Die Zeitregulierung im Schachspiel hinkte der allgemeinen Entwicklung auf dem Weg zur Zeitdisziplin stets hinterher. Noch beim Londoner Turnier 1851, als die Eisenbahnen schon pünktlich auf die Minute verkehrten (oder zumindest Verspätungen gegenüber einem existenten Fahrplan produzierten), gab es im Schach keine Zeitbeschränkung. Einzelne Partien dauerten damals bis zu 20 Stunden. Im Wettkampf mit Paul Morphy brütete Louis Paulsen mitunter zwei Stunden über einen einzigen Zug. Es ist aus heutiger Sicht nicht ohne Interesse, wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts versucht wurde, die Zeit organisatorisch wie technologisch in den Griff zu bekommen.

Die Regel, dass Zeitüberschreitung den Verlust der Partie zur Folge hat, hat sich erst nach langem Zögern und Experimentieren herausgebildet. Zunächst wurde versucht, die Zeit für einen einzelnen Zug oder eine Zahl von Zügen zu beschränken. Der Mehrverbrauch konnte durch das Bezahlen einer Buße vom Spieler erkauft werden. Die (häufig uneinbringlichen) Bußgelder, Zeitbudgets und Zugzahlen variierten allerdings stark. Erst der 1924 gegründete Weltschachbund FIDE setzte nach und nach einheitlichere Zeitmaße durch.

Die Versuche, die Zeitdisziplin durchzusetzen, blieben im 19. Jahrhundert natürlich nicht unwidersprochen. Am bezeichnendsten für das Ende der Laissez-faire ist jene Geschichte, die sich beim Wiener Turnier 1882 zugetragen hat. James Mason überschritt gegen Henry Edward Bird die Zeit. Bird reklamierte jedoch nicht, und am Mason gewann die Partie. Wilhelm Steinitz, der direkte Konkurrent Masons um den Turniersieg, protestierte beim Schiedsgericht, worauf dieses Bird den Sieg zusprach. Etwas hatte sich verändert, wie bei den Regulativen der Arbeitszeit in den Fabriksordnungen 19. Jahrhundert: Musste um 1860 der so genannte blaue Montag, den die Facharbeiter in Lokomotiv-Fabriken gerne feierten, noch explizit verboten werden, so findet sich um 1890 nicht einmal mehr ein Verbot desselben.

Ernst Strouhal: Schach im Zeitalter der Ungeduld. Aus: Karl - das kulturelle Schachmagazin, sehr fein.






