Im Zusammenhang mit der Möllemann-Diskussion tauchen wieder diese Wendungen auf, die mich schon immer mystifiziert haben: "sich den Mund nicht verbieten lassen" oder "mundtot machen". Wie, frage ich mich, soll das denn eigentlich gehen, jemandem den Mund zu verbieten? Kommt da einer und sagt: Du darfst ab jetzt nichts mehr sagen! Und falls das geschähe, was würde einen daran hindern können, wirklich nichts mehr zu sagen? Glaubt irgendjemand wirklich daran, dass wirklich jemand versucht, einen wie Möllemann am Reden zu hindern oder dass das gelänge? Sagt der Mensch, der nicht mundtot gemacht werden will, eigentlich nicht bloß: dass ihm nicht widersprochen werden soll? Also: dass er es gerne hätte, wenn der Mund des anderen tot wäre?





Ein schönes neues Plätzchen haben die Israelkritiker und strikten Feinde des Lobbyismus, die nun aber wirklich keine Antisemiten sind, dank Möllemann gefunden. Die NRW-Lounge, das Internet-Diskussionsforum des FDP-Landesverbandes NRW. Dort sprechen sie sich aus, auf gelbem Background, umrahmt von gleich zwei Ansichten des Fallschirmspringers, Vorderansicht, Profil, Ohr frei, so einer kommt überall hin.

Drei Kostproben:

[1] Herzlichen Dank Herr Möllemann! Bezüglich Herrn Friedmann haben Sie heute voll meine Meinung vertreten! Auch ich kann diese ständige Pauschaldiffamierung kritisch denkender Mitbürger nicht mehr ertragen! In der Nachkriegsgeneration herangewachsen, war ich sicher frei von jeder antisemitischen Einstellung. Seit ich aber die haßgeprägte Agitation von Herrn Friedmann verfolge, wird es für mich immer schwieriger, mir meine unbeschwerte Haltung gegenüber jüdischen Mitbürgern zu bewahren. Bleiben Sie bitte standhaft!
[2] Sie haben mit Ihrem Artikel recht. Es geht aber noch weiter. Diese ganze Kampagne ist "gewollt und gelenkt", denn immer wenn Israel Geld benötigt, dann halten wir Deutsche her. Was haben wir Generationen nach dem 2. Weltkrieg geb. noch mit dem Holocaust zu tun ? So schlimm dies alles war, wir haben gezahlt. Was macht denn Israel, sind die besser als Hitler ? Das Geschwür Antisemitismaus hat Namen und Gesichter- 2 davon - Spiegel und Friedman. Wo wird noch gefoltert ? Wo gibt es noch Massengräber ? Nein, so kann und darf es nicht weitergehen. Palästina muss endlich ein eigener Staat geben.
[3] Sehr geehrter Herr Moellemann, Ihre Aeusserung ueber Friedmann war noch milde ausgedrueckt. Wir sind Deutsche Bundesbuerger in den USA, auch wir sind in bezug auf Friedmann ueber sein Auftreten und die weise wie er sich ausdrueckt sehr veraergert , wir halten Ihnen die Daumen machen Sie weiter so mit freundlichen Gruessen Deutsche Buerger aus den USA




