Ich bin die Milva der deutschen Literatur.





Der leider unbekannte und unbedingt empfehlenswerte österreichische Autor Franz Weinzettl hat ein neues Buch geschrieben. Hier die Besprechung in der NZZ.





Es gibt einen anderen Dornbusch, man muß ihn suchen – verkünden die geheimen Stimmen jener, denen die Schergen der alten und der neuen Herren auf den Fersen sind – und finden wir ihn nicht, so werden wir ihn pflanzen. Gesegnet seien, die so sprechen. Daß doch die steinigen Wege ihren Füßen nicht zu hart werden und ihr Mut nicht geringer als unser Jammer.
So sprach der Fremde, ehe er uns wieder verließ. Wir versuchten, ihn schnell zu vergessen, ihn und den bittern Geschmack seiner Hoffnung. Wir waren müde des ewigen Anfangs.
Aus Sperber wieder aufgetaucht, immer noch ganz benommen, immer noch elektrisiert. Ich werde darüber mehr schreiben und das Elektrisierte und das Benommene erklären müssen, für den Anfang nur so viel. An Sperber, der doch einen Abschied an den Kommunismus (jenen Stalins, des Kalten Kriegs, Katyns, des Irgendwas-in-einem-Lande) geschrieben hat, ist mir seit langem wieder zum erstenmal die Sehnsucht nach dem Kommunismus aufgegangen, die Sehnsucht nach einer Association der Freien, mit keinerlei Chancen auf Erfolg natürlich, aber die Sehnsucht hat er mir wieder gegeben. Die Großherzigkeit Sperbers beschämt einen sowieso ein ums andere Mal; er schafft es nicht nur, dass man sich inmitten eines Buchs, das sich lossagt vom Kommunismus, zum Kommunismus gezogen fühlt, er bringt es auch zuwege, dass man alten Aristokratinnen, die mit brechender Stimme Plädoyers für die Restauration der Monarchie halten, die Gefolgschaft erklären will, und nicht nur aus Empathie für die Verlierer der Geschichte, sondern wegen ihrer Untergangs-Hellsichtigkeit, die der hübschen neuen Nachuntergangs-Welt ein paar unangenehme Wahrheiten zu sagen hat. Na ja. Man müsste mehr sagen dazu. Später.




österreichischer Literatur werden von der Nationalbibliothek nützlicherweise hier annotiert.





Gestern beim Nachhauseweg mit M. überlegt, ob man nicht für Bücher Oscars in allen möglichen Kategorien vergeben sollte. Sofort würde Literaturkritik wieder interessant werden. In der Literaturkritik nämlich kommen ja die Qualitäten, die einem beim Lesen wichtig sind, meistens zu kurz. Die besten männlichen und weiblichen Nebenfiguren zum Beispiel (bei mir ist es gerade der Professor Steffen in Sperbers Träne im Ozean), die besten special effects, die besten ersten Absätze, der beste Dialog, die beste supporting landscape usw.

Der Vorteil, den ein solches Verfahren hätte, liegt auf der Hand: Man nähme die Literatur als Handwerk, als Technik zur Kenntnis; man könnte sich über überschaubares Material streiten; und die Produzenten, also die Autoren, hätten endlich etwas, wofür sie sich selbst interessieren würden. Autoren interessieren sich nämlich nicht für Botschaft, geistigen Abhub und ähnlichen Unsinn (sonst wären sie Pfarrer, Sonntagsredner oder Reich-Ranicki geworden), sondern für Verfahrensweisen, Tricks und ähnliches.

Heute morgen dann im Autoradio ein Bericht über die Leipziger Bücherpreis-Gala. In fünf Minuten fällt ein halbes Dutzend mal das Wort "Oscar". Biolek kriegt einen, die Harry Potter-Autorin und Christa Wolf. Die Trophäe ist von Grass zusammengestümpert worden, und Frau Wolf warnt in ihren vier Sätzen Rede-O-Ton, man dürfe den Warencharakter der Literatur nicht zu wichtig nehmen. Gähn. Und alle im Saal haben sicher ergriffen geguckt dabei. Doppelgähn.

Nicht das, was ich mir vorgestellt habe.





Schon klar, das folgende lange Zitat ist nicht wenig naiv, und beim Abtippen wollte ich oft dazwischenblöken, vom besseren Wissen zum Blöken angestachelt, wie es mir oft geschieht. Andererseits hat es mich traurig gestimmt, dass 30 Jahre später kein etablierter Schriftsteller solche Sätze schreiben, kein Film so beginnen, keiner solche Sätze anders als zynisch kommentieren, kein öffentlich-rechtlicher Fernsehsender einen Film, der so begänne, in Auftrag geben könnte. Die Zeiten sind nicht danach, sie zwingen niemanden zu solchen Sätzen. Und das kommt mir heute abend wie ein Verlust vor.

Die Sätze übrigens stammen aus Peter Handkes "Chronik der laufenden Ereignisse", einem Script für einen Fernsehfilm, der 1971 vom WDR ausgestrahlt wurde. Für 3 € am Samstag geschossen, zusammen mit Hilde Spiels "Dämonie der Gemütlichkeit", ein Titel immerhin, der zu den Zeiten besser passt.

