Montag, 8. Januar 2001

Gerade den offenen Brief von Bettina Röhl an Johannes Rau gelesen. Offene Briefe, ach ja. Vermutlich geht der nächste an den Europäischen Gerichtshof oder an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Vermutlich mit noch irreren Sätzen als zum Beispiel diesen:

"Diese Sinn- und Zwecklosigkeit seines auf bloße politische Attitude reduzierten Lebens hält nach meiner Einschätzung kein wirklich normaler Mensch zehn Jahre durch geschweige denn, dass er Lust dazu hat. Und es ist auch deswegen nicht durchzuhalten, weil allein schon das normale Ablenkungsgeschehen durch Ausbildung, Beruf, Freundschaft, Familie usw. doch so groß ist, dass man normalerweise irgendwann so abgelenkt ist, dass man ein solches gewaltfixiertes Leben - segensreicher Weise, schlicht und ergreifenderweise vergisst."
Hat er doch, der Fischer, wie sie ihren Dämon nennt, weil er jede Nacht, jede Sekunde zu ihr kommt, weisst du doch: Das gewaltfixierte Leben durch das Ablenkunggeschehen des Berufs schlichterweise vergessen. Wo liegt das Problem?





Das hat er nun davon, dass er drin ist. Telepolis berichtet: "Auch Richter können kreativ und dem Fortschritt gegenüber offen sein. In einem Berufungsverfahren kam jetzt ein amerikanisches Gericht zu dem Urteil, dass es durchaus reicht, wenn ein Vater über das Internet seine Tochter "besuchen" kann, die bei seiner geschiedenen Frau lebt."





Der Guardian berichtet in seinen Internet-News, dass Suizidgefährdete eher Emails nutzen als anrufen, um vom Samariterbund (UK) Hilfe zu erbitten.





Der Britney Spears guide to Semiconductor Physics. Endlich wird der systematischen Unterschätzung ein Ende gemacht.





Sehr schönes Zitat aus der Hannoverschen Allgemeinen: "Wie harmlos ist dagegen das Revoluzzer-Leben von Stadtkämmerer Stephan Weil (SPD). Ihm fällt partout nichts Illegales aus seiner Vergangenheit ein. "Ich entschuldige mich ausdrücklich", sagt der Kämmerer, "für meine langweilige Jugend."





How German Is It ist nicht nur einer der besten Romane ever, sondern auch eine Frage, die ich mir vergangene Woche wieder gerne gestellt habe. Zuerst das Balkan-Syndrom (und ich dachte, nur ich leide daran, aber das ist eine andere Geschichte...), dessen Ironie niemandem in der deutschen Presse aufzufallen scheint: dass man bei der Genozid-Bekämpfung gleich die ganze Gegend, in der das angebliche Genozid stattfindet, mit Uranstaub verstrahlt (um Panzer-Attrappen aus Pappe zu treffen); aber jetzt, da der Wiedergutwerdungsauftrag abgeschlossen sind, interessiert sich keiner mehr für die armen Schlucker, die es ausbaden müssen, für die neue Weltordnung gerettet worden zu sein. Interessant sind nur unsere Jungs, die sich möglicherweise Leukämie geholt haben könnten (I could not care less...). - Die zweite "How German Is It"-Geschichte ist das Joschka-Syndrom, eine weitere Gedächtnis-Schlacht. Arme Terroristentochter Bettina Röhl: So wild herumgefuchtelt, um Vergangenheit aufzudecken, und keiner nimmt es dem Minister krumm. Hätte man wissen können: In Deutschland hat man Ministern Vergangenheiten noch nie krumm genommen. Was ist gegen Anpassung einzuwenden?

Fällt eigentlich nur mir auf, wie hartnäckig bei der Joschka-Geschichte niemandem auffällt, dass es sich bei den Hausbesetzungen im Frankfurter Westend damals gelegentlich auch um den Versuch handelte, jüdischen Immobilienbesitz zu arisieren?





Auch eine Dotcom-Todesart: death spiral loans - Kredite, die in Aktien zurückgezahlt werden können, und bei denen die Kreditgeber natürlich auf Teufel-komm-raus den Kurs abwärts treiben. [Thanx, Martin Virtel, für die Berichte von der Front...]





Mes Madeleines.

