gestern nachts am hauptbahnhof gewesen. vor mir auf der rolltreppe zwei japanische violinschülerinnen, am geigenkasten der einen baumelte ein bettelarmband. fast in tränen ausgebrochen. schob es, ohne zu zögern, auf den geruch. es roch aber nach gar nichts. man hat so seine literarischen momente.
Bettelarmband: Es sind die Details, es sind genau jene kleinen Objekte (Bündnispartner von Affekten), die mühelos alls Schichten der Wahrnehmung durchqueren, die sich einrichten am Saum des Verstands. Irgendwo, wenn ich mich nicht täusche, in "Überwachen und Strafen" gibt es einen Delinquenten, schon auf dem Richtblock, mit NEUEN SCHUHEN an den Füßen. Es sind die neuen Schuhe, die der Chronist offenbar nicht nicht erwähnen kann – und es sollten doch die neuen Schuhe nicht sein. Oder es ist die Vase (that vase) am Ende von Larkins: "Home is so sad"
Home is so sad. It stays as it was left, Shaped in the comfort of the last to go As if to win them back. Instead, bereft Of anyone to please, it withers so, Having no heart to put aside the theft.
And turn again to what it started as, A joyous shot at how things ought to be, Long fallen wide. You can see how it was: Look at the pictures and the cutlery. The music in the piano stool. That vase.
isolate rather this element
das punctum sticht immer von der seite, unerwartet, bar jeder ankündigung. es ist deiktisch - "das da!": "that vase" -, sinnliche gewißheit, epiphanös kurzlebig. kleine ekstase am konkreten, die die welt bedeutsam öffnet. ein jähes besinnen der form beseelt den gegenstand. als wäre die zeit davon abgezogen worden. literarischer moment: auch weil das glück erst noch zu schreiben ist.
(zufällig gestern abend wiedergelesen: larkins "love again"
Love again: wanking at ten past three (Surely he's taken her home by now?), The bedroom hot as a bakery, The drink gone dead, without showing how To meet tomorrow, and afterwards, And the usual pain, like dysentery.
Someone else feeling her breasts and cunt, Someone else drowned in that lash-wide stare, And me supposed to be ignorant, Or find it funny, or not to care, Even ... but why put it into words? Isolate rather this element
That spreads through other lives like a tree And sways them on in a sort of sense And say why it never worked for me. Something to do with violence A long way back, and wrong rewards, And arrogant eternity.)
aber erklären Sie mir doch (wenn Sie mit mir einen kleinen schritt zurück machen möchten): woher das unvermittelte überschwappen einer fast unmenschlichen rührung, von der man ganz leise ahnt, dass sie nicht ganz richtig sein kann.. oder: kann sie richtig sein?
@schaum - ich bin nicht sicher, ob ich Ihre frage recht verstehe. wie epiphanien oder irgendwas-involontaires funktionieren? "unmenschlich": weil man von dingen affiziert ist? "nicht richtig sein können": weil die jähe rührung "in keinem verhältnis" zum metonymischen trigger stünde?
(die rührung ist jedenfalls real gegeben. "richtigkeit" wäre für mich gar kein "richtiges" kriterium.)
meine frage zielte nicht auf funktionsweisen, es ging um den emotinalen spin (sooo moved), den freizusetzen "solches" in der lage ist.. (wobei die epiphanie – und vielleicht sogar das sog. involontaire - da gewiss definierter agieren)
Also: woher? und"solches" zu sagen ist schon der erste schritt zur formwerdung, selbst wenn es nicht anders als haiku-förmig wird.. ich meine: kreiselförmig, quasi-somatisch, der paradoxe psycho-zoom, der gleichzeitig distanziert und heranreißt, dass etwas entweicht, aber der raum sich weitet zur arena, dass es die schuhe sind, die verdammten neuen schuhe – was auch nicht viel klarer ist, fürchte ich..
(und zu unterscheiden zwischen richtigen und falschen gefühlen kann zuweilen – wie soll ich sagen – der selbsthabe förderlich sein...)
