In der vergangenen Woche Neal Stephensons "Cryptonomicon" gelesen, von dem Herr Hack hierorts entschieden abgeraten hat, während Herr Knoerer es ebenso entschieden empfahl. Ich für meinen Teil mochte das Buch sehr gerne. Es gibt darin großartige Passagen über die Trance von Code-Knackern, es gibt darin ein umwerfendes Kapitel, in dem jemand während einer Messe darüber nachdenkt, wie er die einzelnen Noten einer Bach-Toccata, jede für sich, so transponieren muss, damit sie sich auf der völlig verstimmten Kirchenorgel richtig anhört, und es gibt darin eine ganz zarte Liebesgeschichte zwischen einem Code-Breaker und einer Taucherin, die sehr anders ist als die Frauen sonst so in der Gegenwartsliteratur: sachlich, nüchtern, unromantisch, gut sortiert, aber auf eine nicht kompromittierende Weise ergeben, fast so, als wäre ihre Liebe das Resultat eines logischen Schlusses (was wiederum, wie Logiker wissen müssten, nicht bedeutet, dass sie nicht leidenschaftlich wäre, eher: im Gegenteil). Merkwürdig, dass es in literarischen Texten sachliche Frauen so selten geben darf, dachte ich.
Hab's nach mühsamen 450 Seiten weggetan: konnte die Faktenhuberei und den GI-Joe-Patriotismus, von dem anderen rechtsradikalen und "cyberlibertären" Müll abgesehen, nicht mehr ertragen. Die Taucherin "sachlich"? Oh weh. So stellt sich wohl Stephenson eine "starke" Frau vor. Die Probleme mit Stephenson waren schon in "Snow Crash" sichtbar (auf der ersten Seite, wenn man's genau nimmt), in ersten Ansätzen sogar schon in "Zodiac". "The Diamond Age" hatte eine so wunderbare erste Hälfte, daß ich noch einmal durchstarten wollte, und mich richtig auf "Cryptonomicon" freute, dann die Enttäuschung. Schade um einen Autoren, der wirklich schreiben kann.
Müll.
GI-Joe-Patriotismus, ja gut, zugegeben, obwohl: es ist halt eine Militärgeschichte, da ist es schon verständlich, dass da jede Menge Soldaten durch die Welt stapfen, was den Patriotismus betrifft: bis auf die paar Passagen mit General McArthur fiel mir der eher nicht auf. Der Rechtsradikalismus muss mir entgangen sein (was mich wundern würde, ist doch sonst bei mir eine gerne gepflegte Idiosynkrasie), das Cyberlibertäre legt sich jenseits der 450 Seiten, die Du gelesen hast, wieder, weil der ganze Datenhafen-Krypta-Plan, den die Cyberlibertären sich ausdenken, von einer großen Koalition unter Führung der USA-Regierung zum Scheitern gebracht wird. Und die Liebesgeschichte wird eigentlich auch erst in der zweiten Hälfte des Buchs akut - in der ersten bleibt sie zugegebenermaßen ziemlich blass.
Aber waren es nicht die Bösen, die die guten Träume der Cyberlibertären zum Scheitern gebracht haben? Wie dem auch sei: Mein lustigstes Erlebnis mit dem Buch hatte ich, als es geliefert wurde. Amazon hatte einen Zettel beigelegt, in dem sie sich dafür entschuldigten, dass der Buchblock (der Hardcoverausgabe) so einen ausgefransten Eindruck mache, das sei aber so gewollt, damit das Buch so aussehe wie ein altes, handgebundenes Buch. Wenn man das nicht gut fände, sollte man es zurückgeben.
