Gestern noch eine verspätete Replik von Xenophon in der Diskussion darüber, woran ein Geisteswissenschaftler einen guten Geisteswissenschaftler erkennen könne. Ich teile den Impuls (die Verteidigung der Rationalität vor Jargon, Irratationalimus usw.), aber ich wüsste das eine oder andere anzuführen, dass seine Positionen doch ein wenig unterminiert, und zwar nicht nur in den Geisteswissenschaften. Beispielsweise sind einige der avancierteren Theorien der Astrophysik erstens nicht widerspruchsfrei (man kann allerdings das logische Framework ausweiten und das Problem der Binnen-Konsistenz von Argumenten damit zumindest angehen; was sich "formale Logik" nennt, ist sowieso nur für Wissenschaftstheorie-Einführungsbücher ein Standard, Logiker selbst sind häufig liberaler und zucken zum Beispiel bei Modalitäts-Operatoren nicht so schnell zusammen), und zweitens sind naturwissenschaftliche Hypothesen nicht immer empiriefähig: So etwas wie eine Stringtheorie mit vier Dimensionen oder ein Paralleluniversum mit "dunkler Materie" wird sich für Menschen empirisch recht schwer belegen lassen; dennoch handelt es sich, da wird mir Xenophon wohl rechtgeben, nicht um schlechte Theorie oder gar Irrationalismus. - Was für Naturwissenschaften billig ist, wird für Geisteswissenschaften (deren Gegenstände oft bekanntlich schwerer zu definieren sind) vermutlich auch gelten dürfen, nehme ich an. Aber ich bin ja kein Wissenschaftler.
Wenn es aber so ist, wie Xenophon meint, dass es sein müsse: Was ist dann Geisteswissenschaft, die seinen Regularien genügt? Wie wäre dann etwa Literaturwissenschaft möglich, die etwas anderes ist als positivistische Literaturgeschichte, Stilistik, Rhetorik, Max-Bense-Informationsästhetik oder ähnliches?
Up to you. Vielleicht kommen wir ja noch irgendwohin.
Formale Logik et.al.
Ich fühle mich etwas missverstanden: Einerseits verwende ich "formale Logik" im weitesten Sinn des Wortes. Modallogik, fuzzy logic, mehrwertige Logiken sind damit also auch gemeint. Andererseits habe ich in meinem ersten Beitrag zwischen Theorien unterschieden, welche sich auf einen empirischen Gegenstandsbereich beziehen und solchen, die das nicht tun. Die empirischen Kriterien gelten natürlich nur für empirisch gehaltvolle Theorien. Für die anderen gibt es formale Kriterien, die sich (a) auf die "Binnenlogik" beziehen und (b) auf das logische Verhältnis mit anderen Theorien (gibt es erklärungsstärkere, konsistentere Alternativtheorien usw.). Das Argument, empirische Kriterien träfen nicht auf theoretische Arbeiten zu, trifft mich deshalb nicht. ad Astrophysik: Es wäre genau zu untersuchen, um welche Art von "Widersprüchen" es sich handelt. Wissenschaft "funktioniert" ja durch Falsifikationen. Wenn neue Hubble-Daten einer astrophysikalischen Theorie widersprechen ist diese (mehr oder weniger stark) geschwächt. In der Regel wird die Theorie durch ad hoc Anpassungen so modifiziert, dass die neuen Daten integriert werden. Ist das nicht möglich, muss eine bessere, wirklichkeitsnähere Theorie her, that's science. Der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnis wird u.a. durch das ständige Eliminieren von Widersprüchen vorangetrieben, eben weil es sich dabei um logische "Skandale" handelt, die nicht toleriert werden dürfen. ad Literaturwissenschaft: Die leider wenig bekannte Analytische Literaturwissenschaft wäre ein Beispiel dafür. Ich verweise auf die brillanten Bücher von Harald Fricke: Norm und Abweichung; Literatur und Literaturwissenschaft. Sie bringen nicht nur neue Erkenntnisse und sind wissenschaftlich im besten Sinn des Wortes, sondern auch noch geistreich geschrieben.