I. Aus der Rede Walsers im Bundeskanzleramt.

Eine Zugehörigkeit muß man erleben, nicht definieren. Auch die Zugehörigkeit zu einem Geschichtlichen hat man nicht zuerst als Erkenntnis parat, sondern als Empfindung, als Gefühl. So kommt es - wenigstens bei mir - zu einem Geschichtsgefühl. Frage sich jeder selbst, ob er, wenn er versucht, das Wort Nation zu definieren, nach dem Definieren mehr weiß, als er vorher durch Empfindung wußte. Ja, wußte. Man kann nämlich durch Empfinden wissend werden.
(...) Ich bestehe trotzdem auf meinem Geschichtsgefühl. Diese intellektuellen Intellektuellen, wie ich sie nennen möchte, machen zwischen Fühlen und Denken den Unterschied, den die Kirche zwischen Leib und Seele machte. Das darf man inzwischen komisch finden. In der als rational berühmten französischen Sprache hat Vauvenargues formuliert: "Les grandes pensées viennent du coeur." Und Pascal prägte: Raison du coeur.
Ich kann mir vorstellen, daß diese großbuchstabig sentenziöse Form einen praktizierenden Intellektuellen nicht beeindruckt, deshalb möchte ich, weil mir diese bei uns geübte Einteilung kritisierenswert erscheint, einen Helfer zitieren, der sich diesen Unterschied zwischen Denken und Fühlen in unserer Sprache vorgenommen hat, nämlich Nietzsche. In seinem Buch "Morgenröthe" sagt er, daß all unser sogenanntes Bewußtsein ein mehr oder weniger "phantastischer Commentar über einen ungewußten, vielleicht unwissbaren, aber gefühlten Text" ist. Also, bitte, das Bewußtsein nur ein Kommentar zu einem gefühlten Text. (...) Wer als Intellektueller glaubt, er könne oder müsse gar über Nation gefühlsfrei denken, den darf man wohl, mit allem Respekt, einfältig nennen.
Mein Geschichtsgefühl, Deutschland betreffend, ist der Bestand aller Erfahrungen, die ich mit Deutschland gemacht habe. Mit dieser Nation. Wenn es sich um etwas geologisch Erfaßbares handeln würde, könnte ich von der Mächtigkeit eines Vorkommens sprechen. Naturnahe Metaphern bieten sich an, weil Geschichte wie Natur ein Prozeß ist, der der Zeit unterworfen ist. Nation wird es einmal nicht mehr geben. Der Zeitraum der Nationenbildung war das neunzehnte Jahrhundert. Überall in Europa. Mit mehr oder weniger staatlichem Anteil und Glück. Man lese nach, wie die jüdische Nation sich bildete mitten im Exil und bis zu Herzl ohne jede staatliche Hoffnung blieb. Und wie die polnische Nation sich bildete durch alle Teilungen hindurch. Und wie abenteuerlich die tschechische Nation sich bildete. Und wie verwegen die italienische. Und wie pathetisch die deutsche Nation sich gebärden mußte, um sich selber empfinden zu können.
Selbstbewußtsein ist das wichtigste Erlebnis bei der Bildung einer Nation. (...) Von den Karolingern zu den Saliern, zu den Ottonen, zu den Staufern, zu den Habsburgern, zu den Hohenzollern - das sind nicht nur heraldische Daten, sondern historische Ströme, die ich erleben kann wie die Donau, den Rhein, die Elbe, die Nordsee oder die Alpen.
Und lange vor unserer Staatlichkeit waren wir eine deutsche Nation und, bitte, nicht nur eine Kulturnation, sondern eine politisch tendierende Schicksalsgenossenschaft, die sich ihrer Zusammengehörigkeit bewußt war, ohne daß sie dafür schon die staatliche Fassung gefunden hatte. Wie durch dieses neunzehnte Jahrhundert hindurch dann von 1823 bis 1888 der Kölner Dom komplettiert wurde, damit man sich auf eine große Tradition beziehen könne, so war auch die ebenso lang beschworene Einheit in einer ebenso vergangenheitsträchtigen Reichsgründung fast zeitgleich gelungen. Es war der Versuch, einer schwärmerisch geliebten reichen Vergangenheit in einer zeitgemäßen politischen Handlung zu entsprechen. Das mag dem und jenem zu vergangenheitssüchtig ausgefallen sein, es war ja auch der Versuch, das Mittelalter mit Dampfmaschine zu betreiben. Aber die Nation hatte jetzt eine Fassung und reagierte darauf mit Hochleistung.
Die, verglichen mit England und Frankreich, zu spät gekommene Nation holte auf mit einem Eifer, der rundum zum Erschrecken führte. Ein Bismarck konnte diese pubertierende Nation gerade noch am Schlimmsten hindern. Seine Nachfolger ließen es zum Schlimmsten kommen. Golo Mann hat den Ersten Weltkrieg die "Mutterkatastrophe des Jahrhunderts" genannt. Ohne diesen Krieg kein Versailles, ohne Versailles kein Hitler, ohne Hitler kein Weltkrieg Zwei, ohne Weltkrieg Zwei nichts von dem, was jetzt unser Bewußtsein oder unser Gefühl bestimmt, wenn wir an Deutschland denken.
Das wichtigste Glied in der historischen Kette bleibt: ohne Versailles kein Hitler. Daß Frankreich, das durch die deutschen Truppen verwüstete, den Versailler Vertrag durchsetzte, muß man verstehen. Daß der Vertrag eine wirtschaftliche Katastrophe produzieren mußte, darf man auch verstehen. (...) Versailles ist sicher nicht die einzige Ursache für 1933, aber daß Versailles auch eine der Ursachen ist für Hitlers Erfolg, darf man wohl sagen.
