Die letzten Anrufe von Frauen kurz vor dem Abflug. Dass er sie nicht abholen muss, dass er das und das in der und der Schublade findet, dass er ruhig schon essen soll, ich hab eh so spät keinen Hunger, dass sie ja die S-Bahn nehmen kann. Ich muss jetzt ausmachen, sagt sie, gleich bin ich im Flugzeug, und die Stewardess wird schimpfen mit mir.
Samstagabendflüge, letzte Maschine, die merkwürdigsten, immer schon. Reisende, die keine Geschäfte am nächsten Tag haben, aber auch das Wochenende nicht ausnützen müssen, kein Geliebter, zu dem man schon Freitag abends müsste.
[Damals der Thanksgiving-Flug von San Francisco, als jeder einzelne, mit dem ich auf dem Weg zum Flughafen noch ins Reden kam, mir gleich erschien, als wollte er mich trösten, umarmen, einen Stuhl an seiner Tafel anbieten, aus Mitleid. Der Concierge im Hotel, der Verkäufer bei Sonoma, der Taxifahrer, die Check-In-Angestellte, die Stewardess. Wir waren Leute, die zu Thanksgiving im Flugzeug saßen statt bei ihren Liebsten zu sein. Albern, ist es nicht?]
Ich fliege zum Dinner nach München, wenn ich ankomme, sind die anderen wahrscheinlich schon beim Dessert, ihr müsst nicht warten, nein nein, wir warten, nein nein, fangt doch schon an, bitte. Habe ich in diesem Weblog je gesagt, dass Herr Jochen Wegner, München, einer der großartigsten, freundlichsten, bewundernswertesten, wärmsten und innig verehrtesten Menschen ist? Ich habe es ja nicht einmal ihm selbst gesagt.
Eigentümlich auch: dass ich immer mehr Dinge tue, die ich nicht täte, wenn ich nicht vor drei, zweieinhalb, ich weiß ich auch nicht mehr so genau, Jahren mit diesem Weblog begonnen hätte. Dabei fühlen sich Weblogs doch immer noch so unwirklich an.
Davor an diesem Samstag: Paarglück. Aufstehen, endlich einmal ausgeschlafen, und M. sitzt nackt auf ihrem Thron, der Tee ist fertig, wie geht es dir, fragt sie, ich weiß es noch nicht, sage ich, ich hole mir Tee und gehe wieder ins Bett, ich hole mir wieder Tee, sie sitzt immer noch auf ihrem Thron, wir stehen im Bad, sie macht sich das Gesicht, wir machen, dass wir zu It's Fresh kommen, Taz Jungle World Lachsbagel (Weblog-Madeleine) Vogue, Paarglück, immer noch seltsam, dass es das gibt, sonst verkracht vertrackt sich das doch alles, wie man so hört.
Das Interessante an den langen Lieben: dass man nicht mehr nachdenkt über sie, das Chiffrenlose, Nominalismus, ein Bett ein Körper eine neue Frisur ein Frühstück. Die Sekunden der wahren Empfindung: sie alle sind sachlich.
Im Flugzeug nach München jetzt wieder, Springtexte, Weblogs sind Sprungprozesssionen von Texten, habe ich das schon gesagt?
In der FAZ [man sollte öfter fliegen, weil man dann endlich Zeitungen vollständig liest, jeden Futzel] ein Stück über das Fehlen der Extreme in der zeitgenössischen Küche, das Verschwinden des Bitteren, oder der Räuchernote. Es gibt keine Innereien mehr, es gibt nur noch das Kurzgebratene. Hey, denkt man sich, was ist das denn, so genaues Hinschmecken kann man doch sonst nie lesen. Der Mann, der den Artikel geschrieben hat, nie gehört den Namen & gleich wieder vergessen, imaginiert sich Gerichte, in denen die Extreme wieder vorkommen, Desserts mit Räucherfleisch kombiniert. Mist, und ich habe gerade jetzt drei Tage den Herd nicht. Es stimmt ja, man müsste das ganze von der Nouvelle Gesund Light Bambi Cuisine Begrabene wieder hervorholen, Blutwürste machen, Blutwürste mit Pistazieneis erfinden & dazu Crispy Fish. Na ja.
In München: Schnee.
Im Ipod: random all.
Barbara Lynn: You left the water running & now I can't turn it off
Gleich wieder diese dumme Wehmutsphantomschmerzensehnsucht, wie immer, sobald ich nach München komme, noch von dem Dreivierteljahr, das ich hier gelebt habe am Nymphenburger Kanal & die Nächte im Parkcafe & die double features im Werkstattkino & dem Altheimer Eck-Arbeiten & diesem panikruckfreien Dreivierteljahr in dem die Wörter flossen und die Körper ineinanderpassten & das Licht stimmte. Der einzige Text, den ich über München geschrieben habe, hat im Wesentlichen von Licht gehandelt. Seitdem: Trennungsschmerz eben.
