und seine Stimme hörte, keine Sekunde lang erstaunt gewesen, gleich gedacht, er sieht so aus und redet so, dass es "zu seinen Fotos passt", und ich möchte endlich einmal einen gescheiten Text darüber lesen, wie ein Autorenkörper und eine Autorenstimme dann in Autorentexten und Autorenfotos eingeht ("ohne dass man es wirklich merkt, aber irgendwie doch"), ihn sofort innig gemocht, die lost-brother-Empfindung, die ich ja auch bei Malorama und Hack sofort gehabt habe, sehr seltsam. Gegen halb zwei ins Hotel, in der S-Bahn erzählt eine, die auch auf der Party war und deren Namen ich vergessen habe (shame on me), vom langsamen Sterben ihres Hundes nach siebzehn Jahren gemeinsamen Lebens, zum Schluss habe er nachts alle zwei Stunden hinausgemusst. Wie immer, wenn eine Geschichte gut ist, gleich synchron begonnen, mir den Roman auszudenken, in dem eine ein Jahr lang jede Nacht alle zwei Stunden mit ihrem sterbenden Hund auf die Straße hinausgeht und ihm zusieht dabei, wie er sich quält, und immer verzweifelter darüber ist, dass er bald tot sein wird und ihn nicht einschläfern lässt, weil man niemanden einschläfern lässt, mit dem man siebzehn Jahre gelebt hat, und ihr ganzes Leben sich um die Pflicht herum organisiert, alle zwei Stunden mit einem sterbenden Lebewesen hinauszumüssen. Jetzt, erzählt sie, kann ich nicht mehr so gut schlafen, weil in meinem Zimmer niemand mehr auf dem Boden vor meinem Bett liegt und schnarcht, ich müsste mir schnarchende Männer suchen und sie vor mein Bett legen, damit ich wieder gut schlafen kann. Im Hotelzimmer noch ein wenig den NTV-Nachrichtentickerband-Meldungen hinterhergeguckt (die abzuzählenden Schafe der Gegenwart: Tote in London, Etappensieger bei Tour de France usw.), Westerwelle rät Merkel von einem TV-Duell mit Schröder ab, weil der die Medien meisterlich beherrsche. Bitch!


Sonntag vormittags im Platzregen zum Stadtmuseum, zur Ausstellung mit den Fotos von Regina Relang, Müncher Modefotografin, ab 1932 in Paris, bei Kriegsausbruch wieder in Deutschland, nach Kriegsende vor allem für Madame tätig. Interessant: wie auf ihren Foto oft ein Duell Geschichte vs. Style ausgetragen wird. Vorne die Märchen, im Hintergrund die Gespenstergeschichten. Frauen in Haute Couture vor dem Geröll des zerbombten München, manchmal sieht man Hintergrund Passanten in ärmlichen Nachkriegsanzügen, einmal steht das Modell neben einem Versuchs-Atomreaktor. Während der Nazi-Zeit, in Nazi-Illustrierten: Eine Reise-/Mode-Reportage über die Trachten kroatischer Frauen, eine andere über spanische Franco-Falangistinnen. Das waren die Leute, die die Serben und die Internationalen Brigaden massakriert haben, aber fesch ausgesehen haben sie dabei. Seltsam, so durch die Welt stapfen zu können, mit einem Sensorium für Faltenwürfe und Silhouetten, alles andere aus der Wahrnehmungs-Wiedergabe löschend, der Réfus im schönen Bild, in dem die Geschichte völlig stillgelegt, nur noch Deko ist. Mit einigen dieser Leute habe ich in den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren ja hin und wieder gearbeitet, mein Erstaunen immer wieder über die Tribes, die in der Sahara, in den GUS-Ländern ein paar Tage lang Mode fotografierten, in zehn, zwanzig Kilometern Entfernung Geschützlärm, in Zelten oder auf dem Boden irgendwelcher kärglichen Unterkünfte schlafend, von lokaler Eintopfpampe und von mitgebrachtem Mineralwasser lebend, es immer schaffend, überall hinzukommen, wo sie hinkommen wollten, weil sie sich dort eine Landschaft, ein Licht, eine Foto-Stimmung schön vorgestellt hatten und schlafwandlerisch sicher das immer auch unbeschadet herunterspulend, ohne dass ihnen irgendetwas widerfahren wäre; ihr Erstaunen über mein Erstaunen, wenn ich mir nicht vorstellen konnte, warum man "so etwas macht", aber das Licht! und die Menschen dort! wie schön! Und sie meinten das immer ganz tief empfunden ernst.