Bei uns wird heute jedes Buch akklamiert, das die Geschichte so darstellt, als sei sie immer schon auf Auschwitz zugelaufen. Weil wir eben so sind. Erinnern Sie sich, bitte, wer alles und wie laut und wo überall im Land Daniel Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker" propagiert hat. Wenn man aber aus der sorgsamsten Rekonstruktion der Geschichte, der deutsch-jüdischen Familie Klemperer, also aus achtzig Jahren deutsch-jüdischer Geschichte, den Schluß zieht, das deutsch-jüdische Verhältnis hätte unter anderen Umständen nicht in Auschwitz geendet, dann wird einem vom liberalen Wochenblatt "Verharmlosung von Auschwitz" vorgeworfen. Schon das Bestehen auf Erklärbarkeit wird verdächtigt. In der Kirchensprache nennt man diese Haltung dogmatisch. Das sehe jeder, wie er muß. Jeder kann, wenn er will, auf Nation jetzt für immer verzichten. Ich kann das nicht.
Wortführende Intellektuelle haben dann die deutsche Teilung gerechtfertigt mit dem Hinweis auf Auschwitz. Als wäre die Nation ein Individuum, das man, weil es Verbrechen begangen hat, bestrafen könne. Die Teilung hat aber doch weniger die bestraft, die diese Verbrechen bewirkt haben, sondern irgendwelche Deutsche, die damit nichts zu tun gehabt hatten. Und die Argumentation: deutsche Teilung nicht als Strafe für Auschwitz, sondern daß sich Auschwitz nicht mehr wiederhole! Das kommt mir wahrhaft grotesk vor. Auschwitz ist entstanden aus historischen Bedingungen; diese Bedingungen können sich niemals wiederholen. Wer die deutsche Teilung so oder so zu einem geschichtlich Vernünftigen machen wollte, der hat übersehen, daß diese Teilung keine Kriegsfolge war, in keiner Weise mit Auschwitz zu tun hatte, sondern ganz und gar eine Folge des Kalten Kriegs war. (...)
Auschwitz war ein Verbrechen, das singulär wurde durch seine grausame Ausgedachtheit und seine alles Menschliche vernichtende Perfektioniertheit. Aber wer nicht begreift, daß dieses Verbrechen nur möglich war unter den Bedingungen dieses Krieges, der wird nie begreifen, wie Auschwitz überhaupt möglich war. Und dieser Krieg war der allerletzte Krieg, den diese Nation angezettelt hat. Aber die Anzettelung hat eben nicht im Januar 1933 begonnen, sondern viel früher. Unter anderem eben durch die Mutterkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, den Ersten Weltkrieg. Und der Erste Weltkrieg hatte Ursachen, die man aufzählen kann. Man muß sie nicht billigen, aber man kann sie erkennen. Und wenn auch das Entsetzlichste, wozu es kommen kann, erkennbar wird als eine Folge, die aus erkennbaren Ursachen stammt, dann ist mehr getan, als wenn man einer Gesellschaft die Schuld als etwas Absolutes einbleut.
(...)
Daß wir geteilt bleiben sollten, war wahrscheinlich die seriöseste Drohung, der diese Nation je ausgesetzt war. Durch die Schande, die die Nation auf sich geladen hatte, wollten wir mit dem Nationalen überhaupt nichts mehr zu tun haben. Es war nicht nur Mode, sondern verständlich, daß, was Nation heißt, bei feineren Geistern ganz mies notiert war. Ich habe zweiunddreißig Jahre gebraucht, bis ich zum ersten Mal gewagt habe, den Mund ein bißchen aufzumachen. Erst im Jahr 1977 habe ich in einer Rede gesagt, wir dürften die BRD so wenig anerkennen wie die DDR. Nur wenn das unser Wunschdenken bleibe, habe dieses Wunschdenken eine Chance in der Wirklichkeit, und ich habe leichtfertig dazugesagt, "im Jahre 1999 oder 2099". Und dann ist es schon 1989 passiert. Und deshalb wiederhole ich, wenn davon gesprochen wird, daß das der glücklichste Moment in der deutschen Geschichte ist, dieser 9. November 1989, der Fall der Mauer. Aber was mich zum ersten Mundaufmachen und dann wiederholt zu Wortmeldungen brachte, war nichts Politisches, sondern ein Gefühl, das sich gebildet haben muß in Kindheit und Jugend. Thüringen und Sachsen, Schlesien und Ostpreußen waren mir durch Lektüre und durch Hörensagen zu Seelenlandschaften geworden. Karl May und Nietzsche durften nicht im Ausland geboren worden sein. Dann haben natürlich Besuche und Briefe drastisch darauf hingewiesen, daß wir eins waren, die drüben und wir herüben. Und diese Gefühle ließen sich irgendwann nicht mehr verschweigen. Wozu gehört man einer bestimmten Generation an, wenn man die Erfahrung dieser Generation dann verschweigt? Das muß ja zum Geschichtsverlust führen. Und den zu vermeiden, sind Intellektuelle da.
Heute ist der 8. Mai. Ein einfacheres Datum. Vom 8. Mai 1945 zum 3. Oktober 1990 oder doch, dem Geschichtsgefühl entsprechend, zum 9. November 1989, das ist, pathetisch gesagt, die Läuterungsstrecke der Nation. Und der 9. November müßte der Tag der Deutschen sein. An diesem Tag hat die Nation sich, ihrem jeweiligen historischen Zustand entsprechend, benommen: 9. November 1918, Philip Scheidemann ruft in Berlin die Republik aus. 9. November 1923, Hitlers Marsch zur Feldherrnhalle in München. 9. November 1938: Die Reichspogromnacht. 9. November 1989: die Mauer fällt.
(...)
Europa ist überhaupt die Lösung der deutschen Frage, die es ernsthaft seit dem 9. November 1989 schon nicht mehr gibt. Und die Nation wird es geben, solange es nationale Aufgaben gibt. Wir müssen da nicht lange suchen. Die erste und für lange Zeit allererste nationale Aufgabe ist die Heilung aller Schäden, die entstanden sind durch das, was man im Zeitungsstil die deutsche Teilung nannte, was in Wirklichkeit die Teilung Deutschlands war. Aber Deutschland war ein Unwort geworden.

