Woran erkennt eigentlich ein Geisteswissenschaftler, dass ein anderer Geisteswissenschaftler gut oder sehr gut ist? Und was genau beurteilt er in seinen Urteilen?






Eine Antwort

Er erkennt es an der Publikationsliste. Und er beurteilt deren Länge.


Art der Publikation

manche sind sich ja nicht zu fein, Veröffentlichungen in Kinderzeitschriften nicht mit aufzulisten.

Verwendete Literatur ist natürlich auch nicht zu vernachlässigen.

Immer wichtiger werden imho die Angaben zur Primärliteratur, Archivangaben etc., da eine Kultur des Zusammenkompilierens entstanden ist, die mich fragen läßt, ob bei Historikern z.B. überhaupt noch jemand an die Quellen und ins Archiv geht.


Größere Grauzone

Sicher gibt es bei geisteswissenschaftlichen Forschungen mehr Spielraum für Faseleien als bei naturwissenschaftlichen, die ja nicht einfach nur so als "die exakten Wissenschaften" bezeichnet werden. Aber auch die Geisteswissenschaften haben eine überprüfbare Methodik.

Ein anderer Geisteswissenschaftler ist dann gut, wenn er originelle Thesen hat, die er durch Belege absichert. Das können neue Quellen sein, oder alte Quellen, die neu kombiniert werden oder Feldforschung etc. Dazu zitiert er neues, aber sicher auch immer etwas, das die anderen Geisteswissenschaftler auch schon kennen - damit wird die These nachvollziehbar.

Dennoch werden die anderen GW versuchen, diese Thesen zu wiederlegen, nach allem, was auf diesem Gebiet bis dahin erforscht war. Wenn das so einfach ist, dass - sagen wir - jemand wie ich das schon mühelos könnte, dann war die These wohl nicht so gut.

Aber ich glaube, dass die Grauzone möglicherweise größer ist. Das heißt, dass z.B. eventuell bei einem Thema, das sonst durch keine andere Sekundärliteratur abgedeckt ist, ein bisschen milder geurteilt wird.

Möglicherweise habe ich aber auch alles falsch verstanden - und das sind die wahren Gründe, warum ich nicht in die Wissenschaft gegangen bin ...


schlecht

einfach nur nochmal anders Formulieren, was es schon längst gibt.


worin

gut? auf seinem gebiet oder als mensch? massstab ist so oder so der grad der intriganz.


woran

ein geisteswissenschaftler andere gute erkennt, weiß ich nicht. für mich jedenfalls gilt in ungefähr der reihenfolge: stil, thesenfreudigkeit, quellenauswahl, schlüsse daraus.

eigentlich ja technische umschreibungen. eigentlich.


stil

find ich nicht so wichtig. eigentlich überhaupt nicht, mit ausnahme von klarheit. eleganz und geschliffenheit in formulierungen sind beeindruckend, aber machen einen geisteswissenschaftler nicht "gut". bloßes geschichtenerzählen auch nicht. thesen und argumente braucht's schon, unbedingt, und erklärungen, warum eigentlich die erzählten geschichten so relevant, interessant, wichtig sind - in wissenschaftlichen publikationen. es können geisteswissenschaftler ja auch mal im feuilleton rumschreiben, und da bin ich dann weniger streng.


Wichtig:

Qualität der Recherche. Und: "Interdisziplinarität" ist zwar als Wort grässlich und als Forderung sehr ausgewaschen, aber dennoch wünschenswert. "Gute Allgemeinbildung" trau' ich mich gar nicht anzuführen. Hab' ja selber keine.


Es ist eh wurscht

Weil bei Geisteswissenschaftlern die Arbeitslosigkeit vorprogrammiert ist. Immerhin mal eine ehrliche Studie. "Soft Skills" - dass ich nicht lache. Das brutalste Arschloch gewinnt. Immer.


Die Studie sagt aber noch nichts ...

.... über die Chancen von Geisteswissenschaftlern aus. Das Problem ist, das GW halt eher was lernen, was nicht so praxisnah ist wie - sagen wir - Medizin oder Jus. Allerdings gibt es ja auch weit weniger GW als Mediziner oder Juristen. Ich bin ja selbst GW und ich finde meine Karriere bis jetzt ganz interessant. Zwar kann ich inhaltlich nicht anwenden, was ich gelernt habe, aber dennoch merke ich oft, dass mir das Studium auch für den Beruf etwas gebracht hat. Und Durchsetzungsvermögen und fehlender Positionierungswille können locker auch Mainstream-Studienrichtungen fehlen ...


ich

erkenne das, ich würde sagen: natürlich, zuerst mal am konkreten Text (Publikationslisten sind da nicht mehr als ein ganz unzuverlässiger Hinweis). Ich habe da schnell ein Urteil, aber woher? Stil ist sehr wichtig, würde ich als Literaturwissenschaftler meinen, da mir Leute, die über Literatur schreiben als schrieben sie Bedienungsanleitungen für Elektrosägen, höchst suspekt sind: da fehlt es ja schon im Grundsätzlichen. Was ich hasse (und was einem im weiten Feld der Theorie, in dem ich mich so bewegt habe die letzten Jahre, allzuoft vorkommt), sind Texte, in denen am halbwegs beliebigen Gegenstand die neueste, halb oder meinethalben auch ganz verstandene Theorie abgearbeitet wird.

