Die "Jugend von heute" - ich bleibe bei meiner Greisen-Terminologie - will nichts. Sie hat verraten, was die gequälte Kreatur am Leben hält: den Traum. Der Verdacht, daß sie mit ihrer Unzufriedenheit durchaus zufrieden sei, liegt nahe. So ist es nämlich nicht, daß die jungen Menschen, die in der Hoffnungslosigkeit unserer Epoche baden, vom Weltuntergang überzeugt wären. Sie wissen so gut wie wir, die Alten, daß es weitergeht, wenn auch auf das Unerfreulichste. [Ich, Hans Habe, ich kann diese Jugend nicht leiden, Twen 5/1961]
Ich habe überhaupt noch nicht beschrieben, wie bei uns so eine Party beginnt. Ich habe das einfach weggelassen, denn die Anfänge sind so schwer zu verfolgen. Weil wir meistens mittendrin sind. Weil nämlich einer mindestens, nämlich der jeweilige Gastgeber, schon einen Kognak zur Vorbereitung getrunken hat. Wir trinken nicht wenig. Wir sind über einundzwanzig. Wir unterliegen nicht mehr dem Jugendschutzgesetz. Wir sind vorgerückte Twens. Es kommt selten vor, daß wir, um Augenblicke der Gesellschaftsunfähigkeit zu überbrücken, Witze erzählen. Wir finden uns selber alle furchtbar komisch. Brigitte wiegt sich gerne in den Hüften. Sie sagt dann, sie fände sich so sexy. Es ist ihre Tour, es gehört dazu. Sie macht es nett. Wir lachen uns immer wieder schief. Was wir nicht haben, sind Knutschecken. Was wir nicht mögen, sind gewisse Absonderungen. Ich meine, tiefe Gespräche - siehe Tipsy und Toni -, das muß sein. Wo soll man denn schließlich seinen tiefgefühlten Kummer loswerden, wenn nicht auf der Party? Aber wir sind immer ohne Knutschecken ausgekommen, und da ist gar kein Zwang dabei. Ich weiß nicht, wie der Soziologe über die moderne Form der Geselligkeit namens Party denkt. Sind da Knutschflecken im Wesen der Party enthalten oder nicht? Aber wenn sie es wären, wir haben sie noch nicht entbehrt. Step und Boogie auf dem Tisch, das haben wir schon gehabt, auch Brandflecken. Weltschmerz und jenen englischen Gast, der kein Wort sagte, sich langsam vollaufen ließ, im Sessel einschlief und gegen zwei Uhr, als Marianne und ich auf Zehenspitzen gehend aufräumten, um ihn nicht zu wecken, der also gegen zwei Uhr blinzelte und murmelte: Isn´t it a lovely party - dieses stille Wasser aus Britannien hatten wir auch schon. Auch Elfriede, die sonst einen Knoten trägt und der Prototyp des feinsinnigen deutschen Mädchens ist, haben wir häufig dabei, und schließen heimlich Wetten ab, um wieviel Uhr es soweit sein wird, daß sich Elfriede in einen Vamp der golden twenties verwandelt, ihr Haar läst und Charleston tanzt und mit erstaunlicher Gewandtheit Chansons von sich gibt.