II.

Wie verwildert müssen Empfindungen sein, dass da einer die Donau sieht und Deutschland empfindet oder Nation statt zum Beispiel: au schön, wie da die Donau fließt? Wenn ich so empfände, wüsste ich, mit mir ist jetzt endgültig etwas nicht in Ordnung, ich sollte mich jetzt besser einweisen lassen. Und stell dir vor, in dir schreibt sich ein gefühlter Text, und du kannst ihn immer nur mit deinem Bewußtsein nachplappern, keine Chance, dass der Text endlich das Maul hält und nicht jedesmal Deutschland sagt, Deutschland Deutschland Nation Nation, wirklich, der tut mir leid, da will man wirklich lieber einfältig sein anstatt so einen Text dauernd in sich plappern haben. Wenn sich mir naturnahe Metaphern anböten, würde ich sagen: Schimmel, große Schimmelvorkommen überall, im Herz, im Kopf, im ganzen leibseelischen Komplex.

Man möchte es nicht in sich drinstecken haben, ein Herz, das solche Empfindungen gebiert: Karl May und Nietzsche durften nicht im Ausland geboren worden sein. Dieses Herz würde man doch lieber herschenken auf der Stelle, als es mit sich herumschleppen zu müssen, so ein Herz, denke ich mir, will man doch nicht parat haben, das ist einem doch viel zu kleinlich.

Dieses Quengeln dauernd, ich möchte aber auch eine nationale Empfindung haben, wie der Italiener der Tscheche der Jud, warum denn nicht ich, warum denn alle anderen nur nicht ich. Dieses Herumbohren dauernd in den geologischen Vorkommen, Mittelalter Dampfmaschine Mutterkatastrophe, da war doch nicht nur der Hitler, wir hätten für uns doch auch das Mittelalter und die Dampfmaschine und die Nordsee und die Alpen und den Karl May. Und wir hätten das Mittelalter schon abgeworfen und die Pubertät schon abgeschüttelt, wenn die uns nicht verständlicherweise Versailles eingebrockt hätten, man kann das ja verstehen, aber bitte schön, das muss man dann auch verstehen: wenn man den Deutschen ein Versailles hinschmeißt, schmeißen sie mit einem Hitler retour, darüber wird man doch empfinden dürfen, und die Familie Klemperer, bitte schön, was ist mit der?

32 Jahre, sagt der Walser, hat er gebraucht, bis er es gewagt hat, den Mund ein bißchen aufzumachen. Jetzt bringt er ihn gar nicht mehr zu. Das deutsche Leiden, der Text, der immer weiter rumort, immer dasselbe: der kann sich nicht dosieren, der Deutsche, erst macht er Mittelalter mit der Dampfmaschine und umgekehrt, dann macht er Mutterkatastrophen, dann bringt er sechs Millionen Juden um, dann hält er 32 Jahre das Maul, dann hört er nicht mehr auf zu reden. Das muss raus jetzt, immer dieselbe Geschichte, immer dieselben Seelenlandschaften, die die anderen dann ausbaden müssen. Das kriegt er einfach nicht hin, der Nationalempfinder, dass er sich dosiert, ich weiß auch nicht, was das immer ist bei ihm.

"Der 9. November müßte der Tag der Deutschen sein. An diesem Tag hat die Nation sich, ihrem jeweiligen historischen Zustand entsprechend, benommen: 9. November 1918, Philip Scheidemann ruft in Berlin die Republik aus. 9. November 1923, Hitlers Marsch zur Feldherrnhalle in München. 9. November 1938: Die Reichspogromnacht. 9. November 1989: die Mauer fällt."