Thesen kann ich meist nicht ausstehen, da sie eine Form der Komplexitätsreduktion sind, die mich langweilt. So einfach ist ja kaum was, das wissenschaftlich von Interesse wäre, dass man's mal eben auf Thesen bringen könnte. Ruhige, genaue, inspirierte Beschreibung bzw. Textlektüre, Herstellung von ungewohnten Zusammenhängen, Aufmerksamkeit fürs Detail eher als fürs grobe Ganze: das würde ich sagen, macht mich als Leser geisteswissenschaftlicher Texte glücklich.

Mich, klar. Alle Versuche der Etablierung nachprüfbarer Methodiken - dieser ganze geisteswissenschaftliche physics envy, wie Rorty so schön sagt - sind mir, soweit bisher bekannt, ein Graus.


hm

ich bin, was die wichtigkeit von stil anbelangt, deshalb skeptisch, weil mir sehr viele arbeiten über literaten oder philosophen oder überhaupt denker bekannt sind, deren wissenschaftlicher gehalt sich in imitation des stils der bearbeiteten denker erschöpft. man wird als spezialist in indischer philosophie leichter anerkannt, wenn man mit - unerklärten, unexplizierten - sanskrit-termini so um sich schmeißen kann wie die alten indischen meister und das auch exzessiv tut. das geht oft auch einher mit der eigenartigen auffassung, verstehen wäre so etwas wie intimes kennen und bloßes einfühlen. finde ich enorm ärgerlich. es stimmt natürlich, dass man guten stil haben kann, ohne bloß stil zu imitieren. thesen? na ja, man kann auch ja komplexe thesen aufstellen oder thesen, die sich bescheiden auf engere themenbereiche beschränken und nicht gleich den urgrund allen literarischen schaffens erfassen wollen. das thesenaufstellen in dem sinn schließt genaue und inspirierte lektüre/beschreibung ja nicht aus. mir sind geisteswissenschaftliche arbeiten ein graus, die nur beschreiben und unkontrolliert, ohne nachvollziehbare methode, herumassoziieren, dabei oft oberflächliche formzusammenhänge zwischen sprachlichen ausdrücken als brücken für gedankliche marathonläufe verwenden, anstatt sich vor allem mit sprache - auseinanderzusetzen.


die

Imitation eines Stils ist ja, würde ich argumentieren, gerade kein guter Stil. Und bloßes Daherassoziieren ohne große Fundierung durch Kenntnisse von Theorien und Gegenständen, klar, das ist so furchtbar wie das Missverständnis von Lektüre als Autorenimitations- oder Thesenabwurfunternehmung. Man muss schon irgendwie durch, durch die schwierige Theorie (Adorno, Derrida, Luhmann, würde ich, aus ganz persönlicher Sympathie, jetzt mal beispielhalber nennen) und vielleicht sogar eine ganze Zeit auf der Durststrecke arger geistiger Strenge verbracht haben. Nur so stellt sich Genauigkeit her, die nicht Methode braucht.

Aber was rede ich: man sollte sich am konkreten Beispiel verständigen können oder nicht. So ins Allgemeine Gesprochenes ist mir, ganz allgemein gesagt, just nicht so nah.


Style Council

Grad aus eigener Erfahrung. Ich habe mich in letzter Zeit intensiver mit Luhmann und Georg Simmel auseinandergesetzt und ich konnte meinem Gehirn dabei schon fast zusehen, wie es sich für die Rezeption dieser doch sehr speziellen Schreibstile rekonfigurieren musste. Davon muss man sich beim Schreiben dann wieder emanzipieren, was speziell dann nicht einfach ist, wenn man es mit Luhmann zu tun hat. Man muss sich dran abarbeiten. Das hat bei mir so ausgesehen, dass ich Luhmann aus meinem aktuellen Job wieder fast völlig gekillt habe. MUSS man jeden einzelnen Begriff wieder zwanghaft umetikettieren? Diese Eitelkeit von wegen "Stil" ärgert mich zunehmend. Sie verhindert kollektives Arbeiten an den Jobs. Unpragmatisch. Gestrig. Ärgerlich.


luhmann kannse inne tonne kloppen

simmel ist eine ganz andere liga (viel bessa natürlich!).


@supatyp

Deshalb bleibt der Simmel auch drin und der Luhmann fliegt raus. Luhmann hatte wirklich ganz nette Ideen. Aber ich will kein Jünger von Luhmann werden und ich komme auch auf anderen Wegen da hin, wo ich hinwill.


kern?

Ein angenehmer Stil ist natürlich angenehm für den Rezipienten, keine Frage, knoerer. Und deshalb habe ich immer (Achtung: Faustregel) lieber wissenschaftliche Werke aus der anglo-amerikanischen Tradition gelesen, die mir immer unterhaltsamer geschrieben vorkamen als die aus der deutschen Wissenschaftstradition. Sicher ist es eine Freude, wenn einer so gut schreibt wie Gilles Kepel (über "Fundamentalismus"). Aber es ist nicht der Kern seiner wissenschaftlichen Pflicht.

DENN: Um guten Stil geht es bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen nicht. Das ist nicht mal bei Literaturwissenschaften ein valides Argument. Denn der Wissenschaftler, der veröffentlicht, ist zwar ein Autor, aber kein Schriftsteller und muss es auch nicht sein. Man liest ihn nicht wegen des Lesevergnügens, sondern wegen neuer Erkenntnisse und Forschungsergebnisse oder ähnliches. Sonst könnt' er gleich ein Schriftsteller werden. Oder falls er ein Sachbuch schreiben will, halt ein "Populärwissenschaftler".