Auf derselben Etage des Stadtmuseums eine Ausstellung zum Ende des zweiten Weltkriegs in München. Die Exponate: von Zeitzeugen zur Verfügung gestellte, hochprivate Gegenstände, auf Texttafeln wird erzählt, welche Erinnerungen sich in den Objekten verkapselt hat. Eine wollene kurze Jungshose, blitzweiß, Lederhosen nachempfunden, die Mutter der Erzählerin hat sie für deren Bruder gestrickt, eines Tages hat er entsetzliche Bauchschmerzen bekommen, der aufgesuchte Arzt wollte ihn nur gegen Lebensmittel behandeln, als er schließlich - zu Fuß - im Krankenhaus eingeliefert war, starb er, bei den Sachen des Toten auch die gestrickte Lederhose. In einer Vitrine: Ein winziges Stück Brot, fast schon zu Stein geworden, aus der Ration eines KZ-Gefangenen, der das KZ dann doch mit knapper Not überlebt und seinem Kind das Erinnerungs-Brot vererbt hat. Historische Auskultation, der Versuch, den Gegenständen ihre Geschichte abzuhören, abgründige Vorstellung, wieviel Erzählung an den winzigsten Objekten hängen kann, und wie wenig man ihnen das ansehen kann.


Nachmittags bei Beatrix und Jochen, schön mäandernde Gespräche, Kuchen, Kaffee, Kinder, Wolkengespräche, begrifflicher Modellbau.


Abends mit Joule und Marlene im Wirtshaus in der Au, ah! the girls!, wie sehr ich sie vermisst habe, Schweinsbraten, Knödel, Dirndl-Figuren, diese großartige Resistenz der bayerischen Welt, die dazu führt, dass in den Knödel-Wirtshäusern die Musik dann eben von Outkast kommt. Als wir bezahlen, sind es 18 Himbeergeist gewesen. Nachts träume ich von einer Navigation auf einer Flickr-ähnlichen Seite, eine Schlagwort-Liste, in der die libidinös aufgeladeneren Tags größer erscheinen, im Traum fahre ich mit dem Finger, der sich dabei in einen Browser-Finger verwandelt, über die Wörter, als Kind habe ich manchmal in die Bücher hineingefasst und die Bilder und hin und wieder auch die Wörter gestreichelt, jetzt im Internet ist diese Kinderfantasie verwirklicht, hinter jedem Wort kann man in eine andere Wortlandschaft stürzen.


Dieses mich manchmal ratlos machende glückliche Leben, das ich lebe.


Montag vormittags Geschäftsgespräche. Danach im Haus der Kunst Paul Mc Carthy's "Lala Land" und Robert Adams' "Turning Back". Im Erdgeschoss höhnische Territorialeroberungsgeschichten, ein Fort mit Planwagen, Piratenschiffe, Pornografie, it's about Landnahmen. In einem Raum liegt an eine Pumpe angeschlossen ein mechanical pig, die lebensgroße Nachbildung einer Sau, weiche pinke Kunststoffhaut, das Kunstschwein atmet Kunstluft ein und aus und öffnet und schließt dabei Augen und den Mund und röchelt ein wenig, vielleicht ist es die Übermüdung, vielleicht der Restalkohol, vielleicht bin es aber auch nur ich, plötzlich merke ich, wie ich dabei bin, in Tränen auszubrechen, Empathieüberflutung. Es wird nicht besser in der ersten Etage bei Robert Adams' Landschaftsfotografien aus dem immer noch fast nicht besiedelten amerikanischen Westen, karge Landschaften, containerhafte Häuser, die schon beim Einzug der Bewohner wieder am Kaputtgehen sind, die Pazifikküste, dahinter nichts mehr, wohin man go west könnte, harte wächserne Pflanzen, Obstbaumhaine, die einfach so in die Weite hineinwachsen. Du lebst ein falsches Leben! loopt es in mir, du lebst ein falsches Leben!, es ist moralisch gemeint, als ginge von den Silvergelatineprints ein moralischer Imperativ aus, Ethik der Abbildung, Transfiguration of the common place. Dass Aura durch die Reproduzierbarkeit verloren geht, habe ich Benjamin nie geglaubt. Seltsam übrigens, dass dieses Return-of-the-heroic-Malerpose, die jetzt überall abgefeiert wird, diese Aura nicht hat, Fuck-You-Regression, öde, born to be expressionistisches Kunsthandwerk. Vielleicht steckt das Auratische, Ethische in der Idee, im Gedanken, in der Konzeption, der modesten Abbildung dessen, was ist. Kunst als platonic platoon.


