FR > Serie: Sind Sie konservativ? ---
Ich nehme zur Kenntnis, dass er [Ratzinger; pp] als konservativ bezeichnet wird. Ich weiß aber nicht, ob es konservativ ist, wenn die katholische Kirche im Beharren auf bestimmte Rituale sich weigert, eine "sozialdemokratische" Öffnung einzuleiten. Die Religion ist ein ganz anderes Geschäft, da greift der Gegensatz von konservativ und progressiv nicht. Ich bin jedenfalls keiner, der sagt, die Kirche müsse sich politisch engagieren. Denn dann müsste sie natürlich progressiv sein. Das Faszinosum hat eher mit dem "Popistischen" des Katholizismus zu tun, dem Opulenten, was man auch mit Namen wie Madonna oder Martin Scorcese in Verbindung bringen kann. Wenn man aber wirklich in die Theologie einsteigt - Transsubstantiationslehre, Unbefleckte Empfängnis, der Marienkult, das Weibliche in der Eucharistie -, dann kommt man sogar zu einer interessanten Verbindung von fortschrittlicher Theorie (was für mich immer "feministische" Theorie bedeutet) und mittelalterlichen, zeichentheoretischen Überlegungen, die in den Klöstern geleistet wurden. Die Kirche bedeutet für mich eine intellektuelle Fasziniation.
FR > Sind Sie konservativ, Thomas Meinecke? ---
Ich glaube, man kann, grob gesagt, aus zwei Gründen konservativ sein. Nämlich aus Angst vor einem in Innen- und Außenwelt drohenden Chaos. Das gilt für die Schwachen wie für die Starken, für die notorisch Geführten wie für die Führer. Die einen fürchten um ihre kleine Habe und Übersicht, die anderen um ihre große. Man besinnt sich auf den Trost konservativer Strukturen um den Preis gesellschaftlicher Dynamik. Ein zwiespältiger Prozess, der wohl von Zeit zu Zeit fällig ist, eine unvermeidliche Wellenbewegung, der man sich jedoch keineswegs als neuem Mainstream unterwerfen muss. Interessanter ist das Konservativsein aus Unerschrockenheit, also dem Gegenteil von Angst. Ich meine damit eine trotzige, besser noch spielerische Treue gegenüber bestimmten Ritualen, Zeremonien des Lebensvollzugs, die sich gegen die allzu selbstverständliche, neuerdings durchs Fernsehen noch beschleunigte Übernahme gesellschaftlicher Kopflosigkeiten richten. Konservativer Lebensstil, wenn nicht aus Klassenarroganz, sondern aus individuellem Mut zu Einzelgängertum und Einsicht in die permanente Notwendigkeit von Form, am schönsten, wenn er leicht ironisch gehandhabt wird, ist im Grunde nichts anderes als Gestalt gewordener Eigensinn, Skepsis gegen Sound und Zeitgeist. Gertrude Stein, Idealtyp der Avantgardistin, hat einmal gesagt, vielleicht sei keine Sache wert, getan zu werden, werde sie aber getan, solle man sie mit größtmöglicher Grazie tun.
FR > Sind Sie konservativ, Brigitte Kronauer? ---
Wenn Sie sich etwa unter den sich konservativ nennenden Politikern umschauen: Was ist denn aus dem emphatischen Begriff der Freiheit geworden? Deren Freiheitsbegriff beruht auf nichts anderem als darauf, unsere Ordnung aufrecht erhalten zu wollen. Die Ordnung soll konserviert werden - was so viel heißt wie: mindestens zwei Autos für uns und maximal zwei Kinder für eine Frau in Pakistan. Unsere Freiheit bedeutet, so reich zu bleiben, wie wir sind. Individualität ist dabei nicht vorgesehen. Ich glaube, wir sind alle ein bisschen weltfremd; denn Wachstum ist ja nicht in alle Ewigkeit zu betreiben. Was mich immer wundert, ist, wie das eigene schlechte Gewissen ausgeblendet wird. Das schlechte Gewissen, das daraus resultiert, dass unser Wohlstand erkauft ist von denen, denen es nicht so gut geht. Die Ablehnung der EU-Verfassung ist eine komische Sache. Da kein Schwein weiß, was darin steht, bezog sich das Nein auch nicht auf die Verfassung. Die Ablehnung der Verfassung bedeutet: Wir wollen in unseren kleinen, bekannten Strukturen bleiben.
FR > Sind Sie konservativ, Terézia Mora?" ---
Für den Künstler geht es ja immer um die Frage: Was ist heute und was ist jetzt Freiheit? Und mir scheint, dass Freiheit noch vor zwanzig Jahren das Aufbrechen verkrusteter Strukturen bedeutete, und Freiheit heute wohl im Bewahren von Strukturen liegt, damit nicht alles, was dem Menschen Halt bietet, unter der ökonomischen Egalisierung verloren geht. Insofern denke ich heute viel konservativer als noch vor zehn Jahren. [..] Mir geht es bei der Auseinandersetzung mit der Frage des Konservatismus vor allem um Themen, die plötzlich wieder verstärkt in den Diskursraum treten: Fragen der Transzendenz, der Religion, Fragen der politischen Ethik. [...] Was das private Leben angeht, lässt sich vielleicht ganz allgemein sagen, dass man viel sensibler mit gewachsenen Formen und Ritualen umgeht. Ein wichtiger Begriff ist da wohl: Gemeinschaften.
FR > Sind Sie konservativ, Thomas Hettche?