Und was Thesen anlangt: Das habe ich eher in dem Sinn verstanden, in dem es auch Katatonik meint. Wenn Du aber unbedingt willst, kann man auch noch genauer definieren und Worte wie "Schlüsse", "Knüpfen von Zusammenhängen", "neue Perspektiven" etc nachschieben. Aber letztlich will auch die Geisteswissenschaft Ergebnisse sehen und nicht bloß gut lesbare Bücher, die immer wieder um die selben Erkenntnisse kreisen. Das habe ich mit Thesen gemeint.


Philosophische Kriterien

Es gibt eine Reihe von erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Kriterien, mit deren Hilfe sich die Qualität von geisteswissenschaftlichen Arbeiten beurteilen läßt. Stil spielt nur insoweit eine Rolle als eine intersubjektiv nachvollziehbare Fachsprache die Voraussetzung von jeder wissenschaftlicher Erkenntnis ist. Wer darauf verzichtet, mag nette (sogar gute) Texte produzieren, von wissenschaftlichem Arbeiten kann allerdings keine Rede mehr sein. In "Die Sprache der Literaturwissenschaft", eine sehr empfehlenswerte wissenschaftsphilosophische Studie von Harald Fricke, kommt dieser zu dem aufschlussreichen Ergebnis, dass der Stil von Literaturwissenschaftlern immer dann rhetorischer (mehr Stilmittel) wird, wenn die Qualität der Argumentation nachläßt. "Guter Stil" versteckt auch meiner Erfahrung nach oft mangelnde intellektuelle Stringenz. Wenn es sich um eine empirische Arbeit handelt, ist Falsifizierbarkeit ein wichtiges Kriterium. Läßt sich eine solche Theorie aus logischen Gründen nicht widerlegen (z.B. durch eine der beliebten Immunisierungsstrategien oder durch die Aneinanderreihung von brillanten, aber semantisch leeren Begriffshülsen), dann ist sie nicht wissenschaftlich. Bei theoretischen Arbeiten wiederum gibt es eine Reihe logischer Kriterien (z.B. Konsistenz, Widerspruchsfreiheit). Zur Komplexitätsreduktion: Das ist ein klassisches Missverständnis. Einerseits funktioniert Wissenschaft nur durch Komplexitätsreduktion (vulgo Abstraktion). Man sucht sich einen begrenzten Gegenstandsbereich, untersucht diesen und stellt Hypothesen und Theorien darüber auf. Wissenschaft ohne Hypothesen bilden gibt es nicht. Wer auf Thesen verzichtet, begibt sich auf ein methodisches Niveau, das unter dem der Vorsokratiker liegt. Diese haben bekanntlich durch ihre rationale Thesenbildung den Prozess der abendländischen Wissenschaft angestoßen. Andererseits wird hier Objekt- und Metaebene verwechselt. Reduziert man aus logischen Gründen eine Theorie A auf eine Theorie B, "reduziert" man damit selbstverständlich nicht den Gegenstandsbereich (Objektebene). Auf erkenntnistheoretischer Ebene gibt es keinen Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, beide sind an die Bedingungen der Möglichkeit von rationaler Erkenntnis gebunden. Dass sich dies bei den meisten Geisteswissenschaftlern noch nicht herumgesprochen hat, hängt mit deren Ausbildung zusammen. Klassische Wissenschaftstheorie spielt darin keine Rolle, (formal)logische Fähigkeiten werden auch keine vermittelt.


tja

das ist ja nun genau die Position, die mich in den Wahnsinn treibt. Das ist sowas von total metaphysisch argumentiert: Gott (d.h. Wissenschaftlichkeit) ist dabei immer schon vorausgesetzt. Du weißt, was das ist, und fertig. Dabei geht es doch genau darum, mal zu sehen, was passiert, wenn man aus dem Prokrustesbett der formalen Logik hüpft und hinein ins Lotterbett des Paradoxen, Nicht-Logischen, wo man auch mal an die Grenzen des erkenntnistheoretisch Nach- und Vorformulierbaren gelangt.

Literatur und Denken hat für mich nicht nur, aber essenziell genau damit zu tun: nicht schon vorher zu wissen, wie es sich gehört, wie es sein muss. Von daher sehe ich einen radikalen methodischen Bruch zwischen empirischer Wissenschaft und Geisteswissenschaft. Dieses Fricke-Zeug ist so unproduktiv, habe noch keinen einzigen Text gelesen aus dem Umfeld, der mich irgendwie interessiert hat. Ich bin sicher, wir werden uns da nie und nimmer einig. Das ist auch gut so, aber gesagt haben wollte ich's mal.


ich fürchte auch,

so mir nichts, dir nichts, wie xenophon (schönes pseudo, übrigens) es empfiehlt, lassen sich wissenschaft und nicht wissenschaft nicht auseinandersortieren. schon ein satz wie der von der "bedingungen der möglichkeit von rationaler erkenntnis" transportiert so viel seinerseits nicht mehr überprüfbares, sondern souverän gesetztes, dass da überall schon kleine haarrisse im gewebe der argumentation aufgehen. die transzendentalen reden von den bedingungen der möglichkeiten sind ja auch eine hübsche immunisierungsstrategie.