Das mit den Brandflecken war nicht so schlimm
Wir hatten jemand, der sagte fünf Stunden lang alle fünf Minuten, es ist alles grau-en-haft. Er hat uns alle Brote weggegessen, er war ein Werkstudent. Unsere Party endet, wie sie begonnen hat, nämlich nur irgendwie. Und wenn ich es mir recht überlege, einen wirklichen, tödliche Partykiller haben wir nie gehabt. Das mit den Brandflecken war nicht so schlimm. Heute gehören die Brandflecken auf dem Couchtisch zur Geschichte. Rührend, wie alles, was schon vorbei ist... Nur einmal, da brachte Klaus-Martin einen mit. Der sagte, Kinder, wir wollen wieder zu echten Kindern werden, laßt uns sinnvoll spielen, laßt uns ein altes Volkslied mimisch darstellen. Er hieß Egon, glaube ich. Sicher weiß ich, daß er gegen neun Uhr wegen Kopfschmerzen verschwand. Gerede brauchen wir nicht. Keine Experten für feine Freizeitgestaltung. Keine Effekte. Keine geistvollen Ambitionen. Und keinen Schmus. Weder noch. Niemand kommt als jemand. Vielmehr: Jeder kommt selbst. [Wilhelmine Flott, Müssen Parties so sein? Twen, Heft 4, Dezember 1959]
Ich gebe zu, das Folgende ist ein wenig ermüdend. Es dreht sich im Kreis, und man hätte es abbrechen können. Es abzubrechen, hätte indessen bedeutet, jemanden hinauszuwerfen. Vielleicht wäre das zärtlicher gewesen, ich weiss es nicht. Es war nicht so, dass sie mir nicht leid tat, und es gab Augenblicke, in denen ich sie gerne umarmt hätte, oder etwas in dieser Art, obwohl es hölzern und linkisch gewesen wäre. Aufgeschrieben habe ich es, weil es mir nicht aus dem Kopf geht. Das Gespräch nicht - und noch weniger die Ahnung, dass es viele solcher Mädchen gibt. Und dass sie alle jahrelang von einem zum anderen treiben, und jeder (ich nehme mich davon nicht aus) sagt ihnen irgendetwas, und nichts davon hilft ihnen. Selbst müssten sie sich helfen können, ich weiss das, und ich sage es oft genug. Aber das sagt man eben auch oft nur so. Das Perfide für 24jährige besteht ja darin: Alles, was gesagt wird, wird noch öfter als ernst gemeint - nur so gesagt. Ich wüsste nicht, wie es mir erginge, wenn ich da stünde, wo sie gerade steht. Es war einmal leichter, etwas ganz dringend zu wollen, bilde ich mir ein, auch wenn man möglicherweise nicht so leicht durchkam mit dem, was man konnte. Und dann muss etwas schief gegangen sein, wurde aus "ich möchte Texte schreiben, die die Welt erklären, die Menschen sehend machen, die Leser aufscheuchen" ein "irgendwas mit Medien". Man kann das den 24jährigen nicht vorwerfen, auch wenn man oft daran ist, sie zu rütteln und anzubrüllen, dass sie verdammt noch mal endlich aufwachen und endlich Leute wie mich herausfordern sollen (I swear, I miss that...) - ich befürchte, man muss es den Medien (also Leuten wie mir) vorwerfen. Was aus diesem Vorwurf allerdings folgen müsste, frage ich mich selbst.
- Wie findest du meinen Text?
- Wie findest du ihn?
- Gut.
- Wieso?
- Ich weiss nicht. Er gefällt mir eben.
- Hast du ihn dir schon einmal laut vorgelesen?
- Wieso?
- Wenn du ihn dir laut vorlesen würdest, kämst du aus dem Lachen nicht mehr heraus. Ich habe schon lange nicht etwas so Grottenschlechtes gelesen.
- Was gefällt dir daran nicht?
- Alles. Nichts an diesem Text ist erträglich.
- Ich habe ihn aber schon anderen gezeigt, und denen hat er gefallen.
- Entweder sind sie feige. Oder sie verstehen nichts von Texten. Oder sie wollten höflich zu dir sein. Es wäre aber noch unhöflicher, dich zu belügen.
- Was ist denn daran so schlecht? Gefällt dir die Sprache nicht?
- Über die Sprache müssen wir gar nicht erst reden. Es beginnt schon viel früher. Es beginnt bei deinen Wahrnehmungen. Es gibt in deinem Text keine Wahrnehmungen, sondern nur Wahrnehmungsleichen.
- Versteh ich nicht.
- In der ersten Zeile sprichst du von einer flackernden Neonreklame.
- Was ist daran falsch?
- Wie oft in deinem Leben hast du eine flackernde Neonreklame gesehen?
- Oft.
- Ich habe dich gefragt: wie oft im Leben? Nicht: wie oft in schlechten Filmen?
- Einige Male.
- Wie oft also?
- Na ja.
- Höchstens zweimal.
- Na ja.
- Alles in deinem Text ist so. Die Finger sind zittrig. Die Nacht ist dunkel. Gegenüber ist ein Hotel. Die Liebe macht ihn schutzlos.
- Was ist daran so schlimm?
- Dass du entweder keine Wahrnehmungen hast, oder dass du dir keine Mühe mit ihnen gibst.
- So schlimm?
- Groschenromane sind so, "Mein Bekenntnis" und ähnlicher Schund. Das kannst du nicht ernst gemeint haben.
- Ich habe es gern ein wenig schwülstig.
- Es hilft dir nicht, dir das einzureden.
- Was soll ich an dem Text ändern?
