Gestern wurde hier eine ziemlich erbitterte Auseinandersetzung über Pim Fortuyns Auffassungen geführt, an der ich mich - keine Zeit - nicht beteiligen konnte. Ich möchte ein paar Argumente nachreichen, von denen ich mir einbilde, dass sie einigermaßen überzeugend sind. Ich hätte noch mehr gegen PF einzuwenden, aber ich beschränke mich auf Positionen des bürgerlichen Liberalismus; traurig ist, dass nicht einmal sie sich noch von selbst verstehen.
- Die Boot-ist-voll-Metapher. Holland ist überbevölkert, da brauchen wir keine neuen Leute, die uns nur den kostbaren Platz wegnehmen.
Holland ist zwar dicht bevölkert, aber nicht überbevölkert. Was ist das Problem? Verhungern die Holländer? Geht es ihnen schlecht? Waren sie nicht immer schon dicht bevölkert? Ist es nicht eine großartige historische Leistung Hollands gewesen, aus wenig Platz ökonomisch immens viel zu machen? Muss Holland Nahrungsmittel importieren, weil die vielen Leute alles wegfuttern? Oder exportiert Holland Nahrungsmittel, weil es eine leistungsfähige Agrarindustrie hat? Oder geht es möglicherweise einfach nur darum, dass man selbst gerne mehr Auslauf und Aussicht hätte?
- Es gibt zu viele Ausländer.
Dazu eine Zahl aus dem Spiegel-Weltalmanach: Ausländeranteil: 4,2 %, darunter 19,4 % Marokkaner, 15,4 % Türken, 8,2 % Deutsche, 5,9 % Briten. Die Vergleichszahl für Deutschland: 82,183 Mio. Einw., davon 91 % Deutsche, 2,4 % Türken.
Mir sagt das: In Holland ist der Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung nicht einmal halb so groß wie in Deutschland. Selbst wenn wir in Rechnung stellen, dass dort Einbürgerungen möglicherweise einfacher sind als hierzulande (weiß ich aber nicht), kann es dort kein "Ausländerproblem" geben, das eine liberale und moderne Gesellschaft (als die Pim Fortuyn selbst die holländische ja permanent bezeichnet) nicht lösen könnte.
Noch ein Detail dazu: Seit Jahren wird uns immer wieder vorgerechnet, dass die niedrige Reproduktionsrate in Deutschland zu einem bedenklichen Bevölkerungsschwund und zu noch bedenklicherer Überalterung der deutschen Gesellschaft führt, die man beide nur durch forcierte Immigration beheben könne. Das müsste logischerweise auch für die Niederlande gelten, es sei denn, dort vermehren sich die Leute anders als bei uns. Also vergleichen wir mal die Fruchtbarkeitsraten. In Deutschland liegt der Wert bei 1,4 Geburten pro Frau, in Holland bei aufregenden 1,5 Geburten/Frau. Es scheint also nicht so zu sein, als könnten der niederländische Arbeitsmarkt, das Renten- und das Sozialsystem usw. auf Immigranten verzichten, ohne sich ein paar nicht leicht lösbare Probleme einzuhandeln.
- Es gibt zu viele Einwanderer aus nicht-westlichen Kulturkreisen, namentlich aus Ländern mit islamischer Kultur.
Stimmt das? Weiter oben haben wir schon erfahren, dass von den 4,2 % Ausländern ein gutes Drittel aus Marokko und der Türkei kommen. Lasst uns großzügig annehmen, dass noch einmal so viele Immigranten aus anderen "islamischen" Ländern kommen und dass noch einmal so viele nicht erfasste, z.Bsp. illegale Immigranten Muslims sind. Wir kommen mit diesen großzügigen Spekulationen immer noch erst auf einen Wert von ungefähr 5 % in Holland lebenden Ausländern, die man dem Islam zurechnen könnte. Die Aufschlüsselung der Religionen im Spiegel Weltalmanach sagt übrigens folgendes: 34 % Katholiken, 25 % Protestanten, 3 % Muslime.
Frage: Wie sollen es 5 % schaffen, eine liberale, aufgeklärte, demokratische, moderne Gesellschaft zu zerstören oder auch nur nachhaltig zu verändern, ihren Lifestyle, ihre Auffassungen, ihre Werte, ihre tiefsten Überzeugungen zu gefährden? Wenn ich ein niederländischer Nationalist wäre, wäre ich ziemlich sauer über jemanden wie Pim Fortuyn, der mir sagt, dass die Nation, auf die ich stolz bin, so schwach, so uncharismatisch und so wenig attraktiv ist, dass sie 5 Prozent überzeugter Muslims nicht nur nicht von ihren Vorzügen überzeugen kann, sondern durch sie sogar in Gefahr gerät.