der stil

von xenophons beitrag gefällt mir weniger, aber der sache nach gibt es einiges, dem ich beipflichten würde: jede wissenschaft ist per se daran gebunden, dass rationale erkenntnis möglich ist und auch an die - wie immer gearteten - bedingungen, die sie ermöglichen. auch das übertünchen von argumentationsmängeln durch stil ist mir bekannt, obwohl ich glaube, dass damit präzise ausgedrückt eher gemeint ist: das übertünchen von argumentationsmängeln durch nicht argumentativ motivierte, leere rhetorik, die aufmerksamkeit ablenken soll. dass das vorkommt, ist allerdings sachlich überhaupt kein argument gegen die forderung, wissenschaftliche arbeiten sollten auch auf stil wert legen, höchstens ein warnsignal gegen übertreibungen in dieser hinsicht. knoerers ablehnung von xenophons position unter dem gesichtspunkt des "nicht schon vorher wissens" geht, finde ich, etwas ins leere. man kann das prinzip, dass wissenschaft rationalität und deren bedingungen verpflichtet ist, ernst nehmen, aber das bedeutet überhaupt nicht, dass man weiß, was da rauskommt oder rauskommen soll. man weiß, dass nachvollziehbare beobachtungen oder hypothesen rauskommen sollen und nicht einfach ausrufe des staunens oder bewunderns. aber welche beobachtungen oder hypothesen das sind, ist natürlich überhaupt nicht klar. viel metaphysik seh ich da, ehrlich gesagt, auch nicht. natürlich weiß man, oder kann man voraussetzen, was kriterien für wissenschaftlichkeit sind (was nicht bedeutet, dass man sich über deren anwendung oder anwendbarkeit einig ist). man weiß ja auch, was kriterien dafür sind, dass sätze als auf deutsch formuliert erkennbar sind. und? aus dem "prokrustesbett" der formalen logik läßt sich in dem sinn nicht gut hüpfen, als ja beschreibende und behauptende sprache nur insofern überhaupt verständlich ist, als sie logischen kriterien genügt. aber ich nehme an, das war eh nicht die richtung, in die knoerer gedacht hat. was ich oft nicht verstehe: warum, wenn man auf gewissen kriterien für wissenschaftlichkeit besteht und behauptet, diese festlegen zu können, dann sofort aufgeschrieen wird, um gottes willen, ihr schließt da das paradoxe usw. usf. aus. warum wollen eigentlich alle möglichen arten von sprache und diskurs auch als wissenschaftlich anerkannt werden? brauchen wir eine wissenschaft, die in reimform artikuliert ist? klar hat wissenschaftlichkeit grenzen. na und?


Über Prokrustes-Betten und die Vorzüge des Rationalen

Dachte es mir schon, dass mein Stil als zu apodiktisch beurteilt wird, aber ich wollte möglichst viel in wenig Zeilen unterbringen. Knoerers Entrüstung geht völlig an der Wissenschaftspraxis vorbei, weshalb ich ihm nicht folgen kann. Wie viele Geisteswissenschaftler besteigen denn das "Prokrustesbett der formalen Logik"? Diese Arbeiten muss man suchen wie ein einzelnes Byte auf einer 80GB-Festplatte! Die Mehrzahl der gw. Publikationen kümmert sich nicht im geringsten um wissenschaftstheoretische Minimalstandards, das "Lotterbett des Paradoxen" ist die Regel. Und mit welchem Ergebnis? Wo sind sie denn, diese aufregenden neuen Erkenntnisse, die durch planloses vor sich hin Assoziieren entstehen? Will man zu gewissen Gegenstandsbereichen verläßliche Publikationen finden ( z.B. moderne Kunsttheorie), die über leeres Geschwätz hinausgehen, muss man lange suchen. Auch die mindestens 2500 Jahre alte Geschichte des irrationalen Denken sollte genügend Belege bieten, dass es hier keinerlei Erkenntnisfortschritt gibt. Ob ich dunkles antikes Geraune lese oder Sloterdijk seine Wortblasen produziert: es bleibt sich gleich. Vergleicht man dagegen z.B. die Biologie oder Physik des Aristoteles mit der zeitgenössischen Naturwissenschaft, wird man unglaubliche Fortschritte feststellen. Diese Progression verdankt sich der Einhaltung der erwähnten philosophischen Minimalstandards. Methodische reflektierte Disziplin + wissenschaftliche Kreativität heißt die Zauberformel. Diese Kriterien sind auch ziemlich metaphysikfrei, sieht man von einem minimalen ontologischen Realismus ab. Wissenschaft wäre ja auch ein absurdes Unterfangen, ginge man nicht davon aus, dass es (1) eine vom Bewusstsein unabhängige Realität gibt und (2) diese zumindest teilweise der menschlichen Erkenntnis zugänglich ist. Es wird von den Gegnern der klassischen Wissenschaft oft versucht, diese zu einem ideologischen Popanz zu stilisieren. Nüchtern betrachtet ist es freilich umgekehrt. Nehmen wir Susan Haacks "Evidence and Inquiry" eines der besten philosophischen Bücher der letzten Jahre. Haacks hat viele Jahre über erkenntnistheoretische Probleme nachgedacht und diese in einer bewundernswerten, fast schon schmerzlichen Klarheit zu Papier gebracht, und dabei noch ihre eigenen Denk-Voraussetzungen reflektiert. Das ist selbstverständlich aufwendiger, als in ein paar Monaten ein Buch mit Modejargon zu füllen und sich dann noch aufs progressive Podest zu stellen. Ein anderes Beispiel wäre Jared Diamonds "Guns, Germs and Steel", der ein fulminantes Buch über die Frage geschrieben hat, warum sich die Menschheit so entwickelt hat wie wir sie kennen. Dabei griff er auf eine Fülle von harten Methoden und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zurück. Das Ergebnis? Eines der spannendsten historischen Bücher seit langem. Hier liegt die Zukunft der Geisteswissenschaften. Paradoxe Texte zu produzieren ist keine Kunst, das konnte man in der Antike, kann man jetzt, wird man voraussichtlich in 2000 Jahren auch noch können, wobei der Erkenntnisgewinn damals gleich null war, heute gleich null ist und auch in 2000 Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit gleich null sein wird :-)