Im Flugzeug das Playboy-Bordexemplar gelesen. Die Pin-ups studiert und gedacht, wie verzweifelt das ist. Die Rüschenstrumpfbänder, die Spitzen, die airgebrushten Landestreifen, die Weichzeichner-Brüste, das big hair, die Mittelschicht-Boudoir-Bettwäsche, die pastellenen Vorhänge, die Geschrubbtheit, man meint, das KölnischWasser zu riechen, das in der Location versprüht worden ist. Was für ein Aufwand, damit so ein Playboy-Leser keinen Schiss mehr haben muss vor der Frau, in die er sich hineinträumen soll.


Abends sitzen M. und ich am Altonaer Balkon, schauen in die Elbe, wieder ein Paar, heruntergedimmte Gespräche, the good life.






schon auch off topic und doch apropos kopieren auf flughäfen: sagte ich im langen warten zu zwei mitfliegern: sehr prekäres gespräch übrigens da hinter uns, wo? na, die zwei frauen da zwei reihen hinter uns, darüber, dass es nicht geht, dass man die schwänze von boxern kupiert und dass boxer dann, so die beiden zwei reihen hinter uns, in gewisser weise ihr in-der-welt-sein verlören und aber so was von gegen türrahmen rennen würden, weil sie dann nämlich ihre ausmaße nicht mehr berechnen könnten - und der effekt dieser bemerkung war kaum begreiflich, bis eine nachträgliche abstimmung ergab, dass die mitflieger dachten, es sei von boxern die rede (von denen im ring und mit den boxhandschuhen), die aus gründen existentialistischer verortung ihre schwänze nicht mehr kopieren dürften.


westerwelle:

schon vor der wahl kegelt er die fdp voll raus, sowas kann man doch nicht sagen, oer wollte er nur lieber zu dem duell? was ne wurst.


Danke. Ein reicher Roman. Die Welt erzählt.


Zu Jochen hätte ich auch gesolltgewollt. Muss überhaupt schnell wieder nach München.


Versuchen Sie sich mit Ihren "Andeutungen über Blogschreiberei" vor dem Romanschreiben zu drücken? War nicht vor einer Weile mal von einem Roman die Rede; haben Sie sich inzwischen bewußt dagegen entschieden?

Ad Kuschelparty: Pardon, aber ist das nicht Swinger Light? Fuck Gold? Blow Sun? ... uh, Playboy? (s.u.)

Ad Playboy: Ja, würde ich zustimmen, halte Airbrush usw. aber auch für völlig out, anachronistisch. Das sehen, scheint mir, die, nun, Connaisseure auch so: niemand der Anspruchsvolleren unter der geneigten Klientel will das anno 2005 noch sehen. Es 'funktioniert' wohl einfach nicht mehr (lies: geilt nicht auf), die Pathosformel 'Playboy' geht längst nicht mehr auf (u.a. ist sie in einem, für den Zweck, fatalen Sinne durchschaubar).
Wenn Sie wissen wollen, wohin sich die Lüsternen richten, schauen Sie sich Petter Hegre &Co an. Die Frage ist dann, ob das mit der Gleichung 'Clean follows Schiss' (i. S.: je mehr Schiss, desto cleaner; clean, weil Schiss) so noch stimmt. "Clean" muss ja nicht "bieder-kölnischwasserhaft" heissen; es hat aber wohl schon mit einer (meinetwegen irrealen, phantasmatischen) Idealisierung zu tun – deren Pathosformel hat dieser Tage hohe baltische Wangen- und Hüftknochen. But, seriously, what's wrong with that?

Das Verzweifelte an Playboy ist ja vielleicht weniger das Künstliche einer "Schaubude des Begehrens", als das Muffige, 0190-Nummern-hafte der libidinösen Anspruchslosigkeit: man lässt sich mit dem popeligsten fast food abspeisen. Gesellschaft des erotischen Weniger.


@roderer

[1] roman vs weblog? nope, es geht ja beides.

[2] Fuck Gold ist eine sehr große Formulierung. Und, ja doch, selbstverständlich ist es das.

[3] Playboy. Ich habe nicht clean gemeint, oder jedenfalls nicht so, höchstens diese Harmlosigkeits-Sauberkeit, das moralisch Propere, Freizeithafte, niemandem Gefährlich-Werdende, Playboy Pinups tun dir nichts, werden dir nie gefährlich, sind good sports in weichem Gegenlicht, diese Sorte Sauberkeit. Es gibt die anderen Sorten auch, das weiß ich schon, glamazons. Das Seltsame an meiner Playboy-Durchblätter-Erfahrung war, dass ich keinen, keinen einzigen einzigen heterosexuellen Mann kenne, von dem ich mir vorstellen könnte, dass ihn das Playboy-Pin Up interessieren könnte, ich konnte mir nicht einmal einen vorstellen, das kam mir so ungeheuer weit am Begierden-Markt vorbei wie sonst nichts, gerade weil das so ein ungeheurer Aufwand ist, der da betrieben wird.