Also (ein Trennungsschmerz-Sequitur-Also) das Olympic in der Hans-Sachs-Straße, der erste Ort, an dem ich damals in München gewohnt habe, ehe ich die Wohnung am Kanal fand. Immer noch dieses verwinkelte Hotel mit dem Wintergartenfrühstück und dem Zimmerbuch auf dem Nachttisch. Warum hat sonst nie jemand verstanden, dass es eine großartige menschenfreundliche Geste ist, wenn man auf einen Hotelzimmernachttisch irgendein neu erschienenes Taschenbuch hinlegt für den Gast, in das er sich hineinlesen kann, falls er nicht einschlafen kann, oder sich jedenfalls denken darf, dass er sich hineinlesen könnte, falls er nicht in den Schlaf fände? Es ist ja so einfach, wie du jemanden 16 Jahre lang dazu bringen kannst, in immer demselben Hotel nicht einschlafen können zu wollen, nachschauen, ob die Bücher noch da sind.
[Und habe ich eigentlich schon erzählt, wie ich bei meiner ersten Parisreise mit 17 von sieben Tagen die ersten zweieinhalb Tage nicht aus dem Hotelzimmer in diesem Banlieu herauskonnte, weil ich ganz dringend noch die Trotzkimemoiren zu Ende lesen musste, mit denen ich im Zug begonnen hatte, nur zweimal, um ein Baguette und zu trinken zu holen und damit das Zimmermädchen mir das Bett aufschlagen konnte?]
München jetzt wieder.
Taxi, zu Broeding.
Sie sind erst beim dritten oder vierten Gang, ich kann noch einsteigen. Es ist eine Tafel mit 16 oder 18 Menschen, ich kenne drei, vier, fünf, Günter ist da, Beatrice, Volker Lange, Annette, Jochen natürlich. Jochen hat Glamour Investment betrieben und Emails an uns alle verschickt, in denen er uns einander interessanter beschrieben hat, als wir sind ("Peter Praschl, editor-at-large Amica, best-known German weblogger, philosopher, Jack-Nicholson-kind-of-Austrian, brilliant cook"), so dass wir alle gar nicht anders konnten, als schon Tage vorher neugierig aufeinander zu sein. Ich sitze zwischen TV journalist and actor, dancer (ballet, jazz, Tango); sword fighter und math professor, Trader, Wall Street critic, essayist, too fast of a thinker for most of us, does not eat mammals ("including humans") & drei Stunden später sitzen wir immer noch so & manchmal auch nicht. Die Wörter, die Sätze, das Lachen, das Perlen, das Glucksen, es ist nicht oft so, dass 16 oder 18 oder wie viele auch immer, die einander nicht kennen, so fließen können, es geht über Fernsehkameras, Kinder, Wien, den Regen, auf welche Stühle sich Frauen in Wartezimmern setzen, Digitalkameras, Dr. Schnitzler, Dr. Freud, Manhattan, schwarze Schwäne, das Theater, ob englische Texte sich ins Österreichische besser als ins Deutsche übersetzen lassen & gelegentlich fotografieren wir einander mit unseren Digitalkameras.
Das Buch, das Jochen geschrieben hat, ist sehr schön. Es redet einem mit einer gewissen Schadensfreude das Schicksaldenken aus und schenkt einem dafür heiteren Stoizismus.
Im Hotel bin ich dann lange nicht eingeschlafen. M. erzählt am Telefon von ihrer ersten Ruderbootfahrt, wie flach man auf dem Wasser sitzt, wie schnell so ein Boot durch das Wasser schneidet, wie bald man sich in dieser Bewegungsfolge aufgehoben fühlt (kurz der Gedanke, dass man Bewegungen anziehen kann wie einen Mantel, eine Jacke). Endlich Cicero gelesen, lange nachgedacht, warum um alles in der Welt man eine politische Zeitschrift, die staatsmännisch, bürgerlich usw. sein will, ausgerechnet Cicero nennen will (C., der ewige Loser, das Standgericht, der Kampf gegen den Aufstand mit den Mitteln des Rechtsbruchs, die Polizeiaktion, you name it, kleines Latinum eben, keine Ahnung von gar nichts). Das Beengte, das zu eng Schlipsige, das Langweilige, das Moralbloßbeschwörerische da drin, das ewige Fuchteln statt des Argumentierens, das aufrecht an einem Tisch sitzende, Haltung annehmen und doch nur sitzen wie in einem Gipskorsett. Die erschreckend ungelenke Glosse des Chefredakteurs, man hat ein paar Atemzüge lang Mitleid mit ihm: Ob es ein Leben ohne Ironie geben könne? Ja, es gibt, aber ist scheußlich.