ist doch ganz klar

Ob der andere Geistenswissenschaftler mit der Meinung des beurteilenden Geisteswissenschaftler übereinstimmt.


um..

.. hier endlich mal etwas Niveau reinzubringen: An der Position (Professur, Projektstelle, Lehrauftrag), an der Uni (Stanford, Harvard, Oxford, Cambridge, Sorbonne, irgendwo in Deutschland), am Aussehen (Brille, Bart (ja klar, natuerlich nur bei maennlichen Geisteswissenschaftlern wichtig), Lederaufnaeher).


stil, thesen usw.

Vor allem anderen vielen Dank für so viele Antworten.

Was Stil betrifft, habe ich einigermaßen häufig die Erfahrung gemacht, dass es sich dabei fast um etwas Konstitutives für Theorien handelt. Bei jemandem wie Hegel, Kant, Adorno, Benjamin, Carnap, Wittgenstein oder der ordinary language philosophy ist das ja einigermaßen evident, man kann sie relativ schlecht in "andere Stile" transformieren, ohne dass dadurch auch "Gehalt" verlorenginge. Was aber wiederum einigermaßen unheimlich wird, da Wissenschaft vermutlich ja eher unabhängig von eher ästhetischen Qualitäten funktionieren sollte. Ich gebe zu, meine Beispiele stammen alle aus der Philosophie. In anderen mehr oder minder geisteswissenschaftlichen Disziplinen mag es sich anders verhalten. Eine Frage in diesem Zusammenhang ist natürlich: Wann Stil zum Jargon, zur Manie, zum bloßen Rhabarberrhabarber wird, sagen wir mal: Heidegger, sagen wir mal: Derrida. Um das entscheiden zu können, muss man die einzelnen Theorien in einem anderen Stil "rekonstruieren"; ob die Rekonstruktionen die Ausgangstheorien noch treffen, lässt sich schwer entscheiden.

Zu den Thesen: Wodurch zeichnet sich eine These aus, die man als "interessant" oder "neu" wahrnimmt? Vermutlich ist die Frage zu allgemein gestellt, aber sie ist, finde ich, nicht trivial. Qualifiziert zum Beispiel nicht einfach penible philologische Arbeit, genaue Lektüre, Arbeit am Detail, eher mikroskopischer Blick jemanden nicht auch zum "guten" Geisteswissenschaftler? Oder ist man davon dann doch enttäuscht? Weil sozusagen eine Botschaft fehlt, ein bis drei Kern-Sätze, ein Slogan. Muss eine These wichtig sein über den innerwissenschaftlichen Zusammenhang hinaus, um als wichtige These empfunden zu werden? Geht es bei Thesen in den Geisteswissenschaften darum, dass sie richtig sind (was immer das bedeutet), oder dass man sie als nicht trivial, als interessant wahrnimmt, als etwas, mit dem man weiter arbeiten kann (das ist z.Bsp. oft mein Eindruck)?

Noch eine Zusatzfrage: Was begründet bei Geisteswissenschaftlern, deren Theorien man als falsch zurückweist, dass man sie dennoch als gute Geisteswissenschaftler identifizieren kann? Was ist es, was einen in Geisteswissenschaften Auffassungen als wichtig, fruchtbar, spannend oder jedenfalls nicht ärgerlich empfinden lässt, mit denen man partout nicht übereinstimmt? Für Literatur lässt sich diese Frage ja recht einfach beantworten, da geht es dann tatsächlich um ästhetische Qualitäten, Stil und dergleichen; ich kann wissen, dass Thomas Mann ein guter Autor gewesen ist und ihn dennoch nicht ertragen. Bei geisteswissenschaftlichen Texten, in denen es ja um mehr, etwas anderes geht, ist eine Antwort auf die Frage nach der Hochschätzung für Gegnerschaften nicht ganz so einfach, bilde ich mir ein.


@praschl

These war wahrscheinlich das falsche Wort. Oder sagen wir: Ich habe damit in Wahrheit "Erkenntnis" gemeint. Und das kann was ganz kleines auch sein. Wie z.B. wann (und dann vielleicht noch warum wann) beim bestimmten Artikel im Hebräischen ein Qamaz und wann ein Sereh kommt (ist schon erforscht, natürlich nicht von mir gg). Oder wie die weiblichen Adjektivformen im Umgangsarabisch von Damaskus verwendet werden. All das habe ich auch mit Thesen gemeint - und nicht nur im Lutherschen Sinn griffige Sätze, die sloganartig etwas zusammen fassen.