Stephenson, Bierbrauer
Noch was zu Cryptonomicon. Es gab mal einen Spruch zum Boykott der amerikanischen Biermarke "Coors": "Coors is anti-women, anti-earth, anti-labor. And it tastes awful." Stephenson geht mit der Homosexualität von Turing beschissen um, es gibt wirklich fiese Sprüche zum Umgang mit Sexualstraftätern, er bemüht sich verkrampft, die US-amerikanischen Anstrengungen zum Knacken des japanischen "Purple"-Codes den britischen Aktivitäten in Bletchley Park zur Seite zu stellen (und man hat den Eindruck: aus reinem Nationalchauvinismus), das Ganze schmeckt für mich so wie Coors. Quergelesen mit den früheren "Ausrutschern" seit Zodiac, die all diese Elemente im Kleinformat enthielten, ergibt sich das trübe Bild eines Autors, der nach langem Zögern seinem Patriotismus auf den Leim gegangen ist. Irgendein Scheißgeschwurbel zu 9-11 in näherer Zukunft scheint mir nicht ausgeschlossen.
Ich hab' schon wieder ein Drehbuch!
Hmmm... Bei Stephenson muss es immer was mit grosser Historie zu tun haben. Drunter setzt er gar nicht bei der Plotkonstruktion an. So ein tiefgreifendes nationales Drama, da kann kein echter amerikanischer Schriftsteller daran vorbeigehen... Ich denke, er fängt diesmal bei Hassan i Sabah und der Assasinensekte (ja, ich weiss, dass man das alles auch ganz anders und richtiger schreiben kann) an! Da kann man prima einsteigen, mit orgiastischer Gewalt, Drogenräuschen und heimtückischen Morden an unvorsichtigen Sultanen. Doch dann ein Schnitt in die Gegenwart. Der amerikanische Selfmademan und Entrepreneur Hank "Lucky" Jackson, ein Anfangdreissiger, der sich aus der Slacker-Atmosphäre der "Generation X" emporgearbeitet und eine kleine Firma für Virtual Private Networking gegründet hat, hat im WTC-Desaster nicht nur seine ganze Firma mitsamt Mitarbeitern, sondern auch seine geliebte junge Frau verloren. Hank ist plötzlich gar nicht mehr so lucky, sein Leben ist gebrochen, sein hübsches Haus in Connecticut ist leer und öde, draussen warten schon die Repo men. Hank gibt sich vorerst geschlagen, aber sein alter Mentor am MIT, Roderick "Spliff" O'Brien, bringt ihn vorübergehend als Dozent für Computer Security an seinem Lehrstuhl unter. Die Atmosphäre am Campus, die jungen amerikanischen Genies ringsrum und nicht zuletzt seine Kollegin Tisha lassen Hank schnell wieder seinen Mut gewinnen. Als er eines Nachts an einem experimentellen drahtlosen Netzwerktransmitter herumbastelt und seine Freunde Pizza holen gegangen sind, fängt Hank plötzlich eine Nachricht auf einer Frequenz auf, die es gar nicht geben kann. Zusammen mit Tisha entschlüsselt er, was da im amerikanischen Äther nachts und unbeobachtet unterwegs ist und ein unsichtbares Netz um die schlafenden braven Bürger zu spinnen scheint: Es ist das Netz von Hassan i Sabbah und der Assasinensekte! Sie existieren noch heute! Bevor Hank und Tisha damit zu Tishas Onkel, Rear Admiral Richard F. Brockman (Ret.) vom Navy-Geheimdienst, laufen können, wird letzterer von den arabischen Schurken des Hassan i Sabbah ermordet. Gemeinsam mit Hanks altem Studienfreund Ari, der beste Connections in den Nahen Osten hat, machen sich die drei Freunde auf eine mörderische Reise, um die westliche Welt vor den Machenschaften der Assasinensekte zu beschützen. Wer ist der neue Hassan i Sabbah, der Amerika vernichten will? Ist es Saddam Hussein? Ein iranischer Mullah? Osama bin Laden? Harun el Raschid? Isnogud? Wer wird Kalif, anstelle des Kalifen? Demnächst auf Ihrem Breitwandkino und als Mega-Roman bei Doubleday!
He, die Trimondis haben auch noch was zum Kalachakra anzubieten. Auch nicht von schlechten Eltern.