Der kalte Münchner Morgen, das Wintergartenfrühstück.
Dann hinaus zum Tegernsee, Schneegipfel, Phantomschmerzen gleich wieder.
Wir essen draußen, im Schnee, der blinde diabetische Hund, Lammbraten, Rosmarinkartoffelschüsseln von Hand zu Hand weitergegeben, habe ich in diesem Weblog schon gesagt, dass Frau Stefanie Czerny, Tegernsee, ein hinreißender, bewunderungswürdiger, großartiger Mensch ist, Wörter, Sätze, Glucksen, Lachen, Wein, Rosmarinkartoffeln, Lebensgeschichten, Proust-Zusammenfassungen, Schulterbrüche, indische Nähmaschinen, Derivatgeschäfte, Jack Nicholson, Apfelstrudel, der show-off-Faktor, Muttergemälde, Milchlebensleistungen, Peter Handke, mein erstes Buch als junges Mädchen, Bauernschrankbuddhas, gelungenes Leben, der show-off-Faktor, die Bibliothek der menschlichen Natur, Carnapunterschätzung, Wittgenstein, Heuristik, Schneestapfspaziergänge, die Desertionsfantasien, und würden Sie eher mit Tom Cruise oder mit Jack Nicholson schlafen, die Notwendigkeit, Philosophie deinem Doorman erklären zu können (oder es ist keine), Bücher nach Farben geordnet, schwarze Reihen, rote Sektoren, gelbe Segmente & sie geht hin und findet auf der Stelle jedes Buch, das sie sucht, first law: du musst jemanden haben, den du beeindrucken willst, eine Frau zum Beispiel, dann strengst du dich gleich an, du willst ihr das schönste Buch schreiben, das du zuwege bringst.
& so müsste es immerzu sein, immerzu weitergehen [ & wieder diese fixe Idee, dass das Buch, das ich nie schreiben werde für die Frau die ich beeindrucken sollte, mit einem Essen enden müsste an einer langen Tafel, an der die Überflüssigen einander Geschichten zustecken wie man einander Taschentücher Wollfäustlinge Strandkieselsteine Liebeszettel zusteckt heimlich in Manteltaschen ehe sie wieder anderswohin ziehen, aber wie kriegt man in so etwas einen Zug hinein, diese fixe Idee, dass ein Roman so sein könnte wie ein Weblog sein kann, fade in fade out, etwas, das man einem anderen in die Manteltasche hineinschmuggelt, damit der es dann findet und nicht genau weiß wie das da hineingekommen ist] & genau so müsste das sein
Stoicism, sagt Nassim, später im Braustüberl, umzingelt von Carnivoren: stoicism. Das Angenehmste am Stoizismus, sage ich, Beef tartar & bavarian beer: dessen modesty. Arrogance, sagt Nassim. Modesty is, sage ich: always arrogant. You can't beat Montaigne.
(Liest keine Tageszeitungen, nie. Schaut nie Fernsehen, nie. Trader, sagt er, so useless. Brauchte Sicherheit, sagt er, habe Mathematik studiert. Bin Levantiner, sagt er, es gibt keine Levante mehr. Meine Eltern, sagt er, zuerst reich, dann durch den Krieg völlig verarmt. Ich wollte reich werden. Keine Tageszeitungen, nie, sagt er, wozu. Jeden Morgen, sagt er, sage ich mir, was für ein Idiot ich bin, ich muss mir das sagen, sonst beginne ich mir Sachen einzureden. Du kannst nichts wissen, sagt er, nicht wirklich, alles, was jetzt ist, hätte dich ins Irrenhaus gebracht, wenn du es behauptet hättest, dass zwei Flugzeuge in Wolkenkratzer fliegen und ein paar tausend Leute töten, dass der Zins bei einem Prozent liegt, alle zwei, drei Jahre ist etwas dabei, das mir einen großen Scheck ins Postfach legt, Geld, sagt er, so useless für das Glück, Warren Buffett, sagt er, nachher kann man sich immer leicht Biografien zurechtphantasieren, sein nächstes Buch, sagt er, wird von Biografien handeln, das Elend des Historizismus aufs eigene oder fremder Leute Leben verwandt, am Montag ruf ich meine Investoren an, sagt er, und sage ihnen, ich hätte keine Lust mehr, was kann das für eine Frau sein, sagt er, um derentwillen man aus Wien weggeht, ach ja, sagt er, imaginary Austria, wie dieser Doktor Zweig? Ja, sage ich, er hat dann in Brasilien Selbstmord begangen.)
Langer schwerer traumloser Schlaf.
