Jorge Edwards, Der Ursprung der Welt, Wagenbach 2005 (im spanischen Original: 1996)

Ein Arzt, chilenischer Emigrant in Paris, schon in seinem siebten Lebensjahrzehnt, besucht mit seiner mehr als zwanzig Jahren jüngeren Frau das Musée d'Orsay und hat vor Gustave Courbets berühmtesten Bild, dem Ursprung der Welt, das einen räkeligen Teilakt zeigt, die Empfindung, dass Courbets Torso jenem seiner Frau gleiche - und gleich hintendrein, man weiß nicht recht warum, auch den Verdacht, dass nicht nur er selbst seine Frau so gesehen hat wie Courbet sein Modell, sondern auch sein alter und bester Freund Felipe, Säufer, Fresser und serieller Verführer. Doch ach! ehe er ihn zu seinem Verdacht befragen kann, begeht Felipe Selbstmord, Whisky und Schlaftabletten. Im Nachlass des Toten findet der gute Doktor (a) ein unverfängliches Portrait seiner Frau (mit der Felipe ein Emigrantenleben lang so innig befreundet war wie mit ihrem Mann) und (b) ein Aktfoto im Stile Courbets, also gesichtslos. Das treibt ihn um, das macht ihn verrückt, das lässt ihn gepeinigt gemeinsame Bekannte peinlich verhören, ob sie denn etwas wüssten über eine mögliche Affäre zwischen Felipe und der Ehefrau, und alle diesbezüglichen Beruhigungsversicherungen beruhigen ihn nicht. Als er schließlich, endgültig blöde geworden, die Frau selbst mit seinem Eifersuchtsrasen überfällt, erzählt sie ihm ohne viel Umstände: ja sicher, vier- oder fünfmal sei sie mit Felipe ins Bett gegangen, ja, er hätte sie fotografiert, ja, es wäre gut gewesen, ja, selbstverständlich hätte sie bei Felipe Orgasmen gehabt. Danach ist alles wieder gut. Nur, dass man nicht genau weiß, ob sie bei ihren Auskünften die Wahrheit gesagt hat oder erfunden, dem Doktor zuliebe. Schöne eheliche Burleske, sehr elegant und sehr gescheit.






"vorsicht spoiler!" hättest du aber schon in der mitte einflechten können, oder?

das buch hat für mich jedenfalls seinen reiz jetzt mehr oder weniger verloren. dabei wäre das vom thema genau nach meinem geschmack gewesen.


was ist ein spoiler? in diesem zusammenhang? und was bedeutet: "thema nach meinem geschmack"?


am ende plauderst du nicht nur ihr geständnis aus, sondern auch, dass er sich damit zufriedengibt. da ist es plötzlich völlig egal, ob sie gelogen hat oder nicht. du lässt das ende der geschichte nicht offen. der leser der zusammenfassung hat keine freiheitsgrade bzgl. des buches mehr.

nach meinem geschmack weil ich geschichten, die um körperliche liebe, kunst, verwicklungen und etwas philosophie kreisen, schon immer spannend fand.


selbst in kriminalromanen ist der weg das ziel - sonst könnte man beispielsweise keinen einzigen klassiker mehr lesen. und das ende dieser geschichte ist, wie ich gesagt habe, offen.


und das ende dieser geschichte ist, wie ich gesagt habe, offen. genau das ist das problem. du sagst es. diese geschichte hat null mystery mehr.

der weg ist schon das ziel. aber erst im nachhinein, wenn man sich den weg erarbeitet hat. ohne ziel brechen nur die wenigsten auf. wieso sich strapazen unterziehen, wenn man von vorne hinein weiß, wo es hinführen wird? die illusion eines unbekannten ziels ist es, die mich ticken lässt. sorry, i must insist.


warum hast du je madame bovary, robinson crusoe, anna karenina, shakespeare gelesen?


außer robinson crusoe habe ich, wie ich zu meiner schande gestehen muss, keines der bücher gelesen, die du da ansprichst (proust auch nicht). und bei robinson kannte ich das ende der geschichte damals auch nicht. das buch, was du da besprochen hast, hat im gegensatz zu den anderen einen plot, der auf einen höhepunkt, der die geschichtserzählung im nachhinein rechtfertigt, zuläuft. das ist der unterschied. oder etwa nicht?

es ist nicht so, dass ich bücher nur wegen der suspense lese. aber bücher mit suspense leben auch von der suspense.

ein buch, das ich sehr geliebt habe, ist brautigan's so the wind won't blow it all away. da wird schon auf den ersten seiten die geschichte erzählt. was danach kommt, ist die langsame rückversetzung in die zeit. und das ist unglaublich faszinierend. wenn ein autor das ende vorwegnimmt ist es ok und hat seinen sinn. aber nicht, wenn es ein rezensent macht.


das klingt vielleicht albern: aber im ursprung der welt ist der suspense nicht besonders wichtig. jedenfalls nicht in dem sinne, in dem du das wort verwendest. es geht um ein rasendes eifersüchtiges bewusstsein, dem es gleichgültig ist, ob es einen faktischen grund oder keinen für sein rasen hat. (& das hinschreibend, habe ich jetzt tatsächlich das gefühl, mir einen spoiler geleistet zu haben).

& übrigens ist es keine schande, etwas nicht gelesen zu haben. manchmal allerdings ein schade. die madame bovary und shakespeare etwa machen sehr glücklich. auch wenn man die enden schon kennt (und beide haben sehr viel mit suspense zu tun)