Mes Madeleines.

Manchmal, an Tagen, an denen ich stundenlang nur auf die Wolken vor dem Fenster schaue und dazu merkwürdige Musik höre (heute war es Live At San Quentin von Johnny Cash), überfallen mich die merkwürdigsten déja vus. Aus den Wolken schneien Erinnerungen, und Johnny Cash wird zum Chor aller Stimmen, deren Lieder mich gesucht haben (ich weiss nämlich, dass die Lieder einen suchen und man nicht die Lieder sucht). Big Joe Williams zum Beispiel, der damals, als ich ihn gesehen habe, schon weit über 70 gewesen sein muss und noch viel älter aussah, so alt, wie 2001 nur der Papst aussieht: wie sie ihn auf die Bühne hoben, so wie man nur Alte heben kann, weil sie ohnehin kaum noch da sind, und wie er dann seinen Blues sang, der schon klang, als käme er von einem Toten; Geisterlieder aus einer Zeit, in der die Geister noch Macht hatten, manchmal jedenfalls, suddenly a voice in all dem Gefasel. Und Bob Dylan fiel mir ein, das Konzert in Dresden, im Vorprogramm der unsägliche Gundermann, im Publikum unsägliche Bratwurstfresser und Wunderkerzenschwenker, doch all das versank, als der Columbia Recording Artist seine eigenen Lieder zersang, bis sie wieder so weh taten wie gute Lieder es müssen, suddenly a voice. Und Johnny Thunder fiel mir ein, wie er Que Sera singt, zu einer Gitarre, die auch schon hinüber war, mehr weg als da, ein Que Sera, dem man sofort anhörte, dass nichts mehr sein wird, nichts Nennenswertes. Und Johnny Cash eben, der in San Quentin von San Quentin sang, San Quentin, I hate every inch of you, und einen Augenblick hörte es sich an, als würden sie alle aufstehen und ausbrechen, aus San Quentin und jedem anderen Gefängnis, und jedes Mal, da ich es hörte, fühlte ich diese Sekunde, in der es genügen würde, einfach aufzustehen und die Mauern einzureissen, und jedes Mal, da ich es hörte, glaubte ich von neuem daran, dass sie aufstehen und ausbrechen würden, obwohl ich genau wusste, dass es nie dazu kam, dass nach dem San Quentin Song noch ein paar andere Nummern kommen und am Ende des Konzerts, nach der letzten Nummer, alle wieder zurück müssen in ihre Zellen.

Und noch ein Lied fiel mir heute ein: Das Lied, das das Modem sang, als ich das erste Mal im Netz war, dieses piepsende kleinstimmige Lied, das sich immer so anhörte, als würde es sich überschlagen und verirren, und das dann plötzlich in einem Rauschen landete, einem Rauschen wie vom Meer. Seit damals besteht für mich, durch einen merkwürdigen synästhetischen Reflex, den ich mir nicht mehr abgewöhnen kann, das Netz aus - Stimmen, nicht aus Texten. Bei den meisten höre ich weg, wie ich über die Top 10.000 hinweghöre, aber manchmal fällt mich eine an, und ich weiss, ich werde sie nicht mehr abschütteln können, selbst wenn sie längst verschwunden sind, verloren irgendwo im Datennichts; die Geschichte dieser Jungfrau damals, deren Lesezeichen heute nur noch in eine 404-Not-Found-Sackgasse führt, und die so sehnsüchtig von der Sehnsucht schrieb, endlich einmal berührt zu werden (auf eine Weise berührt, die stärker ist als man selbst), dass man sofort selbst am liebsten das Wissen wieder gegen die Sehnsucht nach dem Wissen eingetauscht hätte; oder das Diagramm mit dem Lorm-Alphabet, mit dessen Hilfe Taubblinde miteinander sprechen; oder die African-American Pamphlet Collection mit so aberwitzigen Dokumenten wie Hell Located, Described and Measured According to the Bible and Science, in dem Professor C.A.Taylor schon 1867 bewiesen hat, dass die Hölle "in den Eingeweiden der Erde" liegt. Und noch eine Stimme neuerdings, die von blackandwhiteandblue für die Stunden zwischen zwei Uhr früh und jetzt....

Diese Stimmen sind es, worum es geht. Ich wünschte, auch andere, einer wie Arne, könnten, in den Minuten vielleicht, in denen sie in die Wolken schauen, den Gedanken denken, dass all die recording technologies, die je erfunden wurden, der Buchdruck, das Grammophon, das Internet, nur deswegen erfunden wurden: damit diese Stimmen zu einem kommen, aus den Wolken geschneit, aus dem Rauschen eines Modems. Dass das falsch ist, weiss auch ich; allerdings nur so falsch wie die Behauptung, dass Menschen einander küssen, weil sie einander lieben; die Naturhistoriker wissen es besser; doch hören sie nicht auf, ihre Liebsten zu küssen, und sich zu belügen über die Gründe, aus denen sie geküsst werden. Sie wären sonst verloren...