Geh komm, sagt der Walser, benehmen tut sich schnell einer, da kommt halt einmal ein Pogrom raus und einmal nicht, was ist dabei. Es gibt die Nordsee und die Alpen, da fühls doch und habs parat, und jetzt halt´s Hirn, intellektueller Intellektueller, und denk mit deinem Herzen, nur Mut, es wird schon eine Mördergrube sein.





braucht mal wieder was, worauf man sich einigen kann. "Gerhard Schröder sucht den Schulterschluss mit den Intellektuellen im Land und findet dabei nicht immer Beifall. Jetzt hat er ausgerechnet Martin Walser auserkoren, mit ihm am 8. Mai, dem Jahrestag des Kriegsendes und der deutschen Kapitulation, im Berliner Willy-Brandt-Haus über „Nation, Patriotismus, demokratische Kultur in Deutschland 2002“ und über „die veränderte Rolle Deutschlands in Europa und der Welt“ zu diskutieren." Mehr: hier.





Guter Text von Wolfgang Sofsky über Erfurt in der NZZ.





Ach ja, dachte ich müde. Jetzt werfen sie sich in diese Besorgnis, in die sie sich immer werfen, wenn das Gewebe wieder einmal gerissen ist. Wir müssten. Alle müssten wir. Noch eine Debatte, ach ja. Kaputte Familien, überforderte Lehrer, Leistungsdruck, kalte Gesellschaft. Man hat in den Abgrund geschaut, und jetzt wird mit Sätzen gefuchtelt. Als ob Abgründe sich mit Sätzen verkleben ließen. Was ihnen einfällt, ist sowieso immer nur dasselbe. Es sind die alten Ruten. Und die Werte, auf die wir alle uns besinnen sollen, werden nicht zu leben beginnen, bloß weil man sie ab sofort statt der Gewalt im Vorabendprogramm von Kabel 1 spielen will.

Das Interessante an dem Erfurter Fall, jedenfalls das mir Interessante, um mehr geht es hier ohnehin nie, steckt in den Nebensätzen der Berichte. Es kommt mir so gespenstisch deutsch vor: Keiner hat etwas falsch gemacht, und alles geht schief. Mich hat es zum Beispiel gewundert, dass man in Thüringen wegen ein paar gefälschter Unterschriften jemanden ein paar Wochen vor seiner letzten Abi-Chance von der Schule feuert, im Wissen, dass der dann kaum noch auf die Beine kommen wird können; irgendwo habe ich gelesen, dass man in Thüringen nur zwei Chancen aufs Abi hat: falls man sie nicht besteht, hat man noch nicht einmal einen Real- oder Hauptschulabschluss. Man schmeißt also so jemanden raus, weiß, dass er dann ins Leere fällt, und kümmert sich nicht um ihn. Man muss seine Eltern nicht verständigen, weil er schon volljährig ist, also tut es keiner. Keiner, der da mal zu Hause anruft, sich über den Datenschutz hinwegsetzt, und sagt, was da gerade passiert ist. Sicher, keiner rechnet damit, dass so einer dann sich ein paar Knarren schnappt und 16 Leute totschießt, aber was man sich vielleicht hätte denken können, ist, dass so einer sich selbst umbringt. Und wissen hätte man können, dass einer, dem man gerade ziemlich viel Zukunft weggenommen hat, ganz sicher unter einem barbarischen Stress stehen muss. Wahrscheinlich war keiner zuständig dafür, wahrscheinlich muss es ja hier erst zehn Jahre Kommissionen, Kultusministerkonferenzen, Lobby-Arbeit, zähe Verhandlungen mit der Gewerkschaft geben, bis man vielleicht auf die Idee kommt, dass in solchen Fällen ein Lehrer zu einem Telefon greifen könnte, um Eltern anzurufen und zu sagen: Hört mal, wir mussten den von der Schule schmeißen, da gibt es jetzt ein Problem, um das sollte man sich kümmern. Mir jedenfalls kommt das so erschreckend kalt vor; in Firmen, den modernen jedenfalls, gibt es mittlerweile an der einen oder anderen Stelle Outplacement-Programme für Leute, die gekündigt werden, man überlegt sich ein wenig, versucht es jedenfalls; bei 18jährigen: nee, dafür haben wir keine Zeit, sind wir zu überfordert, was weiß ich. Die anderen Schilderungen gehen in die selbe Richtung. Keiner mochte den wirklich, steht da zu lesen, der lief immer so mit, hatte keine Freunde, machte blöde Sprüche, war manchmal ein Großmaul. Ein Einzelgänger halt. Kennt man, hat man erlebt, gab es immer. Man rollt die Augen und ignoriert den. Dann war da dieser Satz im Spiegel: Bei Klassenreisen war der immer der Letzte bei der Zimmer- und Bettenverteilung. Ich habe mich dabei an meine Lehrer erinnert. Viele von denen waren zwar Schinder, aber ich kann mich an keinen erinnern, der so etwas zugelassen hätte. Dass man da jahrelang zusieht, wie einer immer neben den anderen steht und bei jeder Zimmer- und Bettenverteilung als der Letzte dasteht, der letzte Depp, der Übrigbleiber. Da hätte der eine oder andere schon dafür gesorgt, dass das manchmal anders abgelaufen wäre. Kann man nämlich. Aber, okay, das ist nicht der Job. Sie sind ja nicht für alles zuständig, verstehe ich schon. Kalt, das. Herzlos, das. Das war der Eindruck, der mich anwehte aus all den Erfurt-Berichten. Jeder hat alles richtig gemacht, aber alles geht schief. Und jetzt wollen wir über die Werte reden und die Waffengesetzte verschärfen und die Volljährigkeitsgrenze erhöhen. Die große Selbstzerknirschungsmühle mahlt. Ich glaube, in den 15 Jahren, in denen ich in Deutschland lebe, habe ich das Geräusch dieser Mühle jedes Jahr ein paar Mal gehört. Jedesmal habe ich gedacht: Habt ihr es nicht eine Nummer kleiner? Denkt nicht immer über die Werte, die Gesetze, die Debatten, die Videotheken, die Familien nach. Sondern kümmert euch halt um die Leute, von denen klar ist, dass sie in einer Situation stecken, die den einen oder anderen zum Austicken bringen könnte. Weiß auch nicht.