SZ / Mariam Lau > Jetzt ist wer dran? Die Neokons, wer sonst? ---
In diesem Punkt trifft er sich mit der Lektorin in einem linksliberalen Verlag, die sich seit einigen Jahren zu ihrer eigenen Verwunderung »rechristianisiert«. Sie liest die Schriften von Kardinal Ratzinger zuweilen mit so viel Zustimmung, dass es ihr selber unheimlich wird. Ihre Suche nach Orientierung hat sie – ein Kind von Feminismus, Friedensbewegung und Ökologie – empfänglich für lauter Ideen gemacht, die sie selbst früher als »neokonservativ« betrachtet hätte. Sie glaubt, dass die Reformfragen von den Rot-Grünen zwar mutig, aber viel zu technokratisch angegangen worden seien. Sie sucht nach Leitbildern für ein neues engagiertes Bürgerbewusstsein, das dem Staat nicht bloß als Adresse für »Versorgungsansprüche, Anerkennungswünsche und Schnäppchenjägerei« betrachtet.
Die Zeit / Jörg Lau > »Und plötzlich wählst du CDU«. Angela Merkel die Stimme geben? Menschen, die sich das früher nie vorstellen konnten, denken auf einmal darüber nach. Ein Rundgang durch sieben wankelmütige Milieus

siehe auch mercedes bunz / existentielles besserwissen > ich will teil einer jugendbewegungsentdeckung sein (langes copy & paste aus den texten zur kunst in den comments, war hier auch mal durch irene verlinkt) und micro_robert / elektrosmog > bizarr (die diskussion)