Jetzt erscheint auf dem dunklen Bild ein Rolltitel:
"1969. Alles ist im Umbruch begriffen. Kein Wert mehr wird als gesichert betrachtet, keine Ordnung mehr gilt als endgültig. Alle Vorstellungen von Gut und Böse, Recht und Unrecht, Wahr und Unwahr sind über den Haufen geworfen. Keiner mehr ist seiner Sache sicher. Eine heilsame Verwirrung hat überall eingesetzt und jedermann nachdenklich gemacht. Verstört beginnt man sich allerorten zu fragen, wie man denn leben solle.
Das Problem, wie man die Verhältnisse zueinander neu ordnen könne, geht an niemand vorbei; es beschäftigt die Menschen in den Betrieben, in den Büros, in den Warenhäusern: kaum einer von ihnen kann sich der Überzeugungskraft der neuen Ideen entziehen. Etwas muß geschehen! ist die übereinstimmende Auffassung; was aber geschehen muß, darüber wird allenthalben nachgedacht, und die Ergebnisse werden in nie gekannter Offenheit diskutiert und in Dialogen, die von allen Seiten - Lohnabhängigen und Lohnunabhängigen, Bemittelten und minder Bemittelten, Oben und Unten - mit der gleichen Einsicht in die Notwendigkeit veranstaltet werden, miteinander abgestimmt.
Mit brennender Sorge arbeiten die offiziellen Stellen an Plänen für eine gerechte Aufteilung von Kapital, Grund und Boden, Aufwand der Arbeitskraft, und damit auch an einer gerechten Aufteilung von Gedanken, Schmerzen und Freude. Jeder ist für jedermann offen. Immer mehr Individuen erkennen die Ursache ihres Unmuts, ihrer Alpträume; immer mehr Individuen verlieren die Scham, einander Fragen zu stellen; immer mehr Individuen erkennen an sich ein Bedürfnis, durch Fragen die Voraussetzung dafür zu schaffen, daß die Verhältnisse neu geordnet werden.
Wie also soll man leben? Wie miteinander leben? Wie einander und sich selbst lebend ein Bedürfnis sein? Wie falsche Bedürfnisse durchschauen? Wie echte Bedürfnisse erkennen? Wie die Schmerzen so im Gleichgewicht halten, daß sie notwendig zur Entstehung der Freude gehören? Und wie die Freude so im Gleichgewicht halten, daß sie nicht übermäßg schmerzhaft wird? Und wie Schmerzen und Freude so im Gleichgewicht halten, daß sie nicht beide die Gedanken verhindern? Und wie die Gedanken so im Gleichgewicht halten, daß sie gerade so schmerzhaft sind, daß man sich an ihnen gerade so freuen kann, daß man sie weiterdenken möchte? Wie soll man leben?"
Als der Rolltitel verschwunden ist, setzt sofort erregte Musik ein...





Alexander Kluge. In den Glossen, einem immer wieder gerne gelesenen Ezine zu Literatur, Film und Kunst am Dickinson College in Carlisle (USA) fast die Beiträge von und über Alexander Kluge übersehen: Ein langes Interview von Mitte 1999, ein kleiner Text über biographische Spuren im Werk, drei kurze Erzählungen - Heidegger | Ein Leitfaden, wie man glücklich wird | In den Tiefkellern der Museen am Spreeufer - letztere auch als Video und Audio zum Download.





Als sie sich im Bett räkelte, wachte Haku halb auf und murrte: "Hatte ich einen eigenartigen Traum!" Mayuko wußte: Erzählt er mir jetzt zuerst seinen Traum, geht mein eigener Traum unweigerlich verloren. [Minako Obe, Träume fischen]





Der Schauspieler ahmt sinnlos den Menschen nach, er differenziert im Ausdruck und zerrt eine andere Person dabei aus seinem Mund hervor, die ein Schicksal hat, welches ausgebreitet wird. Ich will keine fremden Leute vor den Zuschauern zum Leben erwecken. Ich weiß auch nicht, aber ich will keinen sakralen Geschmack von göttlichem zum Leben Erwecken auf der Bühne haben. Ich will kein Theater. Vielleicht will ich einmal nur Tätigkeiten ausstellen, die man ausüben kann, um etwas darzustellen, aber ohne höheren Sinn. Die Schauspieler sollen sagen, was sonst kein Mensch sagt, denn es ist ja nicht Leben. Sie sollen Arbeit zeigen. Sie sollen sagen, was los ist, aber niemals soll von ihnen behauptet werden können, in ihnen gehe etwas ganz anderes vor, das man indirekt von ihrem Gesicht und ihrem Körper ablesen könne. Zivilisten sollen etwas auf einer Bühne sprechen! Vielleicht eine Modeschau, bei der die Frauen in ihren Kleidern Sätze sprechen. Ich möchte seicht sein! [Elfriede Jelinek, , Theater Heute Jahrbuch 1983]





Of critics, the one I can least stomach is the thunderstealer who slyly and regularly goes in for the "As someone has aptly remarked" and the "As someone has cleverly observed" stuff. He is the kleptomaniac of criticism, the shoplifter in the literary jewelry store, the left-handed glory grabber. He is a critic in the sense that a phonograph is an opera singer. He is the oyster in the pearl. He borrows the cigar, borrows the tip-clipper, borrows the holder, borrows the match - and then congratulates himself warmly on achieving by himself the climacteric grand spit. [George Jean Nathan, Répétition Générale]