Ich habe ja auch zwei Kinder, die in Schulen stecken. Ich beobachte das aus größerer Ferne, als mir lieb ist, weil ich nicht mit den beiden lebe, aber ich kriege einiges mit, zweimal die Woche sehen, fast jeden Tag telefonieren, man hat das schon im Blick. Die Schulen sind okay. Man kann ihnen nichts vorwerfen, die Lehrer sind okay, man kann ihnen nichts vorwerfen, nicht wirklich. Was nicht okay ist, ist das System. Das System, kommt mir vor, ist eine komplett verrückte Fehldosierung aus Versuchen, pädagogisch gehaltvoll zu sein, und dem Bedürfnis, Stoff, Lehrpläne abzuarbeiten. Man ist liberal, nett zu den Kindern, toleriert den Lärm, die Hyperaktivität all das, man redet dann mit den Eltern darüber, ist sich einig, dass man das beobachten müsse, aber ohne Hysterie, ohne Druck usw. Gleichzeitig überzieht man die Kids mit einem Pensum, über das ich nur den Kopf schütteln kann. Neulich habe ich mit meiner Tochter, achte Klasse, das Lösen von Gleichungen mit zwei Unbekannten, geübt. Nicht besonders schwer, eigentlich. Schwer ist es nur, weil man gleich insgesamt fünf Lösungsmethoden lernen muss. Zwei geometrische, drei algebraische. Matrizen zeichnen, Geraden ziehen, Schnittpunkte lokalisieren, einen Moment später x für y substituieren, oder das y = 0 setzen. Man lernt für dasselbe Problem also fünf Lösungen, hat aber für keine wirklich Zeit. Toll. Jetzt weiß ich, was man mathematisch alles können könnte, aber kann es nicht. Es ist zu viel. In Französisch nach eineinhalb Jahren um zwei bis drei Zeiten mehr als ich damals. Dafür sitzt keine so richtig. Geografie, das war das Verrückteste, an das ich mich erinnern kann, begann mit einem Vierteljahr Maßstabsberechnungen. Wieviel ist so und so viel auf der Landkarte in Wirklichkeit? Man kann nicht abstreiten, dass das wichtig ist, aber kann sich irgendjemand vorstellen, dass man mit einer solchen Einführung Interesse fürs Fach entwickeln könnte? Könnte man denen nicht, wie mir damals, irgendwas darüber erzählen, wie es anderswo auf der Welt aussieht und was die Menschen dort so tun? Ist doch Geographie, nicht wahr?