Zur Zusatzfrage: Bei den Geisteswissenschaften verschwimmt mE manchmal die Frage nach falsch/richtig. Dabei ist es oft schwer, nicht ins geschmäcklerische abzudriften, aber wenn es um Auffassungen und Interpretationen geht (z.B. bei Geschichte) kann man nicht die eine Wahrheit hinstellen. Da gibt es schlüssigere und weniger schlüssige Theorien. Und bei den weniger schlüssigen können auch ganz schöne Erkenntnisse oder Anstöße drin stecken, so dass die als weniger schlüssig empfundene Theorie dennoch als wertvoller Forschungsbeitrag empfunden werden kann.


Hm

@Goldchen: Was für ein Fach hast Du eigentlich studiert? Nur so interessehalber.

@Praschl: Die diskutierten Qualitätsmerkmale sind alle wichtig, aber letztendlich kommt es bei einer wissenschaftlichen Arbeit zumindest für mich darauf an, dass sie selbst Werkzeugcharakter hat, dass sie also keine Stilübung ist, sondern dass sie mir hilft, die Realität besser zu verstehen. Sei es dadurch, dass ich sie mir als Werkzeug aneigne, oder dadurch, dass ich selbst ein Werkzeug entwerfen muss, um eine Arbeit, an der ich meine, dass sie als Werkzeug ungeeignet ist, widerlegen zu können. Es kommt noch hinzu, dass die Gesellschaft mich als Wissenschaftler genau dafür bezahlt: Für ein Mehr an Wissen über sich selbst und ihre Umgebung.


Werkzeugcharakter

@gHack: D´accords. Könnte es aber nicht sein (meine Vermutung), dass es die stilistischen Qualitäten einer Theorie sind, die diesen Werkzeugcharakter ausmachen, wenn wir mal davon ausgehen, dass der sprachliche Stil (der Ausdruck, nenne es, wie du willst) den Denk-Stil (den Weg, von A nach B nach C usw. zu kommen) abbildet, auf die eine oder andere Weise? Dass gute Geisteswissenschaft einem also eher eine bestimmte Weise, etwas zu sehen (hören, erfahren) demonstriert als verortbare Erkenntnisse zu geben?


stil und philologie und kollektivität

naja, man könnte jetzt einmal schreibstil von denkstil unterscheiden, und meinen, es gibt denkstile, die sich unmittelbar als schreibstil manifestieren und andere, bei denen das verhältnis zu schreibstil distanzierter ist. eine vielleicht wissenschaftssoziologische schwierigkeit sehe ich darin, dass geisteswissenschaftler sich oft ein einzelkämpfertum zurechthalluzinieren und vergessen, dass wissenschaft ein kollektives unterfangen ist. ich komm aus einer extrem philologischen prägung heraus, mir wird das philologische, so wichtig es ist, jetzt aber persönlich zu wenig und ich glaube, man muß es um andere komponenten ergänzen. meine kollegen ziehen da nicht mit. müssen sie auch nicht, ich bin eh froh, wenn sie mehr bei der philologie bleiben und meine ansätze ergänzen (bzw. ich die ihren ergänze). das einzelkämpfergeseiere bringt auch mit sich, dass jeder glaubt, sein eigenes modell herstellen zu müssen. da kommt dann ins spiel, was gHack ansprach - man kann kaum noch über thesen oder geschichten sprechen und diskutieren, weil sich die begrifflichkeiten der superoriginellen modellchen alle so sehr unterscheiden. daraus ergibt sich, dass so etwas wie ein kollektiver diskussionsprozeß, der thesen zu verbessern und die schlüssigkeit von modellen zu überprüfen sucht, oft schon nach der erstpräsentation einer these im sand verläuft.


Wenn wir schon mal dabei sind

@Praschl: Zunächst würde ich den Schreibstil vom Denkstil trennen wollen. Um beide in Übereinstimmung zu bringen, bedarf es einer gewissen Meisterschaft. Aber hat eine Arbeit, bei der Schreib- und Denkstil konvergieren und somit maximale Wirkung erzielen, gleichzeitig Werkzeugcharakter? Ich meine: Nein. Ein Irrer kann auch formvollendet wahnsinnig sein - aber er bringt uns damit nicht unbedingt weiter. Hier besteht die Gefahr, es könnte auch auf l'Art pour l'Art hinauslaufen, und das lehne ich in der Wissenschaft ab. Wenn ich zu einem bestimmten Thema recherchiere, dann will ich nicht beheideggert werden, sondern ich will es verwenden können. Das alles vor dem Hintergrund, dass wir immer mehr über uns und die Welt wissen und dieses Wissen beim Weiterarbeiten berücksichtigt werden will. Ich habe wenig Zeit. Die Höflichkeit gebietet es da beispielsweise, nicht wie ein Krimiautor zu denken und die Auflösung an den Schluss zu setzen, sondern vor den eigentlichen Text eine möglichst präzise Zusammenfassung zu Thema, zentralen Begriffen und fachlicher Verortung zu stellen. Und zwar möglichst maschinenlesbar. In einer Datenbank. Viel von dem, was heute in den Geistes- und Sozialwissenschaften passiert, ist vorwissenschaftlich. Hätten wir einen leistungsfähigen Datenbankcluster allein nur mit Studien zur Medienwirkung, so könnte man in einem Fall wie in Erfurt nicht nur herumgackern, sondern in gebotener Geschwindigkeit recherchieren, welche Studien es zum Thema Gewalt in den Medien in letzter Zeit gegeben hat und zu welchen Schlüssen diese Studien gekommen sind. Die Zeiten des Universalgelehrten sind vorbei. Die Zeiten von Personen, die ihr eigenes Fach noch überblicken konnten, ebenfalls. Wir müssen das mit den uns schon heute zur Verfügung stehenden Informationssystemen kompensieren.