Zug um Zug


Es schlägt Dreizehn

Uhrenwerbung auf der Rückseite einer der Papiertaschen, die den Fahrkartensalat für kompliziertere Bahnreisen aufnehmen: Die golden geschmacklose Angeber-Armbanduhr wird vor dem Hintergrund einer Landschaft drapiert, über die zwei Düsenjäger hinwegdonnern. Seit 1884 stellt die betreffende Uhrenfirma schon "Instruments for Professionals" her. Bahn, Krieg und genaue Zeitmessung sind untrennbar miteinander alliiert. Die Bahn hat unseren Begriff von der Zeit, unser ganzes Zeiterleben in einem entscheidenden Sinn mitgeprägt, denn Bahnreisen über die astronomischen Zeitzonen hinweg machten zuerst die Einführung einer Einheitszeit überhaupt notwendig. "Die Eisenbahn hatte das Bestehen zahlreicher unterschiedlicher Zeiten erstmals als Mangel empfinden lassen, als immer längere Tagesreisen möglich und dabei ständige Korrekturen der Uhren notwendig wurden. Schließlich erwies sich das Zeitproblem mehr und mehr als Sicherheitsrisiko, weil es Mißverständnisse geradezu herausforderte und einen Zugführer zwang, etwa zwischen Ulm und Straßburg viermal die Uhr neu zu stellen, so daß auch keine Berechnung der Fahrzeiten aufgrund eines Vergleichs von Abfahrt- und Ankunftszeit zweier Stationen erfolgen konnte." (Rossberg, Die Geschchte der Eisenbahn, Sigloch 1983, S. 493) Die mitteleuropäische Einheitszeit, die uns heute so selbstverständlich ist wie die Luft, ist ein theoretisches Konstrukt, das den Anforderungen von Verkehr und Krieg entspricht. Sie widerspricht dem Lauf der Sonne, aber eine Einheitszeit für den Beginn der Offensiven und für die Abfahrt der Züge war wichtiger als der Lauf der Sonne. "Durch Reichsgesetz vom 12. März 1893 ist diese Zeitrechnung auch für das gesamte bürgerliche Leben angeordnet worden; seither ist als gesetzliche Zeit in Deutschland die mittlere Sonnenzeit des 15. Längengrades östlich von Greenwich definiert. (…) Für das damalige Deutsche Reich ergaben sich Zeitverschiebungen gegenüber der vorher gültigen Ortszeit von 31 Minuten an der Ost- und 36 Minuten an der Westgrenze." (ebd.) Sehr bemerkenswert ist hier das Selbstbewußtsein der Eisenbahner, mit dem sie den Widerstand der wissenschaftlichen, hauptsächlich der astronomischen Gemeinde gegen die Einführung einer Normalzeit kommentierten. Der Tonfall, der hier in einer Eisenbahnerzeitschrift angeschlagen wird, macht schlagend klar, daß Gall recht hat, wenn er behauptet, die Eisenbahner hätten sich zu den Blütezeiten des Systems als die eigentlichen Träger von Fortschritt und Rationalität begriffen: "Bei einer einfachen Frage des praktischen Lebens ist der Astronom nicht die maassgebende Autorität. Man braucht uns nicht für Verächter der Wissenschaft zu halten, wenn wir das, was der Gelehrte wissenschaftlich für falsch erklärt, doch ausüben, weil es praktisch ist. Die Bedürfnisse des täglichen Lebens sind nicht immer die der Studirstube, einseitige Interessen vertreten wir nicht, denn die Welt am Ende des neunzehnten Jahrhunderts steht unter dem Zeichen des Verkehrs." (ebd.) Subtile Spuren eines antiintellektuellen Ressentiments gegen die Sterngucker sind hier schon auszumachen, und der Ruf nach der Durchsetzung des Praktischen sollte später im Hohngeschrei über die "Intelligenzbestien" seinen dröhnenden Widerhall finden. Die Zeit wurde von der Sonne gelöst, weil es der Bahn nützte. Ist eine globale technische Zivilisation denkbar, die diese Maßnahme nicht ergreift? In einem zweiten Schritt wurden erst in den zwanziger Jahren unsere Zeitkonventionen noch einmal verändert, um Mißverständnisse im Amtsverkehr auszuschließen; das reine Duodezimalsystem erwies sich aber als so widerständig, daß die Amtssprache immer noch gegen die Umstandssprache anzukämpfen hat. "Während die Einführung der Einheitszeit im Jahre 1893 mit einmaligem Umstellen der Uhren als erledigt betrachtet werden konnte, besteht bei der Stundenzählung noch heute in der Umgangssprache die alte Gepflogenheit neben der amtlichen 24-Stundenzählung, die bei der Deutschen Reichsbahn, der Reichspost und der Wehrmacht (sic!) am 15. Mai 1927 um null Uhr eingeführt wurde." (Rossberg, S. 495) Die Zeit wurde geändert in Erwartung des kommenden Krieges. – Es macht guten Sinn, daß die Post in der Aufzählung der Zeitvereinheitlicher erscheint. Eng verbunden mit dem Problem der Einheitszeit ist das Bedürfnis nach einer schnellen und zuverlässigen Signalübertragung, und zu befriedigen war es bei der steigenden Zahl und Geschwindigkeit der Züge nur auf elektromagnetischem und später elektronischem Weg. In der Frühzeit der Bahn versuchte man es mit Sichtkontakt und Semaphoren, übrig blieb der elektromagnetische Impuls. "Nur zwei Jahre nach Bells Erfindung und noch vier Jahre bevor in Berlin das erste öffentliche Fernsprechamt mit 48 Teilnehmern eingeschaltet wurde, hatten sich bereits die Niederschlesisch-Märkischen Eisenbahnen und die Magdeburg-Halberstädter Eisenbahn die Erfindung zunutze gemacht." (ebd.) Vom Bahnsignal, das, durch ein elektromagnetisches Signal gesteuert, den fahrenden Zug steuert, bis zum Bahnfunknetz, das jeden Lokführer mit der übergeordneten Hierarchie verbindet: Das Netz der Nachrichten schwebt wie ein schnellerer Schatten über dem Netz der Geleise. Der in der Einheitszeit sich bewegende Zug wird im Kokon der Signale, der ihn einhüllt, zur Nachricht, die ihre eigene Übermittlung steuert: Die Strecken der Bahn sind von Bahnhof zu Bahnhof in sog. Blöcke eingeteilt, Raumabschnitte, in denen sich zu einem gegebenen Abschnitt der Einheitszeit immer nur ein Zug befinden darf; kontrolliert wird die Bewegung von Block zu Block durch die elektromagnetisch und elektronisch gesteuerten Fahrsignale. Fehler hierbei kosten sehr schnell Menschenleben. So ist die Bahn im Frieden. Fährt sie in den Krieg, stellt sie diesen Bezugsrahmen unmittelbar in den Dienst der Gewalt. Effizienz und Zuverlässigkeit der Organisation schlagen um in blutigen Terror. Was aus den technischen Notwendigkeiten der Bahn erwächst, und Menschenleben schützen soll, gerät zu einer gutgeölten Maschinerie der massenhaften Abschlachtung. So waren die Rückfahrpläne der Reichsbahn aus den Geisterbahnhöfen der KZs fingiert, geben heute aber Nachricht über die Genauigkeit der Planung, mit der der Terror exerziert wurde. Die Planung ist inhaltlich leer, bei der Bahn dient sie mit quecksilbriger Flexibilität dem Transport oder der Vernichtung, der Reise oder der Deportation. Der naiv technisch begeisterte Nostalgiker will es nicht wahrhaben. "Während des Zweiten Weltkrieges erreichte dann das Basa-Netz der Deutschen Reichsbahn seine größte Ausdehnung. Zeitweise ließen sich im Bahnnetz selbstgewählte Gespräche von Rostow am Don bis nach Paris und Bordeaux führen." (ebd.) Im Schweigen über die Ursachen und Nebenwirkungen dieser technischen Großleistung dröhnt das Geschrei der Opfer. Auf der Rückseite der Fahrkartentasche macht der Düsenjäger Werbung für die Pünktlichkeit der Gewalttat.

S. 110 - 114


Re: Zug um Zug

Zur Einführung der Zeitzonen usw. gibt's auch einen sehr faktenreichen Text aus der Szene der Kurzwellenhörer.


die storrie geht ja weiter:

gezz werden die bedenkzeiten ja sehr hektisch zusammengestrichen. die spiele sind nicht mehr so schön (eigentlich seit fischer nich mehr).