Stifter, Aus der Mappe meines Urgroßvaters: "Es ist dies die Dichtung des Plunders", das große Programm einer kleinen Literatur, den Dingen, die herumstehen, eine Geschichtsschreibung der Liebe abzuhören und abzulesen, gegen eine Geschichtsschreibung des Hasses. "Es ist etwas Rührendes in diesen stummen, unklaren Erzählern der unbekannten Geschichte eines solchen Hauses. Welches Wehe und welche Freude liegt doch in dieser ungelesenen Geschichte begraben, und bleibt begraben. Das blondgelockte Kind und die neugeborne Fliege, die daneben im Sonnengolde spielt, [unfassbar, dass ihm an dieser Stelle "die Fliege" einfällt…] sind die letzten Glieder einer unbekannten, aber auch die ersten einer vielleicht noch längern, noch unbekannteren; und doch ist diese Reihe eine der Verwandtschaft und Liebe, und wie einsam steht der einzelne mitten in dieser Reihe! Wenn ihm also ein blassend Bild, eine Trümmer, ein Stäubchen von denen erzählt, die vor ihm gewesen, dann ist er um viel weniger einsam. Und wie bedeutungslos ist diese Geschichte; sie geht nur zum Großvater oder Urgroßvater zurück, und erzählt oft nichts als Kindtaufen, Hochzeiten, Begräbnisse, Versorgung der Nachkommen - aber welch unfaßbares Maß von Liebe und Schmerz liegt in dieser Bedeutungslosigkeit! In der andern, großen Geschichte vermag auch nicht mehr zu liegen, ja sie ist sogar nur das entfärbte Gesamtbild dieser kleinen, in welchem man die Liebe ausgelassen, und das Blutvergießen aufgezeichnet hat. Allein der große, goldene Strom der Liebe, der in den Jahrtausenden bis zu uns herab geronnen, durch die unzählbaren Mutterherzen, durch Bräute, Väter, Geschwister, Freunde, ist die Regel, und seine Aufmerkung ward vergessen; das andere, der Haß, ist die Ausnahme, und ist in tausend Büchern aufgeschrieben worden." Müsste immer noch gehen, ohne dieses Herrgottswinkelhafte, die Bauernhausidyllik, die Familienverengungen.
über den eintrag freue ich mich, ganz einfach, weil ich gerade beschlossen habe, als nächstes über stifter zu arbeiten, wenn ich was an der universität mache, post-doc-wise. es ist einfach so irre. beeindruckend.
im grunde verkantet sich aber doch schon das herrgottswinkelhafte, die bauernhausidyllik, die familienverengung auf dem weg und während des lesens, oder? stifter stellt seinen irrsinn ja immer selbst mit aus. deshalb könnte ausgerechnet stifter im grunde die subversion sein, die man gegen das kommende neo-biedermeier richten kann, das uns ab dem 18. september bevorsteht.
Ist kein Unfall vorgekommen?, fragte sie. Ein zerbrochenes Rad, das wieder gemacht worden ist, entgegnete er, eine kranke Kuh, die wieder gesund ist, und anderes, dessen ich mich nicht mehr entsinne. Das ist ohne Bedeutung, sagte sie, bei mir ist gar nichts vorgekommen. So stehen die Sachen vortrefflich, antwortete er.
was für eine welt.
was das lesen angeht, hast du recht mit den verkantungen. ich frage mich beim lesen aber oft, ob man noch so schreiben könnte, 21. jahrhundert, mit dem inventar, am material des 21. jahrhunderts (und was man tun, wie man sein müsste, um mit solchen programmen schreiben zu können). meine selbstverständigungen (manchmal auch albern).
Für alle. Der Stifter-Einfluss bei Rainald Goetz.
In der Druck-Ausgabe gab's damals noch schöne Pferde-Bildchen dazu.