Sehr aufschlußreich für mich sind die Geschichtsbücher meiner Tochter. Meine Tochter geht nämlich in ein Gymnasium, in dem Jahr für Jahr ein wenig mehr nicht mehr auf Deutsch, sondern auf Englisch unterrichtet wird. Zuerst Englisch, dann Sport und Englisch, dann Geschichte, Sport und Englisch. Und so weiter. Am Ende der Schulzeit hat sie dann klasse Sprachkenntnisse und einen Abschluss, der sie für englische und amerikanische Unis qualifiziert. Das führt unter anderem dazu, dass sie auch englische und amerikanische Schulbücher hat. Das für Geschichte stammt aus England und ist großartig. Nicht besonders dick, aber immens konzentriert. An Fragestellungen orientiert statt an Zahlen, Herrschern usw. Das letzte Kapitel, das ich mit ihr gelernt habe, handelte von der Aufhebung der Leibeigenschaft. War alles erstens korrekt, zweitens nachvollziehbar, drittens außerordentlich spannend dargestellt. Wie das Land in den englischen Dörfern neu aufgeteilt wurde; dass viele in den freien Bauernstand Entlassenen ihren Besitz verloren, weil sie sich die Gerichtsschreibergebühren nicht leisten konnten, usw. Gesetzeslage, Interessenslagen, Prozeduren, Folgen, Probleme. Alles auf 10 Seiten, gut illustriert, klasse layoutet, interessant geschrieben. Sofort stieg das Interesse, der Enthusiasmus, das Verständnis. Die deutschen Schulbücher, die sie hat, sind alle längst nicht so gut. Schlechter als die, die ich damals in Österreich hatte. Das Erstaunlichste ist, wie gesagt, wie viel die lernen müssen. Immer Neues, immer weiter. Alles sehr exzessiv vom Vollständigkeitswahn charakterisiert. Als sollten die Kids Enzyklopäden werden. Den Lehrern bleibt nicht viel anderes übrig, als das irgendwie durchzukriegen. Gut, man kann da oder dort auf etwas verzichten, aber im Grunde ist es eine barbarische Paukerei. Selbst das wäre nicht besonders schlimm, falls es noch so wäre wie damals bei mir. Ich konnte mir leisten, eine Null in Physik, Chemie, Bio zu sein, das hat mich nie interessiert, ich hab halt gerade mit Müh und Not so viel gelernt, dass ich nie sitzenblieb. Die Lehrer haben das akzeptiert, irgendwie versteht ja jeder halbwegs vernünftige Mensch, dass einen nicht alles interessiert, was soll´s. Hier ist es aber so, dass man von klein auf mit diesem Durchschnittsnotenscheiß traktiert wird. Ist noch nicht so entscheidend in der achten Klasse, aber ich weiß, dass es auf die Kids zukommen wird. Wieviele Punkte. Welche Gesamtdurchschnittsnote. Der reine Irrsinn. Ich merke das immer im Job, wenn ich Bewerbungen für Volontariate oder Praktika auf den Schreibtisch bekomme. Diese Lebensläufe, in denen dann immer die Gesamtnoten stehen. Als ob man mit 1,4 oder 1,1 ein besserer Journalist werden könnte als mit 4,0. Ich sage denen dann immer, dass mir ihre Zeugnisse egal sind und dass sie mir dafür lieber drei selbstverfasste Texte schicken sollen, von denen sie überzeugt sind. Dann sind sie enttäuscht. Unter anderem, weil sie oft keine Texte geschrieben haben. Sie wollen zwar Journalisten werden, haben aber noch nie irgendwas geschrieben. Das hat ihnen nämlich keiner je gesagt, und deswegen wissen sie das nicht, dass es vielleicht nur darum gehen könnte. Man hat sie immer nur hingetrimmt auf Gesamtnotenwerte, Zahlen mit Stellen hinter und vor dem Komma. Hat mich immer schon verstört, dass man sich hierzulande einbildet, man könnte damit bessere Ärzte, Rechtsanwälte, Philosophen, Biologen ziehen. Na ja, man muss halt objektivieren. Also muss keiner sich mit der Subjektivierung Mühe machen. Gucken, ob einer ein grandioser Arzt werden könnte, obwohl er Geographie, Geschichte, Ethik und Mathe komplett versaut hat. Bei meiner Tochter geht das schon los. Die Zwei Minus, die Vier plus, die irgendwas irgendwas, die sie nach Hause bringt. Als ob es nicht eine Zwei, eine Vier tun würden. Bei mir damals gab es höchstens einen Römischen Einser, wenn du einen besonders tollen Aufsatz geschrieben hast, als Extrabelohnung, oder es gab eine Vier minus, wenn der Lehrer nett war und die keinen Fünfer geben wollte, obwohl man ihn verdient hätte (in Österreich ist die Fünf, was bei Euch die Sechs ist...). Differenzierungswahnsinn, Zahlenfetischismus. Da sitzen die Lehrer dann und denken darüber nach. Seltsam.

