I.

Der Flughafen draußen auf den Äckern vor Lübeck.

Das passt schon, dachte ich. Leuchtende Nicht-Orte in immer weiteren Schleifen rund um die Städte gelegt.

Erstaunlich, wie der Kapitalismus und die Wirklichkeit Ende 2004 wieder zusammenpassten. Wir hatten kein Geld, aber wir hatten Zeit. Also konnten wir 75 Kilometer fahren, um irgendwohin abzufliegen, wo es besser war, ein paar Tage lang.

"Vorstudien zu einer politischen Ökonomie des Wartens."

Auf der Fahrt im Shuttlebus gleich warme Gemeinschaftsgefühle, auch das müsste ich mir endlich abgewöhnen, die Reisenden-Zusammengehörigkeits-Empfindungen, die Zuneigung zu den Karawanen. Dabei las die eine neben mir im Ryanairflugzeug doch Cicero (die Zeitschrift).

Der Flug im Ryanairflugzeug: ja schön, nur zu viel Werbung, aber das nehme ich schon in Kauf, geht ja nicht anders.

Ich möchte einmal einen Platz haben, an dem mir ein einziges Mal keiner sagt, was ich kaufen besitzen genießen soll, einen völlig botschaftslosen Platz.

Aber dann hätte ich sicher gleich wieder so eine Art Bedeutungs-Agoraphobie. Man hält es ja doch nicht lange durch, dass einem keiner sagt, was man kaufen haben besitzen genießen empfinden soll.

Neben der Cicero-Frau las ich Malcolm Gladwells Tipping Point.

[Das hektische Herumrennen jedesmal in den letzten Minuten vor der Abreise. Welches Buch noch dringend mit muss für den Flug die Fahrt die Hotelzimmernacht. Als ob etwas davon abhinge.]

Bei Gladwell jedenfalls wurde eine Bio-Feedback-Studie erwähnt.

Eine große Gruppe von Studenten wurde angeworben, bei dem es, so wurde ihnen gesagt, um eine Marktforschungsstudie einer Firma für High-Tech-Kopfhörer ging. Jedem der Teilnehmer wurde ein Kopfhörer übergeben. Dann teilte man allen mit, dass die Firma prüfen wollte, wie gut die Geräte arbeiteten, wenn der Hörer oder die Hörerin in Bewegung seien - wenn sie tanzten oder den Kopf rhythmisch bewegten. Alle Studenten hörten Songs von Linda Ronstadt oder den Eagles, dann folgte ein Radiokommentar, in dem die Meinung vertreten wurde, die Studiengebühren an ihrer Universität sollten von gegenwärtig 587 Dollar auf 750 Dollar pro Jahr erhöht werden. Einem Drittel der Studenten wurde gesagt, sie sollten während des Kommentars den Kopf kräftig nickend auf und ab bewegen. Dem zweiten Drittel wurde gesagt, sie sollten den Kopf energisch schütteln. Das dritte Drittel fungierte als Kontrollgruppe, deren Teilnehmer wurden aufgefordert, den Kopf nicht zu bewegen. Als der Test abgeschlossen war, bekamen alle Studenten einen kurzen Fragebogen, in dem sie nach ihrer Meinung zur Qualität der Songs und der der Wirkung der Bewegung auf die Tonqualität gefragt wurden. Ganz am Ende bauten die Veranstalter des Tests die Frage ein, um die es ihnen in Wirklichkeit ging: "Was ist Ihrer Meinung nach eine angemessene Summe für die jährlichen Studiengebühren?" [...] Die Studenten, die den Kopf nicht bewegt hatten, ließen sich von dem Kommentar nicht beeinflussen. Die Studiengebühr, die sie für angemessen hielten, waren die 587 Dollar, die sie bereits bezahlten. Diejenigen, die den Kopf geschüttelt hatten, während sie den Kommentar gehört hatten, vermeintlich um die Qualität des Kopfhörers zu erproben, wandten sich entschieden gegen die vorgeschlagene Erhöhung. [...] Die Studenten, denen gesagt worden war, sie sollten nicken, fanden den Kommentar sehr überzeugend. Sie waren dafür, die Studiengebühr im Durchschnitt auf 646 Dollar anzuheben. Der einfache Akt des Kopfnickens, der doch vordergründig einem ganz anderen Zweck diente, reichte aus, um sie dazu zu bringen, eine Erhöhung zu empfehlen, die sie selbst Geld kosten würde. [...] Eine der Schlussfolgerungen der Kopfhörerstudie [...] war denn auch, dass "Fernsehwerbung dann am wirkungsvollsten wäre, wenn die visuelle Darstellung den Zuschauer dazu bringt, den Kopf auf und ab zu bewegen - zum Beispiel durch einen aufspringenden Ball."
Man müsste, dachte ich gleich, jede Nachrichtensendung mit einem Tischtennismatch hinterlegen.

