Konrad Seitz: China. Eine Weltmacht kehrt zurück. btb 2004 (zuerst 2000)

Gekauft aus dem periodisch wiederkehrenden und mich diesmal in der Buchhandlung überfallenden Bedürfnis, etwas "über die Welt" zu erfahren (statt immer nur über Europa/USA). Seitz war Redenschreiber für Genscher, Planungschef im AA und zwischen 1995 und 1999 Botschafter in Peking. Er kennt sich also einerseits aus, hat aber andererseits einen geopolitisch reduzierten Blick und interessiert sich entschieden mehr für das Geschick des chinesischen Staates und seine Position in der internationalen Konkurrenz als etwa für das Wohlergehen der Bevölkerung; das muss einen nicht stören, aber man muss es bei der Lektüre in Rechnung stellen. Noch etwas soll nicht unerwähnt bleiben: Seitz schreibt - mindestens im Vergleich mit anderen deutschen Autoren in diesem Genre - außerordentlich gut; sein Stil ist transparent, elegant und erzählerisch; so häufig findet man das hierzulande nicht.

"China" erzählt die Vorgeschichte und Geschichte des immer noch dengistischen China. Der (einer erstaunlichen kulturellen Wehrlosigkeit geschuldeten) Zusammenbruch des Kaiserreichs unter dem Ansturm der imperialistischen Mächte; die Verelendung unter dem Regime der tollen und tollwütigen westlichen Zivilisation; Bürgerkrieg und maoistische Revolution; die barbarisch grausam erzwungene Industrialisierung unter Mao; die großen Sprünge des großen Vorsitzenden gegen die eigene Partei und die Bevölkerung; schließlich Deng, der Seitz' großer Held ist mit seinem Programm, es ist das eines im historischen Lauf vergleichsweise benevolenten Despoten, China kapitalistisch zu machen und es gleichzeitig immer noch als kommunistisch auszugeben. An vielen Passagen kann man nicht anders, als ihm Recht zu geben - verglichen mit der Kulturrevolution oder den vom Mao-Regime produzierten Hungersnöten ist Deng für Abermillionen ein Fortschritt gewesen, der das nackte Überleben gesichert hat; aber dann fallen einem doch immer wieder die Sonderwirtschaftszonen, die Arbeitslager und die Exekutionen in den Stadien ein, von denen bei Seitz dann die Rede eben nicht ist, es sei denn in Nebensatz-Andeutungen. Das letzte Viertel des Buches behandelt auf 150 Seiten die politischen und ökonomischen Entwicklungen seit Dengs Tod. BIP, Außenhandel, Produktionsverlagerungen und Investments der Transnationalen nach China, beginnende Erschließung des chinesischen Binnenmarkts, die neue Rolle als Ordnungs- und Weltmacht: alles sehr konzise geschildert, alles sehr eindrucksvoll. Es fehlt: wie es den Leuten (für die Seitz ersichtlich viel Mitgefühl aufbringt, die er mag, deren Kultur er schätzt, aber deren Unkosten er wohl für unvermeidlich hält) geht. Ein gutes Buch für einen wie mich, der von China nicht allzuviel über die Klischees Hinausgehendes weiß, aber eines mit Tunnelblick; das muss einen nicht stören, aber man muss es in Rechnung stellen.

Ha Jin, Verrückt, dtv 2004 (im amerikanischen Original 2002)

Noch ein China-Buch: Ein Roman des hochgelobten Exil-Autors Ha Jin, dessen Short Stories mir im New Yorker zwar öfter untergekommen sind, die ich aber nie gelesen habe, weil ich die Literatur im New Yorker immer überblättere; schwerer Fehler, ich weiß...

Verrückt erzählt die Geschichte Jians, eines Literatur-Studenten an einer Provinzuniversität, dessen verehrter Professor im Frühjahr 1989 einen Schlaganfall erleidet. Monatelang sitzt er jeden Nachmittag im armseligen Krankenhauszimmer, wäscht und füttert seinen Lehrer und hört dessen mäandernden Monologen zu, in denen sich, wild springend, ein chinesisches Intellektuellen-Schicksal ausspricht: Narrenkappe in der Kulturrevolution, Gängelung durch korrupte Parteifunktionäre, Resignation und Zermürbung. Irgendwann in diesen Monaten beschließt der Student, sein Studium fahren zu lassen; darüber geht die Verlobung mit der Tochter des Professors in die Brüche: sie will einen, der Ehrgeiz hat, keinen, der sich in Zweifeln verliert. Im letzten Viertel der Erzählung geht das Buch, dessen Krankenzimmeratmosphäre beim Lesen wie zähe Schmiere das Gemüt überzieht, plötzlich hinaus: Jian macht sich auf nach Peking, um mit den Studenten zu demonstrieren und gerät ins Massaker am Platz des Himmlischen Friedens, sieht zu, wie ringsum Studenten massakriert werden und kommt selbst mit knapper Not davon. Danach haut er ab, er will es nach Hongkong schaffen, ob es gelingt, erfährt man nicht mehr; ich nahm ein Zündholz mit schwarzem Kopf und verbrannte meinen Studentenausweis. Dann ging ich zun dem Laden und ließ mir einen Bürstenschnitt verpassen. Ohne langes Haar würde mein Gesicht schmaler wirken. Von nun an würde ich einen anderen Namen tragen.

Großes Buch.






einige kurze studien (5 - max. 30 seiten) zu politik und wirtschaft chinas finden sich auch hier.