Weil ich Bücher nicht wegschmeissen kann, obwohl viele von ihnen es verdient hätten, konnte ich heute in alten Martin Walser-Interviews nachlesen. Suhrkamp Taschenbuch 1871 (sic!), Auskunft: 22 Gespräche aus 28 Jahren. Sehr aufschlussreich: An seinem Geschichtsgefühl laboriert er schon seit 1986. Alles schon da, und zwar full monty. Wie er es nicht aushält, dass Nietzsche und Karl May im Ausland geboren sind, die Mutterkatastrophe Erster Weltkrieg, Versailles, und dass er das alles doch wohl sagen wird dürfen. Muss man sich mal vorstellen: Er darf seinen Seich also seit 16 Jahren sagen - Welt, Stern, öffentlich rechtliches Fernsehen - und tut immer noch, als dürfe er nicht. Na ja, egal.

Lustig sind die Interviewpassagen, in denen es aufs Territoriale hinausläuft; Geschichtsgefühle neigen ja dazu, stets aufs Territoriale hinauszulaufen. Und da sitzen sie dann, der Schriftsteller und die Journalisten und grübeln, was man jetzt berechtigterweise emotional einsacken könnte und was dann doch lieber nicht.

Drei Passagen:

I.

Also Nietzsche war kein Ausländer, aber jeder der heute in Sachsen an Nietzsches Stelle träte, wäre ein Ausländer. Da muß ich den Honecker fragen: Sind Sie wirklich für mich ein Ausländer, Erich Honecker? Und ich für ihn? Das kann ich ihm nicht abnehmen. Ich muß sagen, für mich hat Österreich seit 1945 wirklich nationale Identität entwickelt. Ich glaube einem Österreicher, daß er ein Österreicher ist, auch wenn, wie Sie sehr wohl wissen, mit Vorarlberg das Regionalistische für mich vielleicht im Vordergrund ist. Und ein Schweizer ist ein Schweizer. Aber für mich hat die DDR keine nationale Identität und die Bundesrepublik auch nicht.
II.
Ja gut, aber ich meine, die Abnabelung Österreichs, die kann man nun wirklich nicht mehr rückgängig machen, man kann sie fast nicht rückgängig machen wollen. Ich kann mir das nicht vorstellen. Ich erlebe, auch wenn ich in Wien bin, oder wenn ich österreichische Verlautbarungen in Literatur oder Politik zur Kenntnis nehme, dann erlebe ich auch das tatsächlich auf k. und k. zurückbezogen, daß sich von da bis jetzt etwas Nationales gebildet hat. Und das hat auch Literatur. Wenn man da einteilt, kann man sagen, die österreichische Literatur ist zwar deutschsprachige Literatur, aber hat ein anderes Klima. Jörn Laakmann: Von der Wiedervereinigung haben Sie sich gerade distanziert, ich glaube, Sie haben sie eher als eine Utopie, diese Idee eines wiedervereinigten Walser: eines vereinigten Laakmann: eines vereinigten, eines "einen" Deutschlands, wie Sie gerade sagten. Aber Sie wollen gleichzeitig nicht Österreich wiedereingliedern. Walser: "Wiedereingliedern" - dieses Vokabular ist nicht meines!
III.
In den letzten Jahren wurde ich, nachdem ich für die Wiederereinigung war, immer wieder polemisch gefragt: Ja, und Österreich? Und da fiel dann auch das Wort Anschluß. Aber das ist ja schon insofern grotesk, als eben die allmähliche geschichtliche Verselbständigung Österreichs in keiner Sekunde und in keinem Detail vergleichbar ist mit der schmerzlichen, brutalen Trennung, dem Auseinanderschneiden eines existierenden Ganzen, und sei es noch so länderhaft gewachsen und nachher förderalistisch strukturiert.
Das Wort Geschichtsgefühl stelle ich mir übrigens immer wie von Berti Vogts ausgesprochen vor: Gechichtsgefühl. Aber vielleicht habe ich das auch irgendwo gelesen....






What the hell passierte 1986?