öh

katatonik hat ihres gepostet, während ich meines geschrieben habe. Ehrlich :)


nee nee,

ich hab ja nicht gesagt, dass es darauf ankäme, l´art pour l´art zu veranstalten und jetzt gleich auf so etwas wie verifizier- oder überprüfbarkeit und dergleichen zu verzichten. vielleicht sollte man das aber 2002 dazusagen, dass es in der wissenschaft darum geht, richtiges zu sagen (oder zumindest sagen zu wollen), erkenntnisse zu mehren usw., ich hab das halt als common sense vorausgesetzt. - community of investigators, debattenfähig, alles klar. meine frage geht ja dahin, wie ein geisteswissenschaftler einen kollegen als gut, interessant usw. identifiziert, also nach einer beurteilung innerhalb dieser community. einer wie ich, der laie ist und sozusagen gutgläubiger sein muss als ein professioneller, der besser überprüfen kann, ob in einer theorie sachlicher unsinn verzapft wird, der wird sich zum beispiel eher als ein wissenschaftler vermutlich auf so etwas wie eleganz in der darstellung, gute rhetorik, binnenlogische widerspruchsarmut verlassen müssen als ein kollege, nehme ich an. einem kollegen, der den stand im fach besser überschaut, wird das vermutlich nicht so wichtig sein, der wird vielleicht sogar misstrauischer gegenüber rhetorischen kniffen sein, weil er denken könnte, dass damit schwachstellen in der argumentation ausgetrickst werden sollen. so ähnlich. - andererseits. einer wie hegel (okay, wir können darüber streiten, ob das geisteswissenschaft ist, aber er selbst hat seine arbeit als wissenschaft des geistes eingeführt und muss sich insofern dran messen lassen), einer wie hegel also ist ja im wesentlichen methode, also "stil". wenn man dann überall in hegel konstatiert, dass der lauter unsinn verzapft hat (z.bsp. über afrikaner, oder über wirbeltiere), erledigt das seine größe als geisteswissenschaftler? und wenn nicht, was genau ist dann seine größe? etwa, dass er auf eine neuartige weise irrtümer begangen hat?


für mich sind die unterschiede zwischen geisteswissenschaftlichen arbeiten und literatur nicht so groß, jedenfalls, wenn in beiden bereichen von den "großen" sachen die rede ist. die themen sind doch eh schon immer die gleichen gewesen, der fortschritt liegt entweder in der erhöhung der auflösung, oder in der verwendung neuer betrachtungsweisen. eine gute geisteswissenschaftliche arbeit ordnet, betrachtet ihren gegenstand im feld der bereits gewonnenen und wieder verworfenen erkenntnisse, schafft an bestimmten stellen eine höhere auflösung und verbessert damit das verstehen. die aufsätze oder bücher, die das denken und damit auch die wissenschaft in größerem maßstab verändern und damit zu den allseits beliebten klassikern werden, wenden für mich eher eine neue sichtweise an. das führt natürlich immer zu einem bruch mit den bis dahin gängigen theorien (der natürlich keineswegs absolut sein muß), schafft aber die möglichkeit, welt anders zu begreifen als bisher, und nicht nur besser. hier rückt für mich die geisteswissenschaft aber auch ganz nah an die literatur, die für mich eine ähnliche funktion erfüllen sollte. insofern sollte man möglicherweise unterscheiden zwischen guten geisteswissenschaftlern und guten denkern. aber eigentlich habe ich gar keine ahnung.


