Eines der letzten innereuropäischen Abenteuer ist der Nachtzug von Dresden über Prag und Bratislava nach Wien. "Besser is, Sie machen Tiere zu, weiss man nie was is." Ankunft 0603, schadlos. Nachtzüge im Besonderen sind grosse Klasse. München - Rom etwa, mit 1 Stunde Halt um Mitternacht auf dem Brenner und Roma Termini in aller Herrgottsfrühe.






Der Nachtzug München-Rom — ich kenne den von München-Pescara, der ähnlich sein dürfte: kaum passiert man die italienische Grenze, ist der Zug voll; wenn man nur einen Sitzplatz hat, verlangt alle halbe Stunde ein Kontrolleur einen Fahrschein (man soll nicht schlafen, wenn man keinen Liegeplatz bezahlt hat).

Das Überfahren der Grenze, die Dauer: ganz anderer Begriff vom Reisen.


Ganz große Klasse! Von Ljubljana über Genf nach Paris. Eine ganze Nacht im Stehen verbracht damals. Mit einer halben Stunde Stromausfall Höhe Padova. Holdes Interrail.


als kind mal mit omas nach sizilien gefahren, auf einem teilstueck trans europe express, ich habe retrospektiv das gefuehl, wir waren 2 tage unterwegs und sind 7mal umgestiegen, tatsaechlich aber nur in innsbruck und rom. so kann man heute garnicht mehr reisen, stelle ich mir vor.



Auf der Fahrt in die Toskana muß ich in München umsteigen. Der wartende Zug steht schon bereit, und ich bewege mich mitten in einer großen, nächtlichen Prozession darauf zu: Urlauber mit hinkelsteinartigen Rucksäcken wie ich, Geschäftsreisende, die sich kein Flugzeug leisten können oder wollen, viele, viele Familien mit Sack und Pack, für die möglicherweise auch Italien nur eine Durchgangsstation ist. Ich erwarte eine beengte Situation und bin schon nervös und gereizt, bevor ich noch den Zug bestiegen habe, aber da er ganz leer und sehr lang ist, verteilt sich die Prozession ohne große Probleme. Ich finde ein Abteil mit einer einzelnen Frau darin, und mache mich auf zwei einander gegenüberliegenden Sitzen breit, denn ich werde in der kommenden Nacht hier in diesem Abteil schlafen müssen. Ich bin noch nicht ganz installiert auf meinen Behelfsbett, als die Frau die Vorhänge an der Abteiltür zusammenzieht. Es ist mir ganz recht, ich kann auch ohne weitere Belegung in diesem Abteil zurechtkommen, besser als mit, wenn man es genau bedenkt.

"Wird voll, der Zug", sagt die Frau. Münchnerin. Ich nehme sie zum ersten Mal richtig wahr: Anfang vierzig, mager, ein angenehmes, freundliches Gesicht, mit Lachfältchen um die Augen herum.

"Hoffentlich nicht zu voll", antworte ich sibyllinisch und flach, weil mir nichts besseres einfällt.

"Ursula", sagt sie und reicht ihre Hand herüber, ich ergreife die Hand, ich sage meinen Namen auf. Dann will ich lesen, aber auch wieder nicht. Ich bin jetzt mehr oder weniger allein in einem Zug, der in ein fremdes Land fährt, und ein altes Gefühl stellt sich ein, das sich bei solchen Gelegenheiten immer einstellt. Ich weiß ja, daß ich ankomme, ich weiß ja, daß dieser Urlaub schön wird, ich weiß, daß alles vorbereitet und gut angelegt ist. Ich habe die Vorauszahlung für die Pension geleistet, meine Fahrkarte steckt in meinem Geldbeutel, mein Geld in meinem Brustbeutel; ich habe das Formular zur europaweiten Gewährung von Ansprüchen aus meiner Krankenversicherung erbeten, erhalten, gefaltet und eingesteckt, ja danke; ich bin der Tourist, den die Versicherungswirtschaft, die Tourismusbranche, die Polizei, mein Vater und meine Mutter sich wünschen, und trotzdem habe ich Angst. Manche nennen das Reisefieber, ich würde es Reiseangst nennen, und ich kann rein gar nichts dagegen tun, genauso wie gegen Lampenfieber oder Prüfungsangst. Ich würde gerne Ursulas Hand halten und sie fragen, ob alles gut wird, und sie sollte es mir in ihre weichsten Stimme bestätigen, bitteschön. Ich kann also nicht in meinem Buch lesen. Ich sehe aus dem Fenster und ärgere mich mild über meine kindlichen Bedürfnisse.

"Es ist gut, daß Sie gekommen sind", sagt die Frau. Ich schrecke auf. "Wissen Sie, mein erster Urlaub, bald zwanzig Jahre her, ich bin allein mit dem Zug nach Sizilien gefahren." Oha, denke ich, oha. "Ich war ja völlig unerfahren, und dann diese Nacht im Zug. Es gab da ziemlich üble Szenen. Ich sollte darüber hinweg sein, nach zwanzig Jahren, aber es wirkt einfach noch nach."

Mir fällt immer noch nichts Gescheites ein. Spricht sie von einer Vergewaltigung, die sie bei ihrer ersten Italienreise erlitten hat?

"Deswegen ist es gut, daß Sie da sind. Ich würde mich sonst ängstigen."

Sie lächelt mich an, und ich weiß immer noch nicht, wie mir bei dieser Verwandlung vom schutzbedürftigen kleinen Jungen zum Mann als Beschützer eigentlich geschieht. Ich entscheide mich, es nicht persönlich zu nehmen. Sie hat gehofft, von jemand begleitet zu werden, dem sie ein Minimum an Vertrauen entgegenbringen kann. Ich komme ihr gerade zupaß. So soll es sein. "Gut", sage ich, und das scheint zu genügen. Später sprechen wir noch ein bißchen miteinander. Der Zug rollt durch Österreich, wir schweben am Schlaf entlang, und manchmal kommt es zu einem kleinen Gespräch. Ich bekenne, daß ich noch nie in Italien war, sie berichtet von ihren weitläufigen italienischen Erfahrungen. Jene erste Reise und ihre Desaster werden noch einmal kurz erwähnt, und sie belässt es dabei. So geht es die Nacht und den Morgen hindurch. Kurz hinter Bologna kommt eine Italienerin in das Abteil, und Ursula unterhält sich mit ihr in fließendem Italienisch. In der Nacht habe ich drei Wörter Italienisch gelernt, um am Fahrkartenschalter in Florenz ein Ticket nach Siena lösen zu können, und die beiden prüfen die Ergebnisse meiner Anstrengungen.

"Es wird schon gehen", sagt Ursula beruhigend, "die können auch Englisch."

Wir fahren gemeinsam bis Florenz, Ursula möchte nur schnell ihren Rucksack unterbringen, ich möchte nur schnell meine Fahrkarte kaufen, und – wir haben einander aus den Augen verloren. Im Zug nach Siena denke ich: Schade.

Ist von mir, genaue Quelle bei Interesse.