Wenn der Walser von heute schon 1986 da war, stellen sich ganz neue Fragen:

  • Was dachte sich Martin W. eigentlich so bis 1985? Da war er ja auch schon erwachsen genug, um sich Meinungen nicht nur zu bilden, sondern auch formulieren zu können.
  • Was passierte 1986 mit Martin Walser? Als treuem Seher der 80er-Show auf RTL ist mir aus diesem oder dem Vorjahr nichts erinnerlich, das einen gesamtdeutschen Geschichtsgefühl-Schwenk bei ihm hätte verursachen können. Es sei denn, er wäre der erste gewesen, der die Konsequenzen des Gorbatschowschen Dienstbeginns erkannt hätte. Aber diese Ehre wird ihm wohl keiner seiner Kritiker erweisen wollen.
  • Warum sagt dieser Schriftsteller, der doch, so P.P. und viele andere, das nationalistische Wasser nicht halten kann, uns nicht, woher dieses Gebrechen stammt? Üblicherweise ist doch gerade bei Späterleuchteten der Mitteilungsdrang über das Erleuchtungserlebnis besonders ausgeprägt. Irgendwo Antworten da draußen?

meine vermutung lautet:

walser ist 1986 zu sich gekommen. natürlich hat er davor nicht prinzipiell anders gedacht. bloß graduell anders. in den interviews davor plädiert er schon mal am einen oder anderen ort für deutsche sonderwege, austritt von brd und ddr aus den jeweiligen paktsystemen usw. bis auf einige ausländer (wie maggie thatcher, die le monde oder auch mich) und ein paar polemiker (wie etwa wolfgang pohrt oder eike geisel) haben das damals die meisten ja für eine friedensbewegung gehalten - nicht für den deutschnationalismus, der die friedensbewegung war.

ab 1986 wird es walser vermutlich als opportun erschienen sein, auszusprechen, was für ihn sache war. es handelte sich übrigens um ein fernsehgespräch mit herrn herles und um ein interview in der "welt am sonntag". wurde damals durchaus als wahlweise anrüchig oder durchgeknallt wahrgenommen.

nebenbei angemerkt: es gab mitte der 80er durchaus leute, die bemerkten, dass gorbatschow möglicherweise auf die deutsche wiedervereinigung hinausliefe (vermutlich gehörte kohl zu ihnen).

ich will mir aber nicht wirklich den kopf walsers zerbrechen müssen. allerdings interessiert mich allmählich, wieso ein hymniker der nouvelle economie sich so sehr den kopf über den walserkopf und das nationale zerbrechen will.


Gechichte

Auch Helmut Kohl sagte immer "Gechichte".


ach da

habe ich es her. credit to whom credit is due.


Eine Hymniker-Polemiker-Kontroverse?