- Nichts. Du sollst ihn wegwerfen.
- Oh Gott.
- Und dann setzst du dich noch einmal hin und schreibst ihn neu. Und dann kommst du noch einmal, und ich werfe ihn wieder weg. Und das machen wir so lange, bis er gut ist.
- Ich weiss nicht.
- Warum glaubst du, dass es anders ginge?
- Ich weiss nicht. Andere können das ja auch.
- Sie lügen.
- Ich weiss nicht, ob ich das schaffe.
- Es bleibt dir nichts anderes übrig, wenn du schreiben lernen willst. Du kannst dich ja auch nicht einfach an ein Klavier setzen und eine Sonate spielen. Du musst erst Tonleitern üben.
- Glaubst du, dass man das Schreiben lernen kann?
- Viel davon. Das musst du herausfinden. Es geht nicht anders.
- Jeder?
- Nein. Aber man muss es versuchen. Erst dann weisst du, ob du schreiben kannst.
- Ich weiss nicht, ob ich das will.
- Warum bist du dann hier?
- Ich muss endlich was schaffen.
- Was heisst das?
- Die letzten Jahre waren so herb.
- Erzähl doch.
- Meine Mutter ist gestorben. Mein Großvater auch, zwei Monate später. In meinen Armen.
- Warum schreibst du nicht darüber?
- Ich kann nicht.
- Wieso nicht?
- Es macht mich depressiv. Ich wirke nur so, als wäre ich nicht depressiv. Du kennst mich nicht. Das ist nur eine Maske.
- Du brauchst keine Maske. Warum schreibst du nicht über dein Leben? Das ist doch ein Stoff, den du kennst.
- Ich mag nichts mehr damit zu tun haben. Ich bin froh, dass ich mich aufgerafft habe, nach Hamburg zu gehen. Die letzten Monate waren so krass. Zu viel Koks.
- Dann schreib, wie es ist mit zuviel Koks. Was es macht. Was es mit deinem Körper macht, was es mit deiner Nase macht, was es mit deinem Sex macht, was es mit dir um acht Uhr morgens macht, um zehn Uhr...
- Um zehn hab ich nur geschlafen.
- Du weisst schon, was ich meine.
- Es würde mich runterziehen, wenn ich darüber schriebe.
- Wie hat dein Großvater ausgesehen? Wonach hat er gerochen? Wie haben seine Hände ausgesehen? Was hast du mit ihm geredet, als er in deinen Armen lag und starb? Wie war sein Begräbnis?
- Ich kann das nicht.
- Du kannst es aber auch erzählen.
- Ich kann aber nicht erzählen, wie es wirklich war.
- Wieso?
- Es ist immer so schwammig.
- Wenn du daran arbeitest, wird es immer weniger schwammig sein. Es wird dir gut tun.
- Es zieht mich runter. Ich habe so lange gebraucht, bis ich es geschafft habe, jeden Morgen aufzustehen und irgendetwas zu tun.
- Dann schreib darüber, wie es ist, jeden Morgen aufzustehen.
- Wenn ich das schreibe, mag ich aber nicht mehr aufstehen.
- Du willst aber schreiben können?
- Ich weiss nicht, ob ich es kann.
- Warum willst du schreiben können?
- Ich will eben.
- Schreiben ist großartig. Das Beste, was ich kenne.
- Ja, du.
- Wenn du es willst, kannst du es vielleicht auch schaffen. So schwer ist es ja auch wieder nicht.
- Ich bin schon so alt.
- Wie alt bist du denn?
-
- Und, was ist das Problem?
- Ich müsste schon irgendwo sein, glaube ich. Die anderen schaffen das ja auch.
- Um die anderen geht es jetzt nicht. Wie schnell glaubst du denn, müsstest du schreiben können?
- Ich weiss nicht.
- Wenn du jetzt anfängst zu arbeiten, bist du vielleicht in fünf Jahren so weit, dass du zufrieden sein kannst mit dem, was du schreibst.
- Oh Gott.
- Es ist aber so. Übrigens geht es nicht darum, was andere über das denken, was du schreibst. Ziemlich sicher können sie es ebenso wenig.
- Und wie soll ich es dann lernen?
- Du kannst mir deine Texte zeigen. Ich werde dir sagen, wie sie sind. Du musst mich nicht für rechthaberisch halten - ich habe recht. Oder such dir jemand anderen, der so ist wie ich und dich nicht einfach durch Höflichkeit loswerden will.