Und ist, fragte ich mich, das Lesen von Texten in den mir bekannten Sprachen nicht ein einziges Kopfschütteln und Nein-Denken?

Und würde mich, fragte ich mich, das Lesen japanischer Texte die Welt bejahen lassen?

Auch sonst: Tipping Point, starkes Buch, da kannst du viel denken während so eines Ryanairfluges, es hatte sich bezahlt gemacht, dass ich kurz vor der Abreise noch über die Flugzeugbücher nachgedacht hatte.

Man braucht, steht da zum Beispiel, einen bestimmten Prozentsatz von Vorbildern, Leitbildern, role models, wenn nicht alles kippen soll. Wenn man, nur jetzt als Beispiel, in einer Weblogstadt nicht mindestens sechseinhalb Prozent angenehme Menschen findet, wird man selbst zu einem unangenehmen Ungustl, oder man wandert aus in eine andere Stadt.

Ich bin, wollte ich nur durchgeben, so was von gerade dabei, mir ein Ticket in eine andere Stadt zu reservieren.

Und, wieder Gladwell jetzt, die Six Degrees of Separation, weiß ich jetzt auch nicht so genau, warum mir diese Theorie (die small world-Theorie) in den letzten anderthalb Jahren so oft untergekommen ist. Dass man von jedem Menschen zu jedem Menschen nur sechs Zwischenverbindungen braucht, auf der ganzen weiten Welt, wirklich. Und jedes Mal wieder, wenn diese Theorie erwähnt wird, begehe ich den Fehler, Ketten zwischen mir und allen möglichen Menschen auszulegen. Und jedes Mal wieder staune ich darüber, dass ich mit vier Links bei George Bush wäre, kein Problem. Obwohl ich ja ganz genau weiß, dass solche Gedankenketten unzulässig sind, weil man das Ende der Kette gar nicht kennen dürfte.

Na ja, egal jetzt, war eh nur für den Ryanairflug.

II.

In London Paddington wieder raus.

Gleich wieder angenehme Stadtgefühle.

Körperschatullenempfindungen.

Mir ist das ja völlig gleichgültig, dass London eine Stadt voller Closed Circuit TVs ist und einem bei jeder Bewegung angeblich irgendwelche Beobachter zuschauen, ich finde es ja viel grausamer, dass man in Hamburg immer nur plane menschenleere Flächen durchqueren muss, leere Innenstadt, weite Alleen, Agoraphobie. Und wenn man ein Weblog hat und bei jedem Aktualisierungsping ein paar hundert Bürgerrechtler gleich nachschauen, was er denn schon wieder geäußert hat, und sich dann ihr Teil denken, so jurymäßig, dass das jetzt aber ein Scheiss war, oder dass er heute nachts wieder so einen konfessionalistischen Schub hat, dass er jetzt zu Hause sitzt und man ihm eine email schreiben könnte oder einen Kommentar, damit er weiß, man hat es genau gesehen, dass er jetzt was hingeschrieben hat, dann stört einen kein CCTV in London mehr, pinglos geht man die Sussex Gardens hoch und freut sich über das Imperial College auf dem Weg und das angenehme Wetter und die Paare, die einem entgegenkommen, am nächsten Abend wird man auch wieder eines sein.

Das Pavillon, ein funky place für flashbacker wie M. und mich.

Ich tauge ja eh nichts für eine botschaftslose Welt, wenn ich mich gleich wieder so freuen kann über ein Hotelzimmer, dass nicht 6 oder 345 heißt, sondern Cosmic Girl.

Ein wenig Herumlaufen noch auf den Straßen, die Edgware Rd hinauf und wieder hinunter, ziemlich zerschlagen, zu viel Alkohol, Zigaretten, Präsidentschaftswahlenfernsehstarren in den Nächten davor, im Sinkflug auf Stanstead auch noch den Restschleim in alle Neben- und Stirnhöhlen gepresst bekommen, nur ein wenig Driften noch in der Körperschatulle.

