sándor márai, tagebücher 1984-1989, piper, 2002

traumatisierende lektüre. márai notiert verfall und verluste. seine frau lola, in den aufzeichnungen immer nur l. genannt, stirbt anfang januar 1986 (alter, ausgezehrtheit), danach hält er noch drei jahre durch, er weiß selbst nicht, wie und warum, ehe er sich, mit 89, erschießt. zwischen l.'s und seinem eigenen tod sterben, in budapest, seine zwei übriggebliebenen brüder (alter, ausgezehrtheit) und, ein paar blocks entfernt, sein adoptivsohn (42, jähes herzversagen gleich nach dem aufstehen). das jahr vor dem tod l.'s: ihre zunehmende blindheit, ihre zunehmende taubheit, ihre häufiger werdenden zusammenbrüche, ihre zunehmende entkräftung, ein sturz im zimmer nebenan, ein gebrochener arm, der nicht mehr recht zusammenwachsen will, einlieferung ins krankenhaus, abende bei einer fast ständig bewußtlosen, den geliebten körper waschen, putzen, bereden, streicheln, füttern, manchmal ein wacher blick, manchmal ein halbsatz, manchmal eine antwort ("hast du schmerzen?" - "nein"), ihr letzter satz, wochen vor dem tod: "warum sterbe ich so langsam?" sein eigener verfall, die müdigkeit beim gehen von einem zimmer ins andere, die trippelschritte, die anhaltenden autokolonnen beim überqueren der straße, das eine auge völlig blind, im anderen ein glaukom. nachts noch lektüre, ungarische literaturgeschichte, die essays edmund wilsons, marc aurel, ungarische lyriker. nach ihrem tod die lektüre ihrer tagebücher, notizhefte, 120 in einer kiste. nachts träume von einer hotline, vermittels derer er mit ihr kommunizieren kann, schriftbänder, die durch sein bewußtsein laufen, totenticker. der kauf eines revolvers und 50 schuss munition. ein kurs bei der örtlichen polizei, beim ersten termin rechtsbelehrung darüber, unter welchen umständen man auf einbrecher schießen darf, beim zweiten termin schießübungen. er will es nicht verpfuschen, vorher üben. zu den jubiläen (heute ist l. vier wochen tot, drei monate tot, ein jahr tot) einträge über sie, wie sie war, wie sie ihm fehlt, dass religion eine gemeinheit ist, nichts taugt, dass nichts mehr etwas taugt, an allen anderen, immer sporadischer werdenden eintragstagen auch über l. der letzte eintrag 12 wochen vor dem schuss, auf den er sich lange vorbereitet hat: es sei jetzt bald soweit. im nachwort noch, eher nebenher, eine bemerkung über die immensen schwierigkeiten der transkription der tagebücher: márai, schon fast ganz blind, hat mit der schreibmaschine geschrieben - und oft die falschen tasten erwischt.

[beschlossen, sie zu überleben. man kann es keinem antun, nicht zu überleben.]






ja.