Manchmal, an Tagen, an denen ich stundenlang nur auf die Wolken vor dem Fenster schaue und dazu merkwürdige Musik höre (heute war es Live At San Quentin von Johnny Cash), überfallen mich die merkwürdigsten déja vus. Aus den Wolken schneien Erinnerungen, und Johnny Cash wird zum Chor aller Stimmen, deren Lieder mich gesucht haben (ich weiss nämlich, dass die Lieder einen suchen und man nicht die Lieder sucht). Big Joe Williams zum Beispiel, der damals, als ich ihn gesehen habe, schon weit über 70 gewesen sein muss und noch viel älter aussah, so alt, wie 2001 nur der Papst aussieht: wie sie ihn auf die Bühne hoben, so wie man nur Alte heben kann, weil sie ohnehin kaum noch da sind, und wie er dann seinen Blues sang, der schon klang, als käme er von einem Toten; Geisterlieder aus einer Zeit, in der die Geister noch Macht hatten, manchmal jedenfalls, suddenly a voice in all dem Gefasel. Und Bob Dylan fiel mir ein, das Konzert in Dresden, im Vorprogramm der unsägliche Gundermann, im Publikum unsägliche Bratwurstfresser und Wunderkerzenschwenker, doch all das versank, als der Columbia Recording Artist seine eigenen Lieder zersang, bis sie wieder so weh taten wie gute Lieder es müssen, suddenly a voice. Und Johnny Thunder fiel mir ein, wie er Que Sera singt, zu einer Gitarre, die auch schon hinüber war, mehr weg als da, ein Que Sera, dem man sofort anhörte, dass nichts mehr sein wird, nichts Nennenswertes. Und Johnny Cash eben, der in San Quentin von San Quentin sang, San Quentin, I hate every inch of you, und einen Augenblick hörte es sich an, als würden sie alle aufstehen und ausbrechen, aus San Quentin und jedem anderen Gefängnis, und jedes Mal, da ich es hörte, fühlte ich diese Sekunde, in der es genügen würde, einfach aufzustehen und die Mauern einzureissen, und jedes Mal, da ich es hörte, glaubte ich von neuem daran, dass sie aufstehen und ausbrechen würden, obwohl ich genau wusste, dass es nie dazu kam, dass nach dem San Quentin Song noch ein paar andere Nummern kommen und am Ende des Konzerts, nach der letzten Nummer, alle wieder zurück müssen in ihre Zellen.

Und noch ein Lied fiel mir heute ein: Das Lied, das das Modem sang, als ich das erste Mal im Netz war, dieses piepsende kleinstimmige Lied, das sich immer so anhörte, als würde es sich überschlagen und verirren, und das dann plötzlich in einem Rauschen landete, einem Rauschen wie vom Meer. Seit damals besteht für mich, durch einen merkwürdigen synästhetischen Reflex, den ich mir nicht mehr abgewöhnen kann, das Netz aus - Stimmen, nicht aus Texten. Bei den meisten höre ich weg, wie ich über die Top 10.000 hinweghöre, aber manchmal fällt mich eine an, und ich weiss, ich werde sie nicht mehr abschütteln können, selbst wenn sie längst verschwunden sind, verloren irgendwo im Datennichts; die Geschichte dieser Jungfrau damals, deren Lesezeichen heute nur noch in eine 404-Not-Found-Sackgasse führt, und die so sehnsüchtig von der Sehnsucht schrieb, endlich einmal berührt zu werden (auf eine Weise berührt, die stärker ist als man selbst), dass man sofort selbst am liebsten das Wissen wieder gegen die Sehnsucht nach dem Wissen eingetauscht hätte; oder das Diagramm mit dem Lorm-Alphabet, mit dessen Hilfe Taubblinde miteinander sprechen; oder die African-American Pamphlet Collection mit so aberwitzigen Dokumenten wie Hell Located, Described and Measured According to the Bible and Science, in dem Professor C.A.Taylor schon 1867 bewiesen hat, dass die Hölle "in den Eingeweiden der Erde" liegt. Und noch eine Stimme neuerdings, die von blackandwhiteandblue für die Stunden zwischen zwei Uhr früh und jetzt....

Diese Stimmen sind es, worum es geht. Ich wünschte, auch andere, einer wie Arne, könnten, in den Minuten vielleicht, in denen sie in die Wolken schauen, den Gedanken denken, dass all die recording technologies, die je erfunden wurden, der Buchdruck, das Grammophon, das Internet, nur deswegen erfunden wurden: damit diese Stimmen zu einem kommen, aus den Wolken geschneit, aus dem Rauschen eines Modems. Dass das falsch ist, weiss auch ich; allerdings nur so falsch wie die Behauptung, dass Menschen einander küssen, weil sie einander lieben; die Naturhistoriker wissen es besser; doch hören sie nicht auf, ihre Liebsten zu küssen, und sich zu belügen über die Gründe, aus denen sie geküsst werden. Sie wären sonst verloren...