Die Gegend ist arabisch, viele libanesische Restaurants, ein Büro, an dessen Tür Visas für den Irak annonciert werden, in den Restos sitzen viele WassenpfeiferraucherInnen, in den Schaufenstern des Maroush Deli hängen abgezogene Schafe, in den Internet-Telefonzellen leuchten die Monitore, das Curry bei Inder ist scharf genug, zwei Tische weiter sagt eine Engländerin auf französisch zu einem Araber: Je déteste les Americains & der Araber reagiert darauf nicht im geringsten, sondern legt ihr Essen hin und versucht weiter zu flirten, die Frau versucht es noch ein wenig, gegen die Amerikaner zu ätzen, vielleicht würde ein auf- und abspringender Ball sie ein wenig zufriedener machen, que sais-je?

Im Cosmic Girl-Zimmer noch ein wenig im Guardian gelesen, die üblichen Post-Election-Kommentare, zweigeteiltes Land, die einen zum Meer hin und weltoffen, die anderen im Binnenland verschanzt und verstockt, montagnards eben. Beim Lesen nach so und so viel Jahren endlich bemerkt, dass Timothy Garden Ash in Wahrheit Timothy Garton Ash heißt, schade eigentlich. Immerhin, sein Kommentar ist der erste, in dem nicht der Europäer Mitleid mit sich selbst hat oder der Europäer den Amerikaner nicht versteht oder gar verachtet, sondern in dem so etwas wie Mitgefühl mit den working poor zu lesen steht. Aber ehrlich gesagt, ich habe auch höchstens vier, fünf Kommentare zu dieser Wahl gelesen, was soll man da auch groß kommentieren, das einzige, was man kommentieren könnte, wäre die Selbstvergessenheit der europäischen Fernsehwahlbeobachter, denke ich. Dass man eine Regierung wiederwählte, die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen ein Krieg gegen ein souveränes Land geführt hat; dass man jemanden wiederwählte, der gelogen hat; dass man jemanden wiederwählte, der vor der Wahl ankündigt hat, er würde Steuern für die Wohlhabenden senken; dass man jemanden wiederwählte, der in der Konkurrenz der Nationen die eigene mächtiger machen will: diese Dämlichkeiten sind alle auch hierzulande vorgekommen, sagt mir mein Kurzzeitgedächtnis.

Vormitternächtlicher langer traumloser Schlaf.

III.

Am nächsten Morgen zur Robert Frank-Retrospektive in die Tate Modern.

[sick of goodbys]

[these images of Independence Day are wistful and desolate, often depicting drunken merry-makers crashed out on the beach as dawn gradually breaks. many of the photographs show lone individuals, or couples clinging to each other in an otherwise deserted vista]

[destroy that image, that perfect image]

[the footage shows his second wife June in hospital and a visit to his son Pablo in a psychiatric clinic]

[ordered according to a personal logic]

[Deutsche Börse Group is delighted to sponsor Robert Frank: Storylines at Tate Modern and to be involved in showing such a significant number of his works to a European audience for the first time. our sponsorship underlines our commitment to photographic art. in 2000 Deutsche Börse Group started its own collection of predominantly large-scale contemporary photography. the collection has grown along with the company and now comprises over 500 works; its creativity, transparency and innovation reflect our corporate culture. at Deutsche Börse Group, we value Robert Frank for his dynamism, innovative use of technology and challenging approach - which are also fundamental in our industry. Werner G. Seifert Chief Executive Officer, Deutsche Börse]

Auf derselben Etage Time Zones: Recent Film & Video

[Vor den Projektionswänden sitzen Paare]

[couples clinging to each other in an otherwise deserted area]

[wie ich wünschte, Du wärst schon dagewesen statt noch auf dem weg]

[coney island baby glory of love]

[remember fire island the dunes]

[& wie ich immer knapp vor dem weinen bin wenn es so ist wie es da oben gewesen ist und ich mir sage: wie bei uns different time, different places, aber sonst]

[und draußen vor der tür dann diese mädchen in uniform

nach ihrer robert frank-kunstsafari die ihre fragebögen ausgefüllt haben das eine lieblingsbild aus der ausstellung, das sie beschreiben sollten & das irgendwann wieder kommen würde in ein paar jahren bei einer von ihnen &]

[to be continued]






danke, einfach nur danke.


--snip-- Der einfache Akt des Kopfnickens, der doch vordergründig einem ganz anderen Zweck diente, reichte aus, um sie dazu zu bringen, eine Erhöhung zu empfehlen, die sie selbst Geld kosten würde --snip-- Pascal konzeptionalisiert den Glaubens als Effekt des Rituals: "Knie nieder, bewege die Lippen zum Gebet und Du wirst glauben" Die heilige Geste erfüllt sich mit der Zeit, im Laufe der ritualisierten Wiederholung der Konvention werden die entsprechenden Ideen produziert. Diese Figur sieht Althusser auch für die Produktion von Ideologie allgemein verantwortlich.