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Zu dem von Luhmann beschriebenen Durchbruch der Aids-Thematik, die zu einer umfassenden Diskussion in der Öffentlichkeit führte, hat das Polit-Magazin Spiegel wesentlich beigetragen. Der Spiegel eröffnete die Debatte im Juni 1983 unter dem Titel "Aids: Eine Epidemie, die erst beginnt". Bereits die Bildbetitelungen und Zwischenüberschriften sollen Gefahr, Bedrohung und gesellschaftliches Chaos assoziieren lassen. Vergleiche zu Pest und Pocken werden gezogen, der Homo-Szene ein erhöhter Durchseuchungsgrad attestiert. Per Überschriften wird kräftig an der Dramatisierungsschraube gedreht: Neue Hatz wie auf Pestkranke im Mittelalter?, Wie die Pest: Homosexuellenkrankheit Aids, Seuche Aids, Aids: Die Bombe ist gelegt, die Hatz ist schon im Gange, Quarantäne, seuchenpolizeiliche Instrumente etc. Zum Flaggschiff der Berichterstatter von der "ärztlichen Front" - gleichermaßen im Spiegel und in der AIDS-Forschung publizierend - zählt der Arzt Dr. Hans Halter. Dem drohenden Weltuntergang wird geradezu das Wort geredet: "Seriöse Wissenschaftler befürchten, dass es in fünf Jahren weltweit eine Million Aids-Opfer geben könnte. Die Zeit führt eine scharfe Axt."12

Der Karriereverlauf des Themas folgt im Spiegel ganz der Luhmann’schen Prognose. Dem Durchbruch folgt der Höhepunkt im Jahre 1987, ein Jahrgang, in dem sich 229 Artikel über Aids im Spiegel finden. Die Ereignisse um das Ende der DDR und die deutsche Wiedervereinigung haben wahrscheinlich die Prominenz des Themas Aids in den Folgejahren verdrängt. Trotzdem publiziert der Spiegel noch auf verhältnismäßig hohem Niveau weiter (ca. fünfzig Artikel pro Jahr), bis 1996 deutliche Ermüdungserscheinungen sichtbar werden. Das mediale Interesse an der Berichterstattung über Aids hat deutlich an Boden verloren.

Spiegel Online: Experte warnt vor Komplettverseuchung Hongkongs

Es ist ein Horrorszenario: Binnen zwei Jahren, warnte der Mikrobiologe Samson Wong, könnte praktisch jeder der sieben Millionen Hongkonger mit der gefährlichen Lungenkrankheit SARS infiziert sein. Als möglichen Überträger der Seuche haben Forscher inzwischen Kakerlaken ausgemacht.

[...]

Unterdessen rätseln die Experten, wie sich die Seuche in dem dicht besiedelten Stadtteil Kowloon so schnell hat ausbreiten können. Menschliche Kontakte als alleiniger Grund seien nicht palusibel. Der stellvertretende Direktor der Hongkonger Gesundheitsbehörde, Leung Pak Yin, tippt auf Schaben: "Das Abwassernetz kann ein Grund sein. Es ist möglich, dass die Kakerlaken das Virus in die Häuser getragen haben."






In den 80ern gab es ja auch die Story, dass HIV sich über Stechmücken verbreitet, also über Insekten, denen man nie Herr werden kann.


doktor hans halter, der mann, der damals im spiegel für aids zuständig war (& vielleicht immer noch ist, ich lese gesundheitsgeschichten eher selten), hat seinerzeit ja auch mit der vermutung operiert, dass der hiv-virus durchaus mutieren würde können und irgendwann auch per tröpfcheninfektion übertragbar sein könnte, also aidskarteizwangsquarantäneisolation usw. für die risikogruppen, vor allem die eine, und dann, eh klar, einreisesperre für den neger, so ungefähr war das damals, ich kann mich noch gut erinnern, klingt alles so öde bekannt, dieselben hochrechnungen, exponentialkurven bis zur komplettausrottung, manchmal kommt es mir vor, als würden die expertenkassandras sich danach sehnen, aber wahrscheinlich ists nur wieder mal die sehnsucht nach einer weiteren angstmaschine, und vier buchstaben hat sie auch.


