immer, wenn so einer eine über toleranz zu reden beginnt, weißt du: jetzt musst du gleich in deckung gehen.
[lauter gastgeber unterwegs.]
lauter außenpolitiker.
will man nicht wissen, was nachkommt.
Wenn für jedes der 20 Millionen Todesopfer des 2. Weltkriegs in Deutschland zehn Schweigeminuten eingelegt werden müssten (10 Minuten Maulhalten für ein Leben müsste man der Öffentlichkeit doch vermitteln können), würde in ungefähr 320 Jahren hierzulande jemand etwas sagen, und, mag sein, vielleicht wäre es ja etwas Schönes.
20000000 x
10 =
200000000
200000000 ÷
60 =
3333333,333333333
3333333 ÷
24 =
138888,8888888889
138888,9 ÷
365 =
380,5175038051751
Das dunkle Tuch, die Sonnenbräune, die Effekte, das Jugendamtgelaber, der Holocaust, das Selbstdarstellersein-Genießen, das Doppelte-Maßstäbe-Anlegen, es ist alles da. Und, auch das, warum nicht, der Zentralrat der Juden schon im zweiten Satz. Und der andere Jude, der ihn nicht fallen lassen will, im letzten. Dazwischen: "in Paris geboren, Sohn von Holocaust-Überlebenden, sich in Deutschland nach oben gearbeitet". Ob das jetzt antisemitische Anhaftungen in szenetypischen Päckchen sind oder nicht, ist egal, sowieso wird jeder sie bestreiten, und nicht wahr, es gilt ja die Unschuldsvermutung. Wahrscheinlich ist ihr, der Meike Schreiber von Financial Times Deutschland das alles nur passiert. Und man kann sich sicher sein, sie steht dazu.
Auch an seinem schwersten Tag blieb er sich treu: Wohl kalkuliert und perfekt inszeniert wählte der Vizepräsident des Zentralrats der Juden die Rolle des reuigen Sünders. [...] bat demütig nur noch um eines: eine zweite Chance.Es ist ein kurzer, aber effektvoller Auftritt [...]. In dunklem Tuch tritt nach vierwöchigem Schweigen und ebenso langem medialen Trommelfeuer ein braun gebrannter Michel Friedman ans Pult und formuliert seine Entschuldigung - ein zerknirschtes Mea Culpa ohne Einschränkungen: [...]
Mühelos füllt seine leidenschaftliche Stimme den mit schwitzenden Kamerateams vollgepackten Raum. Ein wenig drängt sich der Eindruck auf, als genösse der begnadete Selbstdarsteller selbst diese Rolle. Denn ist der Part zwar tragisch, so ist er doch - wie stets bei ihm - nicht gewöhnlich und unbedeutend.
Er müsse hinnehmen, dass er in gleicher Weise hart befragt werde, wie er es mit den Gesprächspartnern in seiner Fernsehshow gehalten habe. Nur lieber nicht im Hier und Jetzt: "Ich brauche noch Ruhe und Distanz", bittet er um Verständnis.
Worte vom Jugendamt
In bekannter Manier betont Friedman jedes Wort; lehnt sich mit den Ellenbogen auf das Pult, als müsste er übermütige Körpersprache dämpfen. Zum Thema Kokain wählt er Worte wie aus einer Broschüre des Jugendamts: "Drogen in einer Lebenskrise, auch in meiner Lebenskrise, sind keine Hilfe. Das sage ich vor allen Dingen jungen Menschen."
Der Schluss der Rede lässt kaum Zweifel zu: Mit Friedman, dem in Frankreich geborenen Sohn von Holocaust-Überlebenden, der sich in der Deutschland weit nach oben gearbeitet hat, ist noch zu rechnen. Fast flehend ruft er, als hätten allein die Journalisten sein Schicksal in ihren Händen: "Vergessen Sie nicht, dass das nicht der ganze Michel Friedman ist."
Sein Fall ist tief. Noch vor vier Wochen war der streitbare Anwalt, Politiker und Multifunktionär vor allem in seiner Position als Vizepräsident des Zentralrats der Juden eine der wichtigsten moralischen Stimmen Deutschlands, von vielen geachtet, von nicht wenigen aber auch mit Misstrauen beäugt. In seiner Talkshow "Vorsicht Friedman!" brachte der mit Abstand aggressivste Moderator Deutschlands Politiker ins Straucheln, verlangte Wahrhaftigkeit, die nun auch von ihm gefordert ist.
Flucht nach Italien
Als Anfang Juni in seiner Wohnung Kokain gefunden und der Verdacht laut wurde, er habe mit Prostituierten aus Osteuropa verkehrt, floh der sonst beinahe Omnipräsente nach Venedig und schwieg.
Der Auftritt am Dienstag dürfte der Tiefpunkt gewesen sein. Nach einer Karenzzeit wird Friedman in die Öffentlichkeit zurückkehren. Schon am Dienstag gab es viele Stimmen, ihn nicht ganz fallen zu lasen. "Die Zeit heilt alle Wunden. Nach einer gewissen Zeit wird er eine zweite Chance anstreben, und ich bin sicher, dass er sie bekommt", sagte Zentralratspräsident Paul Spiegel.