Ich für meinen Teil finde es sehr angebracht und hoch an der Zeit, sich einmal nüchtern zu überlegen, welche Sorte von Gleichungen Herr Fortuyn - und im übrigen alle möglichen Heimatschützer - da aufmachen. Läuft es zum Beispiel nicht jeder Erfahrung zuwider, Menschen aus Gegenden, in denen bestimmte Religionen vorherrschen, umstandslos mit deren verstocktesten und allerreaktionärsten Positionen zu identifizieren? Könnte es nicht zum Beispiel auch sein, dass ein homosexueller Iraner genau deswegen nach Amsterdam übersiedeln will, weil er dort für seine Homosexualität (hoffentlich) eben nicht mehr angepöbelt wird? Ist es zum Beispiel nicht denkbar, dass eine Frau aus Afghanistan gerade aus dem Grund nach Rotterdam will, weil sie dort (hoffentlich) größere Chancen hat, der Frauenverachtung und dem Sexismus in dem Kaff, in dem sie gelebt hat, zu entkommen? Herr Fortuyn, der vorgab, gegen Immigranten aus islamischen Ländern nur deswegen zu sein, weil sie den holländischen Liberalismus gefährden, ist mindestens so illiberal wie die angeblichen Feinde der Liberalität: Er weiß, dass sie Sexisten und Schwulenhasser sind, und er weiß es nur, weil sie einen Pass haben, der ihm nicht passt, er weiß es also nicht. Eine solche Wahrnehmung nennt man gemeinhin: rassistisch.
- Die da oben mauscheln untereinander, betreiben herzlose kalte technokratische und Bürokraten-Politik, die von den Problemen der Bevölkerung keine Notiz nimmt.
Soweit ich mitbekommen habe, geht das in Holland wie hierzulande: Es gibt Politiker, demokratisch gewählt, die erstens öffentlich besichtigbare Sitzungen und Debatten abhalten und zweitens permanent den Medien Auskunft über das geben, was sie tun, warum sie es tun, was sie nicht tun und warum sie es nicht tun. Es gibt zudem in den Niederlanden auch ordentliche Medien, die ziemlich getreulich reportieren, was in Den Haag geschieht und was nicht. Gemauschelt wird da gar nichts, sondern es wird alles öffentlich gesagt. Wenn einem die Menschen, die gerade die Regierung innehaben, nicht passen, wählt man eine andere Regierung, wenn einem das auch nicht genügt, gründet man eine eigene Partei oder eine außerparlamentarische Interessensgruppe und legt seinen Standpunkt, so gut es eben geht vor. Genau das hat ja der Herr PF auch gemacht.
Das Lamento über die entfremdete, undurchschaubare, anonyme Politik ist kompletter Schwachsinn. Man kann Zeitung lesen, Fernsehen gucken, in die Parteien gehen, selbst eine gründen usw. Falls man keine Lust hat, sich mit Politik zu beschäftigen, muss man sich nicht bei ihr darüber beschweren, dass man sie nicht versteht oder dass sie einem nicht behagt, dass sie einem fremd ist oder weiß Gott was.
Nächster Punkt: Ziemlich alles an Politik ist leider nun einmal sehr kompliziert. Leider Gottes hängt alles mit allem irgendwie zusammen. Wenn ich zum Beispiel Bürokraten abschaffen will, muss ich mir überlegen, was ich mit ihnen mache, wenn sie keinen Job mehr haben. Wenn ich mehr Schulen, Spitäler, Jugendzentren haben will, muss ich möglicherweise darüber nachdenken, wo ich das Geld für ihren Betrieb herbekomme und möglicherweise die Steuern erhöhen, Wohlhabende enteignen, Leute zu Gratisarbeit verdonnern, whatever. Wo immer man es anpackt mit der Steuerung von Gesellschaft, wird es kompliziert - das gilt für jeden, der eine Nation und eine Nationalökonomie steuern müsste, ob er nun Thatcher-Liberaler ist, Planwirtschaftler, Sozialdemokrat oder Faschist. Insofern ist es ein komplett hohler und nur auf Ressentiments spekulierender Vorwurf, wenn man einer Politik nachsagt, sie wäre techno- oder bürokratisch. Politik muss technokratisch und bürokratisch sein. Es ist sogar ein historischer Fortschritt, wenn sie es ist, und ich würde jedem raten, sich Sorgen zu machen, wenn er es mit einer Politik zu tun bekommt, die nicht technokratisch und bürokratisch ist. Man kann das eine oder andere ändern, umsteuern, anders gewichten, verschlanken, effektiver machen, aber am Prinzip würde auch ein Herr PF nichts ändern können.