Seltsame Gewissenspein-Stampede, die ein wenig an Aufsatzübungen in der Schule erinnert, Wortfeldübungen, konservativ kommt von bewahren, ein bisserl was hat jeder was zu bewahren, also bin auch ich in gewissem Sinne ein Konservativer, huch! jetzt ist es raus und hat gar nicht wehgetan. Vielleicht ist das (nicht unbedingt der einzelne Text, sondern die Tendenz aller Texte) präventives Kalibrieren für die kommenden CDU-Jahre, man testet mal aus, an sich selbst und vor aller Öffentlichkeit, wo die Schnittmengen sind, für die Mach-uns-mal-einen-nachdenklichen-Essay-Aufträge und gegen das Gefühl, sich selbst zu verraten. Was mich an solchen Texten jedes Mal nervt, sind die aparten Ungenauigkeiten, "ökonomische Egalisierung", gefährdete Rituale & Gemeinschaften, Bedürfnis nach Transzendenz und all das, zu denen man gerne dringend die Empirie hätte. Das Religiöse sowieso seit dem Papst-Tod und der Papst-Wahl, das sich aber immer nur in der Behauptung erschöpft, dass das Religiöse jetzt wichtiger ist, während die religiösen Texte / Innenansichten ja fehlen (oder jedenfalls mir zu entgehen scheinen); seltsam, ständig zu sagen, dass das jetzt "wichtig" oder "wichtiger" geworden ist und es nirgendwo zu bemerken. & das Familien-/Beziehungs-/Freundschafts-/Gemeinschaftsding: als hätten die 68er/Linken/Rotgrünen/Feministen tatsächlich irgendetwas zerstört, das ohne sie heil geblieben wäre. Am seltsamsten in diesen Texten ist der Ritual-Thread, die "konservativ"-Kodierung von "Ritualen" gegenüber dem destruktiven Ansturm der "Moderne". (Manchmal der Verdacht gegen mich selbst, nur Menschen zu kennen, die alle "völlig anders" sind als "die Menschen, die in der Presse, bei anderen Menschen" vorkommen. Halten die wirklich die CDU für eine christliche Partei, bei der Transzendentes gut aufgehoben ist? Glauben die wirklich, dass "linker Zeitgeist" Familien, Gemeinschaft, Rituale kaputtmacht? Träumen die wirklich von einer Kulturrevolution? Unterhalten sich die wirklich beim Abendessen über Werte & family values & wie alles den Bach runtergegangen ist durch die Lockerheit der Sitten und Gebräuche & Tugenden & Versorgungsansprüche?)






Twinset-Journalismus

Man trägt halt diese Saison konservativ. Das ist so ein Trend wie Rubik's Cube oder Super Mario. Ich spüre da höchstens heraus, dass alle nach der Substanz der CDU und der sie tragenden Gesellschaftsschichten suchen, nach dem Motto: Da muss doch was sein! Da ist aber nichts, absolut nichts. Es sind vielleicht die am deutlichsten nihilistischen Wahlen seit Existenz der Bundesrepublik. Dabei haben sich doch alle immer "Freiheit von Ideologien" gewünscht und stellen jetzt fest, dass es sich ohne theoretisches Backbone doch irgendwie seltsam anfühlt. Man ist halt doch nur gern in Träumen schwerelos, nicht im richtigen Leben.



Es sind vielleicht die am deutlichsten nihilistischen Wahlen seit Existenz der Bundesrepublik.

In einem Zustand angekommen sein, in dem sich keine Fraktion der politischen Klasse ihre eigenen Lügen noch glaubt. Könnte ja befreiend wirken, komm, Karneval, wer hat die besten Funkenmariechen. Warum ahne ich nur, dass sich der Spaß in Grenzen halten wird (unter anderem aufgrund dieser strullenernsten Einfühlungsübungen, die Praschl diagnostiziert).


bin nicht sicher, ob da tatsächlich nichts, absolut nichts ist. manchmal scheint es mir, als wäre genau das das programm: alles erdenkliche und mögliche, was "die gesellschaft" verbessern sollte (oder wie auch immer man es ausdrücken will: den kapitalismus zähmen; die permanente reform, die sozialdemokratische illusion usw. usf.) jetzt als "nichts, absolut nichts" zu dissen und abzuschaffen. die abschaffung der letzten kündigungsschutzgesetze und die privatisierung von alters- und gesundheitsvorsorge auf der einen, die neuen vagen spirituellen bedürfnisse auf der anderen seite. du sollst wissen, dass du alleine bist. also wärm dich mit religiösen traktaten.


Die Kunst ist doch aber ohnehin, wenn ich mich nicht völlig täusche, an das, was ich sage, mit voller Inbrunst zu glauben, mir diese Ideologien wirklich zueigen zu machen, — sonst habe ich das, was ich über Charaktermasken, Überbau/Unterbau, Hegemonie des Kapitals usw. gelesen habe, nicht verstanden.