Oh. Ich glaube, wir beide sind momentan ein paar tausend Meilen zu weit weg von Hollywood... Das mit dem Kalachakra liest sich super! Alles da, was man braucht: Scheinheilige Dalai Lamas, Finstere Nazis aller Grössenordnungen... Anweisungen von Hitler persönlich, dunkle Rituale... Super! Ich schreibe gleich an der Fortsetzung: "Hassan i Sabah gegen den Dalai Lama - Erschütterung der Börsenkurse!"
Ausgezeichnet, Monsieur!
Der Ernsthaftigkeit halber füge ich jetzt noch hinzu, dass das, was die Trimondis schreiben, unstimmiger und aus Quellen willkürlich zusammengefingerter Quatsch ist, und dass mich die Veröffentlichung dieses Quatsches im "Standard" einmal mehr in der Ansicht bestätigt, dass beim Umgang mit vor allem asiatischer Fremdkultur Intelligenz gern noch vor der Garderobe abgegeben wird. Ernsthaftigkeit Ende. Wir teilen uns dann den Drehbuchgewinn, ja?
Dachte ich mir. Vom Drehbuchgewinn kaufen wir uns unglaublich viel Popcorn und vor allem ein Privatflugzeug. Das werden wir noch brauchen.
ich glaube, es gibt sie vielleicht gar nicht so selten, sehr selten allerdings in der rolle der von einem männlichen protagonisten angebeteten oder geliebten. vielleicht auch gar nicht. spielen nicht sachliche frauen oft eher die rolle, einem etwas verwirrten und vom richtigen weg abgedrifteten helden den charakter wieder geradezurücken, damit der sich's dann letztlich doch nicht mit seiner prinzessin vergeigt (die wo natürlich nicht durch sachlichkeit glänzt) oder dem drachen (bösen mächten, gangstern, dem system) unterliegt?
Ja! Intellektuell brillante Frau, die von verschwurbeltem Spinner rückhaltlos angebetet und verehrt wird. Finde ich spontan einleuchtend.
Im Leben
gibt es sie, die sachliche Frau, glaube ich, sogar recht oft, und was mich betrifft, ist es jene Frau, die ich am innigsten anbete und liebe. Der ganze Prinzessinnen-, Kleinmädchen-, Mein-irrationales-Ego-ist-so-kostbar-Kram ermüdet mich nur noch. Was sicher auch mit meinem Job zu tun hat, aber nicht nur. Seltsam finde ich nur, dass die Frauen, die ich im Leben mag, in der Literatur - mit ein paar Ausnahmen - gar nie vorkommen. Als ob Frauen nicht mehr in der Literatur funktionieren, wenn sie für Verstand und Vernunft - also das Allgemeine - zuständig sind statt immer nur für Gefühle, Intuition, Weisheit und sonstige Partikularitäten Das einzige, was mir aus dem Stand einfällt, ist Meineckes Tomboy. Aber das sagt ja eh schon im Titel, was die Absicht ist.
Man muss lange suchen. Aber es lohnt sich. Speziell das mit dem irrationalen-Ego-Kram würde ich nicht nur unterschreiben, sondern auch noch solide rahmen lassen und gut sichtbar an die Wand hängen. Meine "Heldin" im Untergang der BRD ist recht schön schlau und pragmatisch.
Ich bin immer noch auf der Suche
... und sei es nur nach einem Buch, in dem sich zwei sachliche Personen finden. Klassisch ist immer mindestens einer verschwurbelt.
Naja. Wenn ich pure Sachlichkeit will, nehme ich ein Buch aus dem O'Reilly-Regal zur Hand. ;)
Nennen wir es pragmatisch. Mein Problem, ist, daß ich mir einen Text mit nur pragmatischen Menschen garnicht vorstellen. Wenn ich es versuche, lande ich irgendwie gedanklich bei Begriffen wie Kaufvertrag oder ähnlichem.
PS: Es gibt O'Reilly-Regale? So als kostenlose Beilage zum 100sten Buch? Mit kleinen geschnitzten Kamelen und sonstigen Viechern?