Randomness lunch.
Schwarze Schwäne, Zahlenblindheit.
& dann gehen, Abschiede, so voll, wie man ist, das kriegt man dann ja nie hin, den Leuten sagen zu können, wie schön man das gefunden hat und wie gerührt man gewesen ist von all dem & dankbar, ja sicher sagt man das, aber wie sehr...
durchgerauscht noch schnell, Fünf Höfe, Pumashop-Schuhanordnungen, Münchner Show-off-Frauen, gibt es ja in Hamburg nicht, das Versacehafte, Theatralische von so einer Stadt, wie man das auch vermissen kann,
would you like to hear my voice sweetened with emotion,
im Flugzeug das heulende Kind, Druckveränderungen, Empathieschübe,
am Ausgang M., ganz unerwartet, ich hab so einen Hunger und du weißt ja gar nicht, wie sehr ich mir jetzt Zitronengras einbilde,
langer schwerer traumloser Schlaf.
Gestern nachts dann: theFrank kennengelernt, achtuhrabends bis dreiuhrmorgens, das sind, lass mich mal rechnen, sieben Stunden für ein erstes Date, beendet vor einem blau leuchtenden Bombay Sapphire Schrein, es hätten auch siebzig oder siebenhundert Stunden sein können,
& so könnte müsste sollte dürfte es immerzu sein, hab ich das schon gesagt,
Sprungprozessionen,
so in etwa eben,
heute dann: M., ein Satz, um den ich sie beneide, "es wäre schön, wenn man jedes erotisch durch erratisch ersetzte", & ich habe ihr gleich geantwortet, dass ich ab sofort bitte am liebsten ein Erratikdarsteller sein möchte.
frauen nicht abholen,
auch wenn sie explizit darauf verzichten, geht garnicht und macht ganz grosses karma-minus. genauso: bring mich nicht zum bahnhof, ich hasse abschiede. heute die wuerdelosesten 2 alten menschen am bahnhof, das kind im raucher-grossraum und wir winkend gegen eine verspiegelte scheibe, immer mal klopfend, da wir sie ja nicht sahen, da hat sich jemand eine fruehstart vom zug gewuenscht. und als ich andeutete, ich wuerde evtl nicht mitkommen, war grosse beleidigung angesagt.
boah
selber beim unaufmerksamen lesen ertappt. also: wars das inner normalen faz oder sonnatgs? will ich auch lesen. bitter ist der verhassteste geschmack, denke ich manchmal. campari ist so das letzte fort, aber auch da geht nicht mehr viel. allein schon, wie pils-biere immer schlapper werden, man will schon anfangen holsten zu trinekn... im zug kann man viel besser lesen als im flieger, das schlimmste an mehrdorn seinen ganze sachen ist, das man meist kein platz im zug hat. frech. aber der zugewiesene platz ist immer noch so gross wie im fleiger, man darf mehr aufstehen und weiter gehn, die tueren gehn zwischendurch auf und man kann sogar noch die sueddeutsche lesen oder die nzz oder den tagi(komisch, die schweiz ist so nichtswuerdig, aber sie macht 2 sehr gute unterwegs-zeitungen, wobei die nzz natuerlich "die welt" von der schweiz ist). und herr the frank: da bin ich ja noch sehr gespannt! vor allem, was die jungs sich erzaehlen, bevor ich nach hause komme.
"dass ich ab sofort bitte am liebsten ein Erratikdarsteller sein möchte."
soft- oder harderratik?
Weblogs mögen Springprozessionen sein und vollkommen unwirklich, aber sie haben immer die Chance, oft die Neigung, besser als die Diashows der Freunde vom letzten Korfu-Urlaub zu sein, viel besser. Cuisine radicale hier: Paul geht derzeit nicht in die Schule ohne ein Brot mit Honig, Salami und Senf. Nicht, dass er FAZ-Abonnent wäre.
wann war denn das in münchen? ich bin während meines studiums (1984-90) häufig frühmorgens drei runden im nymphenburger park gelaufen (ca. 13 km). gewohnt habe ich in moosach in einem zimmer mit balkon. damals habe ich die ersten paar jahre noch nicht geraucht. das mit dem trennungsschmerz kann ich gut nachfühlen. ich habe den fön und die dann besonders zum greifen nahen alpen immer geliebt. und die biergärten natürlich. so was kannte ich nicht von zuhause. sehr schöner stream-of-consciousness text übrigens. da wird man richtig neidisch. auf die vielen interessanten leute und auch sonst.
Könnte ich mir ihr Leben leihen für ein paar Wochen? Klingt sehr, sehr angenehm... Vielen Dank jedenfalls für die schöne Erzählung, sie hat eine übermüdete Bahnfahrt angenehm gemacht!