jetzt wirds bald happig

irgendwie schwebt hier so im raum herum, dass eh alle fragen schon irgendwann mal gestellt und eh alle schon zur genüge durchgekaut wurden, und weiters, dass sich geisteswissenschaft zunächst abstrakte fragen oder themen stellt und dann theoretisch erörtert. die geisteswissenschaft, mit der ich vorwiegend zu tun habe, ist eigentlich ganz anders. sie geht von verdammt alten texten aus, die fremden kulturkreisen entstammen, fizelt mit deren manuskripten herum und braucht oft jahrelang, um einzelne kapitel, geschweige denn ganze texte, überhaupt erst brauchbar herauszugeben. dann kann das zeug gelesen werden, ist für verständnis offen, läßt sich mit bereits bekanntem in beziehung setzen und so weiter. zunächst gehts einmal darum, die dinge historisch überhaupt faßbar und einordenbar zu machen, was in meinem fall (indien) oft verdammt schwer ist, weil manuskripte nicht datiert sind, denker, die jahrhunderte auseinander liegen, oft gleiche namen haben, und sowas wie eine externe chronologie praktisch ganz und gar fehlt. diese arbeit des erschließens - editionsphilologisch, linguistisches verstehen, verstehen von philosophischem gehalt, historisches einordnen - ist auch gute geisteswissenschaft, auch, wenn sie nicht von theoretischen fragen oder themen ausgeht, die sie mit entsprechenden denkwerkzeugen zu beantworten sucht. es gibt indologen, die dann erwarten, in ebensolchen texten superneue ideen zu finden, die sie in modernen (postmodernen) kontexten verbraten zu können. sicher auch unter dem druck einer aufmerksamkeitsökonomie am wissenschaftlichen markt. aber auch unter dem druck eines denkökonomischen primats, nach dem das, was vor jahrhunderten gedacht wurde, nur noch so viel wertvoll ist, insofern es sich für heutige fragen verwerten und auswerten läßt. ich kann damit sehr wenig, und immer weniger anfangen, und finde es eigentlich viel spannender und notwendiger zu entdecken, dass gewisse texte gerade NICHT die fragen beantworten, die unsereiner sich heute so stellt. will sagen: das moment historischer fantasie. (die eigentlich schon dann untergraben wird, wenn sich in filmen menschen aus dem 19. jahrhundert so begreifen und verstehen wie solche des 21.) und daran anknüpfend die scheinbar triviale, aber für mich im einzelfall immer wieder erstaunliche erkenntnis, dass das stellen von bestimmten fragen keine selbstverständlichkeit ist und historisch etc. bedingt ist. gehört alles schon nicht mehr hierher, aber gestern hab ich meiner stiefmutter, die wo über 60 ist, geholfen, für ihre spätmatura ein paar historische fragen auszuarbeiten. 15 fragen über antike geschichte. in jeder dritten kam das wort "leistung" vor. kulturelle leistungen der ägypter, zivilisatorische leistungen der griechen. immer wieder erstaunlich, wie sehr sich dieser leistungswettbewerb der zivilisationen schon darin festgefressen hat, welche fragen man heute über antike geschichte stellt.

witzigerweise stellt sich übrigens oft heraus, dass gerade leute, die im "cultural studies" bereich arbeiten, wos ja sehr viel um differenz und politik und marginalismen und so geht, überhaupt keine geduld haben, wenn man sich historisch ins altertum begibt. hab unlängst einen vortrag gehört, wo eine cultural-studies-spezialistin selber kritisch meint, die c-s wären vom ansatz her ahistorisch, und dem gerne abhilfe schaffen würde. tja, da scheinen sich dann die gräben aufzutun, deucht mir.


@gHack

Ich habe Arabistik und Judaistik studiert. Ich hätte lieber Islamwissenschaften studiert, aber das gibt es in Wien nicht, weil mich gerade beim Arabischen die stark linguistische Ausrichtung des Studiums nicht interessiert hat. Anders bei Judaistik: Da war der Zugang ein historischer, aber dann hat sich mein Interesse an der Sprache, die ich emotional sexy und nüchtern betrachtet einfach faszinierend finde, immer weiter ausgeprägt.

Ich habe sogar kurz - und mit Chancen - überlegt, in die Richtung wissenschaftlich zu arbeiten, hatte sogar schon einen Doktorvater (immerhin ja nur Zweitfach gewesen). Aber dann habe ich mir das noch mal überlegt, nämlich das, wovon katatonik schreibt. Genau das habe ich beim Studium schon mitgekriegt: Es ist jahrelange Fitzelei, sehr genau, vieles ungewiss, nix mit lustvoll schnellen Ergebnissen. Und daher musste ich wegen mancher meiner unauslöschlichen Charaktereigenschaften dann doch ablehnen - und in die Medien gehen.

In dieser Diskussion kann ich mich mit deinem und katatoniks Standpunkten übrigens am meisten identifizieren.


@Goldchen

Ich weiss, was Du meinst. Ich wollte eigentlich nie an die Uni. Ich habe diesen Betrieb gehasst. Mittlerweile weiss ich mehr. Aber immer das Falsche. In den Medien habe ich auch gearbeitet. Ich habe fast nichts anderes in meinem Leben gemacht, als technisch oder inhaltlich die Kommunikation am Laufen zu halten.

Arabistik und Judaistik... interessant. Linguistik ist für mich nicht spannend. Ausser dem Gedanken, dass verschiedene Schriftformen und Symbolcodes im Gehirn von verschiedenen Areas ausgewertet werden. Wer anders schreibt, denkt auch ganz anders. Japanische Literatur steckt den Subtext woanders hin als die unsere.


touchiert

@katatonik: Stimmt, du hast recht, guter Punkt Ich hab halt die beschränkte Voraussetzung, dass ich mich eher mit der Philosophie und den Lit Wissenschaften ein wenig auskenne. Eh klar ist gute Philologie die beste Geisteswissenschaft. Aber so fern von dem, was ich vermutet habe, kommt mir nicht vor, was du sagst: dass dich gerade das interessiert, was sich nicht so mir nix dir nix ins großartige postmodern-Irgendwas überführen lässt. das sperrige dran. das geht mir ja bei den mysteriöseren texten, die ich lese genauso. ich weiß genau, wenn ich die erhabenheitstheorien von kant in das hineindenke, was der up do date ästhetik-theoretiker so braucht, dann verliert das sofort das, wovon man zumindest die ahnung hat, dass es die theorie gut macht (wobei ich halt nicht wirklich weiß, was genau "gut" heißt in diesem zusammenhang).


Das ist immer so

Erst wird man von der Universität systematisch enttäuscht, dann wird man selbst zum Produzenten von Enttäuschung.


Giftige Orientalisten

hier