Im Programm der Liste Fortuyn kann man dann nachlesen, wie einfach die einfache, volksnahe Politik aussehen soll, die die herzlose Lila Koalition ablösen soll. Was tun gegen Kriminalität? Wir schicken Militärpolizei(!) in die Quartiere. Was tun gegen den Pflegenotstand? Vielleicht führen wir einen Arbeitsdienst für junge Männer und Frauen ein. Wie lösen wir das Problem der steigenden Frührenten? Wir definieren die Krankheitsbilder neu und kontrollieren scharf die Krankenstände. Wie machen wir das mit dem Arbeitsmarkt? Moderate Lohnabschlüsse.
Ich glaube, das Muster in all dem ist relativ deutlich. Sympathisch klingt es nicht gerade, auch nicht wirklich nach frischem Wind.
- Organisation der Volksgemeinschaft. Was die Liste Fortuyn haben will, ist eine feine kleine Volksgemeinschaft. Der Staat soll warm sein, seinen Bürgern das Gefühl geben, er hätte ein Herz und offene Ohren für sie, alle sollen ungefähr dieselben Werte teilen, die einfachen Leute wissen es besser als die abgehobenen Politiker, Parteien brauchen wir nicht, dafür eine große vitale Volksbewegung.
Hört sich für mich nicht besonders vertrauenserweckend an. Eher nach einer gefährlichen Drohung.
dass es ein Zeichen von besonders blöder Blödheit ist, aus dem Umstand, dass Pim Fortuyn schwul gewesen ist, einen Beleg gegen seinen Rechtsradikalismus zu machen? Und was bitte soll so irre bemerkenswert daran sein, dass einer sagt, was er denkt?
Gestern erst im vorletzten Profil das Interview mit Pim Fortuyn gelesen. Und sofort gedacht: Das ist der Typ, der es schaffen wird. Diese Sorte von Rechts. Konsumistisch, irgendwie liberal, das alte Yuppie-Programm ins Politische übersetzt. Nicht rassistisch, sondern gegen die Armen, die armen Fremden, das Dörflerische, Hinterwäldlerische. Hedonistischer Mittelschicht-Zweidrittel-Gesellschaft-Rechtsgrobianismus. Eure Armut kotzt mich an, so in etwa. Und er hatte Recht, dass er sich von Haider, Le Pen entschieden distanziert hat. Das war eine neue Sorte mit einer Markenidentität, die so gut ausgedacht war, als käme sie von einer Werbeagentur. Scheisse, dachte ich, das ist der Typ, der Haider immer sein wollte, das ist der Typ, der es geschafft hat, das Houellebecq-Programm ins Politische zu transformieren, das ist der Typ, den die in Airport Lounges und den Macchiato Bars alle wählen würden, wenn es ihn hier gäbe.
Irgendeiner wird es kopieren, in einem Jahr dann wieder, vielleicht erst in zwei Jahren. Aber der wird Wiedergänger haben, da bin ich sicher.
Wirklich schlimm kann ich das Ergebnis der französischen Wahlen immer noch nicht finden. Ungefähr 15 Prozent für Parteien links von der Sozialdemokratie - die ja ihrerseits weiter links steht als die Schröder/Blair-Modelle - sind doch in Ordnung. Chirac, der den zweiten Gang mit locker 3/4 der Stimmen gewinnen wird, ist zwar (setzen Sie hier gerne ein paar abscheuliche Eigenschaften ein), aber er hat immer schön Herrn Haider gedisst und bei den Anschlägen auf die Synagogen in den vergangenen Wochen das Richtige gesagt. Was ihn im Vergleich zu anderen Konservativen in Europa dann doch nicht so schlecht aussehen lässt. Oder wo genau würden Sie auf einer Geraden zwischen M. Chirac und M. LePen die Messieurs Stoiber, Möllemann, Khol (ich meine den aus Österreich) einzeichnen?