- Ich weiss nicht, ob ich das schaffe.
- Wenn du in Japan Sushikoch werden willst, musst du auch erst ein paar Jahre Reis waschen. Und dann erst darfst du zum ersten Mal Fisch schneiden.
- Aber ich bin schon 24.
- Was magst du einmal werden, wenn du groß bist?
- Schauspielerin. Auf einer Bühne stehen.
- Warum wirst du dann nicht Schauspielerin, sondern Journalistin?
- Ich habe mich bei der Ernst-Busch-Schule beworben. Die haben mich auch zum Vorsprechen eingeladen. Ich bin vor Angst nicht hingegangen. Und dann habe ich jetzt in Hamburg an der Stage School einen Workshop gemacht. Die haben mir einen Vertrag angeboten. Kann ich mir aber nicht leisten.
- Also ist die Schauspielerei geknickt?
- Ja. Kann man so sagen.
- Und wie bist du auf Journalismus gekommen?
- Ich hab da in Berlin eine Bekannte gehabt, die für Sat1 was gemacht hat. Bei der bin ich mitgelaufen. Leute interviewen, recherchieren. Das hat mir Spaß gemacht.
- Also Fernsehen.
- Ja. Eigentlich schon.
- Warum bist du dann hier?
- Im Fernsehen muss man ja auch schreiben können. Danach habe ich übrigens noch ein Praktikum bei der Bild.
- Dass du da schreiben lernst, kann ich mir nicht vorstellen.
- Ich brauche ein Volontariat. Ohne Volontariat kannst du doch sowieso nirgendwo anfangen. Und wie soll ich ein Volontariat bekommen, wenn ich nicht Praktika mache?
- Ich habe auch nie ein Volontariat gemacht. Aber ich bin auch nicht aus Deutschland...
- Die Uni halte ich jedenfalls nicht mehr aus.
- Was machst du an der Uni?
- Ich habe sieben Semester Jus studiert. Weil meine Mutter sich das eingebildet hat. Und jetzt studiere ich Pädagogik, Soziologie und Politikwissenschaften. Im, warte Mal, dritten Semester.
- Was interessiert dich daran?
- Woran?
- Pädagogik, Soziologie und Politikwissenschaften.
- Nichts. Ich muss studieren, sonst bekomme ich meine Waisenrente nicht mehr.
- Aber warum studierst du gerade das?
- Weiss auch nicht. Jeder sagt dir etwas anderes. Wenn man Journalist werden will, soll man doch irgendetwas Allgemeines studieren. Ich war sogar schon bei der Berufsberatung, aber da waren lauter Trantüten.
- Das einzige, was du als Journalist können musst, ist zu beobachten und zu schreiben. Und zwar das Besondere und nicht das Allgemeine. Lass dir nichts einreden.
- Aber was soll ich denn machen?
- Du musst erstmal herausfinden, was du willst. Und dann musst du daran arbeiten, irgendwann einmal zu können, was du willst. Anders geht es nicht.
- Ich weiss nicht.
- Du kannst doch reden. Du kannst doch erzählen. Du hast mir doch gleich bei unserem ersten Gespräch von deinem Doppelleben erzählt. Du musst nur einigermaßen so genau schreiben lernen wie du sprechen kannst.
- Ich kann doch gar nicht sprechen.
- Doch.
- Mein Wortschatz ist doch so beschränkt.
- Nicht, wenn du sprichst. Nur wenn du schreibst.
- Ich habe aber das Gefühl, dass ich nie das ausdrücken kann, was ich eigentlich sagen will.
- Deswegen musst du schreiben. Weil du beim Schreiben alles immer durchstreichen und noch einmal schreiben kannst. Bis du schreiben kannst, was du ausdrücken willst.
- Vielleicht werd ich ja Viehhändlerin. Vielleicht geh ich am besten zurück in mein Dorf.
- Nein. Du gehst nach Hause und schreibst deine Geschichte noch einmal.
- Ich weiß nicht.
Muss mal eine Geschichte schreiben, die so anfängt: "Ich kannte das Internet schon, als es noch so klein war. Ich hab es sogar in diesem kleinen Club in Hamburg gesehen, SE hieß der, aber daran kann sich keiner mehr erinnern. Damals war das Internet ja noch bei keinem major unter Vertrag, und wenn es auf Tour ging, schlief es bei Leuten, die ganz sicher keinen Anzug besaßen.."