Mein lieber P.,

dass du dich nicht in Martin Walser hineinversetzen möchtest, verstehe und begrüße ich. Wer Schriftsteller ist, soll schreiben, was ihn bewegt, nicht drumherumdrucksen. Wobei zumindest der kleine Einschub erlaubt sein sollte, dass nicht die schlechteste Literatur unter Bedingungen entstanden ist, in denen es Schriftstellern nicht möglich war, das explizit zu schreiben, was sie bewegte. Es wäre zumindest einen Gedanken wert, ob wir uns nicht gerade wieder auf einen solchen Zustand zubewegen. Was der Literatur durchaus gut tun könnte. Aber lassen wir das. Mein Interesse an Martin Walser interessiert dich? Wohlan. Es wird aus drei Quellen gespeist. Die erste ist, wie könnte es anders sein, mein Interesse an mir. Ich habe in den vergangenen Monaten mit großem Engagement versucht, ein Buch über die ökonomische Perspektive Deutschlands im gerade begonnenen Jahrzehnt an die Verlage zu bringen. Zu meinem nicht geringen Erstaunen brachte mir das Exposé Vorwürfe wie „Rechtspopulismus“ ein, und wo die Aufnahme wohlwollender war, war sie am Ende doch resigniert: Es bringe nichts, gegen den Strom zu schwimmen, das müsse ich doch einsehen. Auch wenn Walser mir einige Bücher und Friedenspreise voraus ist, konnte ich doch nicht umhin, in den vergangenen Wochen eine gewisse Verwandtschaft zu empfinden. Die zweite ist mein Interesse an Deutschland. Mir ist es nicht egal, wer hier warum mit wem regiert, mir ist es nicht egal, wer sich hier anmaßt, die Spielregeln zu bestimmen, und welche das sind (ein kleines Textchen dazu aus der taz von heute: www.taz.de ), welche Verantwortung für die Geschichte Deutschland zu tragen bereit ist, welche Konsequenzen daraus gezogen werden, welche Verantwortung für Gegenwart und Zukunft Deutschland tragen sollte. Sicher würde ich mich Gustav Heinemann darin anschließen, dass ich nicht Deutschland, sondern meine Frau liebe (die Kinder auch), das ändert aber nichts daran, dass es neben der Verantwortung jedes einzelnen für das, was er tut und nicht tut, auch die Verantwortung von Staaten und Gesellschaften gibt für das, was sie tun und nicht tun. Deutschland laboriert nicht nur seit bald 60 Jahren an Hitler, sondern auch seit bald 15 Jahren an Honecker, ist aus biologischen Gründen dazu gezwungen, sich zu Krieg und Holocaust neu zu positionieren (weil in beiden Fällen die Überlebenden aussterben), und aus politischen Gründen, ein neues Selbstverständnis als (geeinte) Nation zu finden. Und das geeinte steht in Klammern, weil es nur so lange gebraucht wird wie dieses Selbstverständnis noch fehlt. Die dritte Quelle schließlich ist nicht etwa mein Interesse an Walser, von dem ich, zugegeben, noch keine Zeile gelesen habe. Es ist mein Interesse an Praschl. Ich schätze meistens, was du schreibst, und bin immer wieder fassungslos, wie viel du schreibst (obwohl ich glaube, dass es weniger wird, seit bei Amica der Etat für freie Mitarbeiter gestrichen wurde, kann das sein?). Es gibt einige Stellen, an denen ich das Gefühl habe, dass du zu schnell zu viel geschrieben hast, deine erste Erwiderung auf Walser zum 8.Mai war ein solcher Fall, und es gibt einige Stellen, an denen du Menschen für etwas prügelst, für das du auch mich prügeln könntest. Bisher genieße ich es, die Auseinandersetzung nicht führen zu müssen, sondern führen zu können – als du Peymann die Knochen gebrochen hast, weil er in den USA das neue Rom sieht, lag es mir auf der Tastatur zu entgegnen, aber ich habe es gelassen, es ging ja nicht um mich. Als es jetzt um Walser ging, hätte ich es auch wieder lassen können. Aber ich hatte dann doch das Gefühl, dass es um mich ging. Wäre es besser, statt dessen eine Praschl-Gürtler-Kontroverse zu führen? Auch Habermas hat schließlich mal klein angefangen.


thx

für die lange antwort. ich kann darauf im augenblick, zwischen tür und angel, nur kurz antworten, ausführlicheres wird folgen. eine gürtler-praschl-kontroverse würde ich begrüßen und wäre mir wesentlich lieber als indirekt über den inhalt anderer menschen köpfe zu verhandeln. dass ich prügle, würde ich bestreiten, man nennt es glaube ich: polemik. dass man dir rechtspopulismus unterstellt, fällt mir bei meiner kenntnis Deiner texte nicht leicht, weswegen mich das erwähnte exposé natürlich sehr interessiert. im übrigen bemühe ich mich recht penibel, zwischen rechten und rechten zu unterscheiden. rechte ökonomen, rechte bürger nerven mich selten, auch wenn mir ihre argumente nicht richtig erscheinen; antisemitismus, nationalistisches geraune, waldwiesenwagner-romantik dagegen machen mich extrem ungehalten. wenn man also Dir rechtspopulismus vorwirft, käme es für mich, auch bei berechtigung dieses vorwurfs, immer noch darauf an, um welche sorte rechtspopulismus es sich dabei handelt. es macht, jedenfalls für mich, einen unterschied, ob ich etwas für falsch oder für schäbig halte; bei walser habe ich permanent letztere empfindung. so wie ich sie bei peymann hatte, dessen schäbigkeit allerdings (seinem selbstverständnis nach) von links kam: bush vorzuwerfen, er benehme sich mieser als hitler, weil er die olympische begrüßungsformel abgewandelt hätte, ist für mich eine variante des antiamerikanismus, die mich vielleicht ja von prügelstrafen träumen ließe; aber gut, er ist ein alter zausel.

was deutschland betrifft: diese debatte würde ich nicht ungerne führen; umso lieber, als ich auf diesem terrain einiges immer wieder von allen möglichen menschen hartnäckig geäußerte hartnäckig nicht verstehen kann und bei einer kontroverse möglicherweise etwas besser verstünde.

eine frage noch: wenn Du habermas bist, wer bin denn dann ich?