Ich werde mich bis an mein Lebensende an meinen ersten AIDS-Artikel erinnern, auch so 1983 oder 1984. Nicht im Spiegel, sondern in der Zeit. Darüber ganz gross eine Zeichnung vom Tod, wie er sich grinsend die Buchstaben AIDS auf seine Sense malt. Das ist mir ziemlich tief in meine 13jährigen Knochen gefahren. Dann ziemlich lang ohne Sex und Bluttransfusion, weshalb sich die Angst erstmal wieder gelegt hat.


merkwürdig. Erinnere mich auch noch an den Artikel; habe damals am nächsten Tag aufgeregt im Politikunterricht davon erzählt (Politik! Ach schönes Nordrhein-Westfalen), und alle haben mich angeguckt, als ob ich se nicht mehr alle hätte. [Nein, der Lehrer ist nicht später an AIDS gestorben, die Geschichte hört hier einfach auf.]


Sichtweise

Ich war seit 1983 in einer AIDS-Studie als Hiwi beschäftigt, damals nannte man die Krankheit noch GRID (Gay Related Immuno Deficiency). Für die, die sich damit beschäftigten und jeden Tag die Kranken sahen, war das schon dramatisch. Es ist alles eine Frage der Sichtweise. Etwas Abstand hilft manchmal sehr.


oh, wie interessant. 1983. wenn Sie darüber denn auskunft geben wollen, würden die details aus jener zeit sehr interessieren... dunkel kann ich mich daran erinnen, dass in dieser zeit gelegentlich die rede auch von gay cancer / schwulenkrebs gewesen ist, ich hab das damals aber nur als interessierter medienkonsument verfolgt und nicht als auf welche weise auch immer beteiligter. was den abstand betrifft: ich denke halt, dass die professionellen - also die mediziner, die forscher und die medien - die gottverdammte pflicht hätten, die jeweils neueste epidemie so besonnen wie möglich anzugehen. statt so fahrlässig hysterisch wie gerade wieder einmal bei sars. damals, in den anfängen von aids, gab es ja nicht nur die dramatik der sterbenden, sondern auch diesen unfassbar barbarischen verfolgungs- und verdächtigungseifer den risikogruppen gegenüber. bis hin zum zwangstatoo und isolationslager.


Es sind sicher einerseits die nach Aufmerksamkeit = Fördergelder gierenden Mediziner und Biologen, die da am Rad drehen, aber natürlich auch die Medien, denen der Krieg gerade ein wenig langweilig wurde. Ob es bei solchen Epidemien demnächst auch in Hospitälern "embedded journalists" gibt? Mich würde schon, rein hypothetisch, die Panik interessieren, wenn Ebola mal nicht nur in einem Umkreis von 30 km bleibt.

Jedenfalls hat es einen Bekannten (Biologe, Monekulargenetiker) mal wieder überzeugt, dass wir alle eines Tages an einem kleinen Virus verrecken werden, der eine winzige Mutation durch macht. Seiner Meinung nach, sind wir schon lange überfällig, weil wir ideale Überträger und Populationsbeschleuniger sind und dank der tonnenweise unters Volk und in die Nahrung gebrachten Antibiotika die meisten Viren eine stattliche Resistenz entwickelt haben


Weil es so gut passt: Stimmen aus der Vergangenheit - der erste Thread zu Aids im Usenet (1982). Verständliche Panik neben nüchterner Information.


Ähh, tschulligung, Hr. Dahlmann

Antibiotika sind gegen Bakterien und die entwickeln tatsächlich Resistenzen. Viren juckt das nicht.


hörnSe auf:

muß man sich ja sofort jucken, wenn man das liest