IV.

Beeindruckend an Robert Frank: wie ungeheuer produktiv er war (und immer noch ist). Für The Americans 28.000 Fotos, von denen nur 83 im Buch landen, der Rest: Kontaktbögen (von denen einige in der Tate zu sehen sind), eine gigantische Halde von Kontaktbögen. Es ist, als könnte er nur durch eine Kamera sehen, als würde er durch Kameras ein- und ausatmen.

Wie sehr das Künstlerische zur organischen Sprache werden kann, den Begriff des Künstlerischen damit schleifend. Wie sehr die Äußerungen über die Werke Auskünfte über das Handwerkliche oder die Umstände sind: das habe ich so und so, dann und dann gemacht. Anekdotisch, chronologisierend; eher so, wie man über ein Leben, eher nicht so, wie man über ein Werk redet. Das Streunerhafte an solch einem Werk, völlig entäußert an das Fahren, Fahren, Fahren - und vielleicht gerade dadurch auch so bewegend innerlich, ganz bei der Autorenperson statt bei den Dingen; die Bewegung zwischen den Dingen statt die Dinge ("man sieht aber nur die Dinge"; "ceçi ne pas un Americain").

[Gleich die Verbindung zu Dylan geschlagen, dessen Autobiografie ich in der Woche zuvor gelesen hatte. Auch da diese fast beängstigenden Ausstöße. Jeder Tag ein Song, jede Nacht ein Konzert, dazwischen diese Sessions mit jedem, der seinen Weg kreuzt. Das lange, mäandernde, penibel erzählende Kapitel über die Aufnahmen der ersten von Lanois produzierten und für Dylan gescheiterten Platte, reines Handwerkerprotokoll: dann haben wir versucht, meine Gitarre rauszufiltern, dann haben wir sie wieder reingemacht, dann waren die Drums im Weg, dann bin ich rausgegangen, dann habe ich nachts Radio gehört, ein paar Dutzend Seiten lang.]

Angenehme Haltung, ganz und gar nicht experimentell (experimentelle Künstler sind immer schlecht), nicht suchend, sondern findend, eher etwas Mimetisches, den Regeln von Verliebtheit folgend, Flows dem Material entlang. Auch: das ständige Remixen bei Dylan und Frank, "die Serie", "das Set", "die Version", "die Tournee".

[Diese Sind-Weblogs-Popliteratur?-Platitüden da und dort jetzt, irgendwo zwischen Wirtshausschlägerei ohne Wirtshaus, Brand Manager-Geschwalle, Sortierdrang, Ich-mach-auch-Kunst-Willen: erinnert doch ein wenig an die Demarkationskämpfe zwischen der Enver Hoxha- und der Hua Guo Feng-Fraktion im Kommunistischen Bund. Und niemand wird klüger, schöner, besser davon. Und die Welt wird nicht klüger, schöner, besser davon. Territoriums-Mist.]

V.

Im Tate-Shop außer dem Robert-Frank-Katalog (bestens gedruckt, highly recommended) und seinem Thank You-Band (eine Sammlung von Postkarten an Robert Frank, very moving, highly recommended) noch zwei Bücher gekauft. Emma Kay: Worldview (London: Book Works, 1999) und Sophie Calle: Exquisite Pain (London: Thames & Hudson, 2004, davor Paris 2003).

Emma Kay, von der ich zuvor nie etwas gehört hatte, unternimmt in Worldview den Versuch, ohne Zuhilfenahme von Nachschlagewerken, nur aus der Erinnerung, eine Geschichte der Welt zu schreiben, von der Entstehung des Universums bis zur Jahrtausendwende ("But for a large part of the world's population the millenium had no relevance, although it was difficult to ignore. Many religions followed a different calendar. The year 2000 AD simply marked 2000 years after the birth of Christ, which made it a Christian celebration"). Sehr faszinierend: denn natürlich ist so eine Geschichte lückenhaft, fehlerhaft, "verzerrt"; wie jede, aber diesmal eben eingestandermaßen. Gleich den Wunsch gehabt, das auch zu machen, meine Weltgeschichte schreiben. Oder ein Weblog zu gründen, in dem alle möglichen Menschen ihre Weltgeschichten deponieren. Hat man aber eh nie die Zeit für.

Exquisite Pain, Geschenk für M., von der schon immer innig verehrten Sophie Calle: noch eine persönliche Geschichtsschreibung. Sophie Calle verliebt sich in einen Mann, muss aber eine dreimonatige Reise nach Japan antreten, um ein Stipendium nicht verfallen zu lassen, drei Monate lang Sehnsucht, das Unglück, getrennt zu sein, man verabredet sich in einem Hotel in New Delhi, als sie dort eingetroffen ist, übergibt man ihr einen Brief, in dem steht, er würde nicht nach Delhi kommen, als Ausrede ein Unfall, der sich später, in Paris, als lächerliche Bagatelle herausstellt. Irgendwann in ihrem Unglück beginnt Calle jeden, der ihr unterkommt, nach seinem eigenen unglücklichsten Augenblick im Leben zu befragen. Das Buch ist die Erzählung ihrer eigenen Liebeskatastrophe und die Sammlung der Katastrophen anderer Menschen. Wie immer bei Sophie Calle: like a corkscrew in your heart. Beschlossen, die Retrospektive in Berlin einmal nicht zu verpassen. Ohnehin in London wieder einmal festgestellt, wie therapeutisch Kunst, Bilder, Visuelles für mich geworden ist. Keine Ahnung, wann das begonnen hat; man bemerkt das ja immer erst hinterher. Diese körperliche Aufgeregtheit vor manchen Bildern seit ein, zwei Jahren, das Im-Museum-Tanzen-Wollen vor Bildern, dem Pinselstrich, dem Licht hinterher, die Flächenklumpen-Spiegelungen im Wahrnehmungsgeflecht. Wie das Innerlich-Mitsingen bei Texten oder das Gedicht-Dirigieren. Talking in tongues, looking in tongues.

VI.

Über die Millenium Bridge in die City hinein, am Firefighter-Denkmal inne gehalten, den Blitz verflucht, mit den Tränen gekämpft. Das Blumen-Hinlegen, Jahr um Jahr, in die Stadt hinein, dass man immer zwischen Gräbern hin- und hergehen muss.

Ich mach mich jetzt auf den Weg, sagte das Handy. Fahr vorsichtig, sagte ich, komm schnell.

[to be continued]






In London kann ich nicht atmen. Und die Banker im Warteraum des City Airport.


London

ist eine große Wundertüte: man findet immer wieder was Neues


London gefiel mir mal viel besser als Paris. Ich weiß nicht, ob das heute noch so wäre.


nicht atmen können: die frank-fotos von den londoner bankern aus den 50er jahren. rundum: fog, fog, fog. england war immer: die armutsschilderungen, nicht nur in den großen reportagen à la frederick engels, auch ständig in den details: die münz-heizungen in den graham greene-romanen, die ich anfang der 90er selbst noch hatte. das übernachten in einem kirchenkeller gleich um die ecke von victoria station, one pound per night, tramper und arme in einer katakombe, diese bag lady, die nachts manisch zu reden begann, in den dunklen schlafsaal hinein.


Nach wie vor ein solides politisches Ziel: Dass Menschen nicht mehr so leben müssen.


falls Sie die calle-ausstellung in berlin wirklich nicht verpassen, dann könnten Sie mir ja vielleicht eine kleine notiz zu kommen lassen?


au ja, gerne. ich muss noch das wochenende raussuchen, an dem das geht.