"ob man noch so schreiben könnte, 21. jahrhundert, mit dem inventar, am material des 21. jahrhunderts"
goetz fällt mir da gar nicht ein, eher - auf den ersten blick bestimmt absurd - "glamorama" von bret easton ellis. zumindest wenn man bei glamorama nicht in der konsumkritik-falle hängenbleibt, sondern etwas genauer hinguckt. dann entdeckt man eben: auch eine hingabe zu den oberflächen, auch eine variation von klischees, die sich selbst ausstellen (alle sexszenen zum beispiel), auch viel selbstentfremdung (wenn auch anders, okay), auch das an die grenze der sprachlichen struktur gehen: die annäherung an ein filmskript, das aufgehen in ein filmskript, das herausfallen aus dem filmskript, die doppelung des erzählers. - we're sliding down the surface of things.
aber natürlich: keine ruhe, sondern viel unruhe, viel unterbrechung, viele klammern, viel gesprochene rede, viel show - keine erzählung, keine beschreibung, keine distanz.
wie oder besser wo überhaupt könnte man also heute diese entfernte, verkantete ruhe von stifter ansetzen? sicher nicht bei einem neokonservativen paar, dass gemäß mariam lau spargel isst und sich über die neue snoop-doggy-dogg unterhält. das wäre zu wenig. stifter lebt ja aber doch von der doppelung des konservativismus, der in dieser doppelung dann keiner mehr bleibt. das heute wiederholen. schwierig.
Müsste gehen, ich wünsche mir das auch, es wäre dabei einiges zu umschiffen, Dingfetischismus vielleicht und eine sich wahrscheinlich leicht in sowas einschleichende Heilungsattitüde.
Ich sah sie mit ihrem lichtbraunen Seidenkleide zwischen andern hervorschimmern, dann sah ich sie wieder nicht, dann sah ich sie abermals wieder.
Der Hinweis auf Goetz (und Hueser) ist ja wahnsinnig interessant (nicht weil Stifter Fürsprache bräuchte . . .); ich bin mir beim ersten, hastigen (wenig stettigen ...) Lesen der Hüser-Kompilation nicht sicher, ob ich die patterns erkenne: ein Aspekt in Stifter, der zu Goetz linkt, ist bestimmt die Dimension des Gewöhnlichen, Normalen, insbesondere im Sinne der Nicht-Veränderung, Wiederholung: Hüser zitiert z. B.:
Am dritten Tage war es ungefähr wie an den vorhergegangenen zwei Tagen.Ein anderes, damit zusammenhängendes Moment mag die indikativisch, assertive Feststellung des Zustands, von Zustands-haftigkeit, sein: bis hin zur Redundanz, Repetition in Sinn und Syntax:
»Wir kommen, wir kommen«, riefen viele Stimmen.Gewöhnlichkeit und Redundanz lassen sich miteinander koppeln: Im Nachsommer liest man:
Man wiederholte vielleicht oft gesagte Worte, man zeigte sich manches, das man schon oft gesehen hatte, und machte sich auf Dinge aufmerksam, die man ohnehin kannte.Allgemein wurde von allgemeinen und gewöhnlichen Dingen geredet
Gibt es vielleicht einen (nicht-kompilatorischen) Text von Hüser zu der Stifter-Goetz-Connection?
Was ich auf den ersten Blick in Goetz gar nicht sehe: die Stiftersche Diskretion. Der Nachsommer ist ja vielleicht in erster Linie eine Etüde in Diskretion (wer behandelt Namen mit grösserer Zartheit als Stifter?).
Und diese Diskretion mag zu tun haben mit etwas anderem, das es dann auch schwierig macht, den "Plunder der Dinge", das "sanfte Gesetz" relativ unvermittelt in die "kleine Literatur" von Deleuze und cultural studies-attitude zu übersetzen (das meine ich jetzt nicht als debunking des wunderbaren Hinweises auf die Mappe): das Kleine scheint bei Stifter ja doch überwölbt vom Bezug zu einem grossen Ganzen: Sinn, Tradition, Familie, Nachkommenschaft, usw.: es scheint, die Diskretion des Details wird getragen von einem Gefühl der Gefährdung des grossen Zusammenhangs, der aber gleichwohl weiter unterstellt und insofern unterschrieben wird (das dann das genuin Biedermeierliche in Stifter und das einerseits eine gewisse Aktualität bei ihm ausmachen mag, andererseits aber den Link zu Goetz und Pop, wie es heute ist/war/sein soll, problematisch macht).