Das Ermüdende an all dem ist: Jeder weiß das. Jeder hält das für falsch, für nicht zielführend, für kontraproduktiv. Es ist ja alles schon hunderttausendmillionenmal gesagt worden. Und nicht erst seit den Ergebnissen der Pisa-Studie. Die liegt den Leuten hier eh nur im Magen, weil sie es jetzt statistisch aufgeschlüsselt haben, dass sie die größeren Deppen sind als die Engländer, die Amerikaner oder die Österreicher. Aber obwohl sie das wurmt, wird nichts geschehen. Weil hier die Erwachsenen genau so sind wie die Schulbücher, die sie ihren Kindern zumuten. Alles drin, auf nix verzichten wollen, in Detailhuberei versunken, Pensum bringen. Probleme sind nur dazu da, dass dann in der Zeit und in den wenigen anderen Blättern, wo man sich noch ernsthaft Gedanken macht über derlei Fragen, ellenlange Abhandlungen übers Allgemeine stehen. Es geht aber nicht ums Allgemeine. Nicht in der Schule. In der Schule geht es ums Einzelne, und um einzelne Kinder. Das eine wie die anderen verschwinden sofort, wenn die Erwachsenen darüber nachzudenken beginnen. Also wird es so bleiben wie es ist. Und jeder wird sich an die Vorschriften halten und keiner wird was falsch machen und alles geht schief.

Damit das hier nicht einfach wieder so eine kreuzblöde Lamentiererei bleibt, mache ich hier, sinnloserweise, zwei ganz praktische Vorschläge zur Reform des Schulsystems. Reine Fleißaufgabe, aber sie zeigen, worum es mir geht.

  1. Wenn ein Schüler von der Schule gefeuert werden soll, gibt es einen Outplacement-Zuständigen in der Lehrerschaft, der für jede Klasse zu Beginn des Schuljahres festgelegt wird. Sein Job ist es, mit dem Gefeuerten zu besprechen, wie dessen Leben weitergehen kann und ein psychisches Sicherheitsnetz aufzubauen. Außerdem hat er die Aufgabe, ein halbes Jahr lang jedes Monat einmal bei dem Gefeuerten und bei einer Person, die ihn kennt, anzurufen und sich nach dem Befinden zu erkundigen. Kann sein, dass er statt Dank nur Beleidigungen, Hohn und dergleichen erntet, aber da muss er durch, und es dennoch versuchen. Für jede Outplacement-Betreuung bekommt der Lehrer zwei Tage Extraurlaub oder sonst eine Gratifikation.

  2. Jeder Lehrer weiß, dass an Montagen Kinder aufgedreht sind. Zappelig, unkonzentriert, unfähig für anständigen Unterricht. Die Kids haben übers Wochenende zu viel ferngesehen, zu lange an den Konsolen gesessen, zu viel erlebt. Tausende Male beklagt, hunderte Male beschrieben, jeden Montag neu erlebt. Die Behörden wissen es, die Schulen wissen es, die Theoretiker wissen es, alle wissen es. Deswegen wird ab nächstem Schuljahr in jeder Schule der Republik der Wir-gehen-die-Woche-langsam-an-Montag eingeführt: Mindestens eine Stunde Sport (und zwar irgendwas wie Volleyball oder Basketball, keine Einzelkämpferleistungen), mindestens eine Stunde irgendwas Kreatives (Theater, Malen, Musik), mindestens eine Stunde, in der man eher diskutiert als paukt, kein einziger Hauptgegenstand, keine Schularbeiten. Erst wieder dienstags. Einfache Lösung, funktioniert, muss man bloß organisieren, aber das kann ja der Computerkurs machen.





Ich finde, man sollte endlich einmal über Tetris nachdenken. Tetris fördert Pedanterie und Sortierzwang.

Ich finde, man sollte endlich einmal über die Grünen nachdenken. Die Grünen fördern präventiv beleidigte Rechthaberei, geschmeidigen Opportunismus und den gefährlichen Wahn, sich für die komplette Welt zuständig zu fühlen.

Ich finde, man sollte endlich einmal über Geschlechtsverkehr nachdenken. Geschlechtsverkehr demütigt alle, die keinen haben, fördert die Illusion, man bliebe einander nicht fremd, nährt Versagenängste, Leistungsdruck, Sittenverfall und Distanzverlust und bringt das Vaterland auch nicht nach vorne.





Gerade habe ich eineinhalb Stunden lang einer Nachtstudio-Diskussion darüber zugehört, ob für die Selbstmordattentate eher die lieblose Mutti, irgendwelche Kränkungen, der Islam oder das Problem der überflüssigen jungen Männer nachsitzen müssen. Ich hätte ja auf den freien Willen getippt, aber der hat heutzutage schlechte Karten.





"Sozialismus, Kommunismus sind Theorien die ich total gut finde." Dieter Bohlen in der ARD am 4. Aug. 1998 (Boulevard Bio).





Vorgestern Cohn-Bendit, der sich deutsche Soldaten auf dem Golan herbeifantasierte, gestern der Kanzler. Könnte sein, sagen sie, warum denn nicht, natürlich nur im Verbund, europäisch.

Hey, meine Achse des Bösen wird noch viel länger als die des State Department.