Ist doch klar, oder?

praschl spielt den Luhmann - das wäre doch mal was !


Wieso ich Habermas? Du Habermas!

Wie kommst du eigentlich darauf, dass ich den Habermas mache? Die Rolle des autokratischen Gutmenschen passt weit besser zu dir. Ich schwanke noch, ob ich eher in die Luhmann-Ecke tendiere (als radikal-relativistischer Schöpfer eines hermetischen Begriffsgebäudes) oder eher nach Nolte schlage (als provokanter Negierer gutmenschlichen Gemeinguts). Andererseits ist mir Luhmann zu unleserlich und Nolte zu schwach – wer in diesem Streit nicht gegen Habermas gewinnen konnte, ist zum Verlierer geboren. Aber es geht ja auch nicht um eine Parodie früherer Hahnenkämpfe. Wir sollten Hahns genug sein, um einen neuen Kampf auszufechten. Mein Vorschlag zur Wahl der Waffen: Wir führen ein Streitgeschreib. Jeder Beitrag (Zwischenrufe ausgenommen) muss sowohl eine Antwort auf den vorherigen Beitrag des Kontroversanten enthalten als auch einen darüber hinaus gehenden Ansatz. Der neue Ansatz sollte in thematischer Nähe zum jüngsten Beitrag stehen, muss das aber nicht (Themenwechsel also möglich, aber nicht üblich). Weder inhaltlich noch stilistisch sollte darüber hinaus ein Rahmen vorgegeben werden - erlaubt ist, was der Wahrheitsfindung dient. Und was das ist, definiert der Schreiber, nicht der Angeschriebene. Ich würde ähnlich wie beim Schnellschach ein Zeitlimit befürworten (z.B. jeder Beitrag muss innerhalb von 24 Stunden, spätestens am folgenden Werktag beantwortet werden), sehe darin aber keine notwendige Bedingung. Was den Ort der Kontroverse angeht, überlasse ich dir als geübterem Netzer die Entscheidung. Ach ja: Brauchen wir eine Regel zur Beendigung der Kontroverse? Ich glaube nein. Wenn wir den richtigen Anfang finden, finden wir auch das richtige Ende.


Habermas

war mir immer zu systematisch und penibel, als dass ich mir seine Maske anmaßen könnte. Ich dagegen bin fürs Systematische untalentiert und schlampig bis zum Gehtnichtmehr. Mit den Regeln bin ich einverstanden, unter der Bedingung, dass man erstens (angekündigte) Timeouts bei Unlust, Ermüdung und Einfallslosigkeit nehmen kann. Und dass Du beginnst. Veranstalten können wir das hier - dann müsstest Du Dich subskribieren und ich Dir im Gegenzug einen Contributor-Status spendiere. Oder wir richten ein eigenes Antville-Log dafür ein. Das erste hat den Vorteil, der aber auch ein Nachteil sein kann, dass relativ viele Leute mitlesen und die Beiträge vermutlich auch da und dort kommentieren würden, und den Nachteil, dass die Debatte durch reguläre Weblog-Beiträge unterbrochen und gedehnt würde. Das zweite - ein eigenes Log nur für den Zweck der Debatte - wäre strukturierter, einfacher zu verfolgen, hätte aber weniger Leser (was mich nicht stört). Up to you. Ab übermorgen könnte es für mich losgehen.


zwischenruf

eure diskussion ist zwar nicht uninteressant, aber ich habe da gerade was von schach gehört und danach dürstet es mich gerade. wie wäre es mit einer blitzpartie degue? ich schlage den internet chess server vor. ich wäre zwar gerne kasparov, habe auch sein alter. aber irgendwie hat es nie so ganz zur weltspitze gereicht.