Yeah, noch eine Bemerkung: Redundanz und Normalität buchstabieren auch einen gewissen 'Realismus': in Nachkommenschaften (dessen Protagonist den Namen, uh, "Roderer" trägt) heisst es:
die wirkliche Wirklichkeit darstellen [...] wirklich das Wirkliche darstelle[n]
ich habe mal nachgeschaut. hüser hat die behaupteten analogien bisher nicht in aufsatz- oder buchform veröffentlicht.
ich finde das ganze in der jetzigen form etwas schwierig. vielleicht hätte hüsen konkrete textstellen von goetz parallel setzen sollen. [schon das dossier umfasste allerdings 4 zeitungseiten.] er kann ja eigentlich nur "rave" gemeint haben, andere texte erkenne ich da nicht wieder.
ich fände eine solche untersuchung schon unter dem gesichtspunkt spannend, dass im zusammenhang mit goetz bisher ja immer nur die üblichen verdächtigen genannt wurden: nietzsche (der erste satz des ersten romans "irre" ist ein zitat aus "ecce homo"), döblin (die erste längere passage aus "irre" habe ich immer parallel zum anfang von "berlin alexanderplatz" gelesen), benn (es gibt einen band von thomas doktor und carla spies, der die parallelen anhand von "irre" en détail untersucht), die letzten beiden ja auch unter dem gesichtspunkt des "ärztlichen blickes"; camus (der zweite oder dritte satz in "rave": "man muss sich sowieso als glücklichen menschen vorstellen") etc. pp.
stifter spielte da bisher keine rolle.
Noch eine Bemerkung zur möglichen Aktualisierung, Aktualisierbarkeit Stifters: seine Ironie-Freiheit. Wie soll das heute gehen? Da lauern Untiefen. Natürlich ginge es nicht darum, Stifter zu "ironisieren" (um Gottes willen . . .!), dann kann man's gleich lassen – aber wäre jede Aktualisierung nicht gezwungen, Stifter at second order zu nehmen? Den Stifter-Sound als Stifter-Sound nehmen und schauen, was dann aus Ernst, Diskretion, Langsamkeit, usw. wird?
Übrigens vielleicht gar nicht so klar, wie es mit Ironie respektive Ironie-Freiheit bei Goetz steht: der hat auf seine Weise ja auch, bei aller Flottheit, etwas sehr Ernstes, Krasses.
speziell die frühen texte von goetz wirken sehr ernst. das sind keine texte, die sich selbst problematisieren würden. der krasse behauptungsgestus, die polemik, der hass: es erinnert schon stark an thomas bernhard. auch die aktuelleren texte fand ich immer ziemlich ironiefrei. die einzige ausnahme: abfall für alle.
Aporiegenuss
Der Nachsommer, das war im Sommer 1993 eine großartige Leseerfahrung.
Und übrigens wirklich auch parallel zu lesen, damals, zu den Handkeschen Versuchen, seiner großartigen Niemandsbucht & Goetz' Festungs-Klotz, die in etwa damals auch erschienen waren.
Die Vibration der Mikrolebensformen unter dem großen Bemühen, aus all diesem sprachlich eine gelungene, erzählbare und lesbare Gesamtheit werden zu lassen.
Und die Schwierigkeiten dabei aber nicht verhehlen. Und es trotzdem versuchen. Und jede einzelne Schwierigkeit im schreibenden Zeigen noch weiter betonen. Und es weiterhin versuchen etwas Stimmiges draus werden zu lassen.
Aporiegenuss.
Lodenmantel-Funk? Niemals! If you fake the funk, your nose will grow!