Nach Nihilismus jedenfalls klingt das nicht. Dafür nach Konditionierung, quasi Zwangstherapie.


Vielleicht haben wir - respektive die interviewte Population - ja auch nur verlernt oder lehnen es ab, lange Jahre, tagein tagaus im völligen und radikal-grundlegenden Dissens zur regierenden Mehrheit zu leben und zu arbeiten? (vgl. Bush-America / Kerry-America; Austria Schwarz-Blau) Zwanghaftes Assimilationsbedürfnis? Nationaler Zelig? Well: Soviel Freiheit des Andersdenkens sollte man sich dann aber schon noch zugestehen...

Zum anderen: Die, die derzeit die vermeintliche Zerstörung von Werten im Gefolge von 1968 und der Rot-Grünen-Regierung beklagen möchte man dann doch allzugerne in Universitäten, Behörden, Schulen, Fernsehanstalten und Zeitungsredaktionen, in Gerichtsverhandlungen, Justizvollzugsanstalten, Kliniken, in Schwangerschaftsberatungen (war da was?) der Vor-68er-Zeit zwangs-time-warpen; da wäre wohl einiges noch zu lernen über die faktische Befreiung und Öffnung, die vor lauter blasierter Gewohnheit kaum mehr als solche wahrgenommen wird. Be thankful for what you've got...

[hmm. könnt' jetz' auch fast eher was für tug gewesen sein; aber - auch ganz richtig so zum thema hier.]


zum einen. nicht, dass ich bezweifle, dass der eine oder andere konvertit es so sieht. aber ein ganz klitzekleinwenig anmaßend wäre es ja schon, falls er sich sein leben vor der konversion als radikal-grundlegenden dissens vorlöge. "ich habe auch mal die spd / die grünen gewählt, ehe ich kardinal ratzinger entdeckte" klingt nicht gerade nach einem aufregenden erweckungserlebnis, weder was den ausgangs- noch was den zielpunkt betrifft. andererseits: pop-politik ist die politik der feinen unterschiede, da mag einem die differenz von rotgrün zu schwarzgelb wie ein unterschied ums ganze erscheinen.

zum anderen. ich bin nicht sicher, ob nicht erschreckend viele so einen time-warp goutieren würden. jedenfalls, was unis, schulen, gerichtsverhandlungen und jvas betrifft. abgesehen davon, dass der time warp eh schon dabei ist zu passieren, ganz real.


zu beidem: wohl wahr!

wobei: mit radikal-grundlegendem dissens meinte ich eher sowas wie einen vorauseilenden wahlergebnis-gehorsam:

"naja, wenn da jetz' eh' alle so richtung merkel gehen, vielleich' is' die ja gar nich' sooo schlimm. schröder fand' ich ja schon auch so'n bissl komisch. und schließlich isses ja auch doof, der einzige zu sein, der merkel dann nich' toll findet..."

die bedeutung solcher affekte, bedürfnisse des auch-zur-mehrheit-gehören-wollens für die persönlich-suchende meinungsbildung kann man glaube ich gar nicht hoch genug einschätzen.

eben drum: www.angela-nein-danke.de


Diese Angela-nein-danke-Seite ist billig.

(Und zu diesem beliebten Anti-Atom-Aufkleber da: Unter Merkel wird die Anti-Atom-Bewegung wieder aus dem Quark kommen, anstatt sich von Trittin einlullen zu lassen.)


Daß sie's goutieren würden, mag ich nicht glauben. Das Gerede von den kaputtgemachten Werten und spirituellen Bedürfnissen ist doch eben nicht mehr als: Gerede. Eine völlig ungefüllte Vereinbarung. Kann man immer mal so sagen, das mit den Werten und der Spiritualität. Nicken dann alle.

Da ist nichts. Nur der Sympathiepfeil wird gerade umgedreht. Besser ist jetzt wieder hinten.