(leider etwas in eile, deshalb paar schnelle gedanken nur:)
"selbsthabe" – der will man sich doch bisweilen gern entledigen? abermals natürlich die frage der eigenen disposition. jedenfalls scheint mir, dass vor lauter – überanstrengter – selbsthabe meine anfälligkeit für pikante plötzlichkeiten verkümmert ist: es geschieht immer nur seinesgleichen. daher eine womöglich blinde begeisterung für eruptives aller art, um damit dann – dies die hoffnung: – die prosa meiner verhältnisse mit diesem oder jenem zu subvertieren. aber Sie haben natürlich recht: es gibt verhaltungen, die sind unangemessen. nix zu deuten da.
so wie ich Sie verstehe, wären doch aber zwei dinge zu trennen. das haiku-förmige wäre ein gestus oder eine verfahrensweise des beschreibens: einen anderen zustand gleichsam essayistisch belauern und umkreisen, ohne die hoffnung, ihn je stellen zu können. andererseits würde dann Ihre frage nach dem "woher" die "formgebung" doch eher im weiteren sinne einer "ermöglichungsbedingung" fixieren wollen? und wäre man da nicht tatsächlich sehr schnell bei physiologischen, somatischen und/oder biochemischen fragen? wenn Sie also mit "unvermitteltes überschwappen" irgendeine eruptive wahrnehmungsauffälligkeit meinen (obwohl ja, glaube ich, längst nicht ausgemacht ist, "wo" IN-der-welt-ist, wenn Sie verstehen, was ich meine), da kann man dann versuchen, gemeinsam phänomenologisch die oberflächen zu scannen. aber sobald jenseits der leiblichkeit spekuliert werden müsste: forget me!
"entweichen" oder "ausströmen" finde ich in diesem zusammenhang sehr treffend. erinnert mich an WCWs "it is only in isolate flecks that something is given off" - ein wesenhaftes ausströmen, kleinteilig vages und diffuses, die unvorhersehbarkeit des punctum: das sind die "isolate flecks" wohl auch.
zoom: YES! genau die zugriffstechnik! (sind Sie proust-leser?)
@schaum: in diesem fall - den geigenschülerinnen, den japanerinnen, dem herbstabend, dem hauptbahnhof, dem bettelarmband - könnte ich, die liste durchgehend, das überschwappen schon einigermaßen obduzieren und auch sehr ausführlich dabei werden. auch, woher genau es geschossen kam (das bettelarmband). mehr nicht. wieso es traf; wohin, in welches ich, es schoss; was genau es nun kurzschloss; warum dieser sekundentaumel; wieso dieses detail mit diesen affekten verhakt; und was das vage und diffuse, den strom, dann schockhaft stillstellt: keine ahnung, nicht die geringste. und ja doch, "die ahnung", es sei nicht ganz richtig, ist korrekt beobachtet; sonst würde man ja nicht jäh stocken im fluss der wahrnehmungen.
aber dass es "nicht ganz richtig" sei: benennt das im geschilderten fall eine falschheit des gefühls oder das explizitwerden von etwas, das sonst durch irgendein wie auch immer geartetes "zunächst und zumeist" ge- oder verdeckt ist? wenn Sie mir diese leicht indiskrete frage durchgehen lassen wollten.
@the frank Schön: "jenseits der leiblichkeit spekulieren..." dazu fällt mir die religionswissenschaftliche bestimmung des "real-substrats der kulte" ein – womit grobgesagt (ich kann das jetzt leider nicht nachschlagen) alle nichtsprachlichen laute einer großen kultischen erschütterung gemeint sind: schluchzen, gelächter, seufzer (der geist selbst vertritt uns mit seufzern, die zu tief sind für worte / römer 8,26)
und jenseits der erfahrung ist platz für uns alle.
proust-leser: ja schon, aber seit der ersten expedition vor jahren, heute nur hin und wieder – und ich fürchte, kein eingeweihter – so dass ich mich nicht entblöden konnte, den auf dem regal einer freundin entdeckten buchtitel "how proust can change your life" mit einem prompten, wenn auch nicht wirklich so gemeinten: "he can bore you to death" zu kontern. (war wirklich wirklich nicht so gemeint)
@praschl Sehr schön auch Ihr oberflächen-scan - und die vorstellung eines affekts, auf den die möglichkeit des verhakens zutrifft