Reitz: Die Streicher, die Cellisten, aber noch mehr die Geiger, bekommen arge Schwierigkeiten mit der Wirbelsäule, weil das asymmetrisch ist, eine ganz asymmetrische Haltung ist das. Die eine Hand ist immer hier auf dem Griff. Die haben viel mit Rückenschmerzen zu tun.

Alle Musiker haben irgendwelche Ticks. Man entkommt dem ja auch nicht. Für jedes Instrument gibt es einen eigenen Tick. Die Gitarristen mit ihren Fingernägeln, die eine Höllenangst haben, sich ihre Nägel abzubrechen. Die Flötisten, die immer ihre Lippen anfeuchten. Die Geiger mit ihren großen Exzemen am Hals, die Pianisten mit Furunkeln am Hintern. Jeder hat so etwas. Die Cellisten mit ihrer Hornhaut. Wie die sich ihre Hornhaut an der linken Hand pflegen müssen. Da gibt es bestimmte Hornhautstellen, wenn die ein bißchen Schaden nehmen, dann geht es nicht mehr. Musik funktioniert ja nur durch bestimmte körperliche Deformationen. Es gibt bestimmte Hornhautstellen, es kommt darauf an, wie lang die Fingernägel sind. Wenn man in der Badewanne war, und es löst sich die Hornhaut, eine Katastrophe. Das sind Sachen, die man als Nichtmusiker alle nicht weiß. Und diese Deformationen sind mühselig antrainiert.

Ich habe einen Freund, der ist Zahnarzt. Der hat sich darauf spezialisiert, Zahnprothesen für Trompeter zu machen. Die kommen ja auch irgendwann in das Alter. Der hat sich einen internationalen Ruf damit verschafft, daß er Zahnprothesen für Trompeter anfertigt. Was der mir erzählt über seine Kunden, was die für Probleme damit haben, das ist unglaublich. Ein Zahn, der ein bißchen anders geschliffen wird, und schon kommt der Ton nicht mehr, der reinste Wahnsinn. Der musste das ganz genau studieren: Wo der Ton entsteht zwischen Lippen und Zähnen, wie sich gewisse Hohlräume bilden u.s.w. Das wieder nachzubilden, damit das gleiche Volumen wieder entsteht, dergleiche Andruck, das schafft man kaum. Das sind ja winzigste Unterschiede. Mein Freund hat Experimente angestellt über die Empfindlichkeit des Gebisses. Was kann der Mensch noch zwischen den Zähnen empfinden? Wie dünn muss etwas sein, damit man es beim Biss nicht mehr bemerkt? Das ist bloß ein Hauch. Man empfindet Millimeter-Bruchteile. Man empfindet Größenunterschiede, die unter einem normalen Mikroskop kaum erkennbar seind. Man muss das in My messen.

Ich bewundere Musiker, weil sie in diesen My-Bereichen unglaubliche Sicherheit entwickeln. Ich höre ja bestimmte Dinge gar nicht, zum Beispiel in der Intonierung. Es kommt immer wieder vor, dass Salome sagt: "Ich kann das nicht aushalten, der spielt immer einer Viertelton zu hoch, und das reibt sich mit den anderen Instrumenten." Das ist eine Schulung des Gehörs, die man normalerweise nicht hat. Es ist wirklich fantastisch. Ich habe mich immer gefragt, wie kann man mit dem Finger da hingreifen, auf die Saite, und das ist um den Bruchteil eines Millimeters die richtige Stelle, und das in Läufen, in denen 30 Töne in einer Sekunde vorkommen, und alle stimmen? Woher weiß das die Hand, woher hat das Hirn diese Genauigkeit, wie kann die Muskulatur so genau sein, während ich manchmal Schwierigkeiten habe, beim Nachhausekommen mit dem Schlüssel das Schloss zu finden?

Praschl: Bei Sängern kommt ja noch dazu, dass sie sich selbst über die Knochenleitung hören, und dass, was sie singen, für sie selbst völlig anders klingt als für jeden anderen…

Reitz: Dazu habe ich etwas Interessantes gehört. Sehr viele Sänger erleben, dass sie schlagartig nicht mehr singen können. Jetzt ist man dahinter gekommen, was da passiert. Die bekommen einen Gehörschaden durch die Lautstärke ihrer eigenen Stimme. Beim Operngesang erreicht das im Ohr über 120 Dezibel. Das sind Lautstärken, die übersteigen einen Presslufthammer und ein Düsenflugzeug aus nächster Nähe. Das ist bei Fortissimo-Stellen im Operngesang mit der eigenen Stimme im Ohr der Fall. Das hat man deswegen so lange nicht verstanden, weil man nie über die Wahrnehmung nachdachte, die der Sänger von seiner eigenen Stimme hat. Darauf kommt man ja auch nicht so schnell: Dass Sänger durch ihren eigenen Gesang plötzlich einen Hörschaden bekommen, und dann können sie nicht mehr singen.

Aus einem in der Abschrift 82 Seiten langen Interview, das ich vor Jahren mit Edgar Reitz geführt habe.






Für jedes Instrument...

... gibt es einen eigenen Tick. Die Gitarristen mit ihren Fingernägeln, die eine Höllenangst haben, sich ihre Nägel abzubrechen. zumindest diese angst kann ich nachvollziehen, sie ist nicht mal ein tick: wenn man ohne nägel spielt ist es als würde der zuhörer es durch watte hören. in diesem sinn ist es nicht mal ne schrulle oder ein tick. was flötisten und trompeter betrifft kann ich nicht mitreden, aber es dürfte was verwandtes sein; sänger hörschaden durch eigenen gesang? klingt absurd. schlimm ist aber das schicksal der orchestermusiker - auch das ist nachvollziehbar, dass diese menschen gehörschäden davontragen. deshalb gibts die professionellen sauteuren musicians earplugs


im ersten augenblick

dachte ich, dass niki de saint phalle's gesundheitliche probleme durch den umgang mit lösungsmitteln während ihrer arbeit der anstoss für dieses posting waren.


find es übrigens sehr schad

um die NIKI, sie hatte nen touch von hella von sinnen. wurde als kind missbraucht und hat im prinzip ihr gesamtes schaffen auf die verarbeitung dieses traumas aufgebaut. exzellenter bericht im saso standard woelfin alpha.antville.org


Kommentarregeln.

Bitte keine Begrüßungen in den Comments (ich weiß ja eh, dass sie in der Regel an mich gerichtet sind), aber vor allem keine size-Tags und auch keine target=_blanks.


und was wurde aus den 82 seiten?


ungefähr fünf davon

sind im stern aus anlass der "zweiten heimat" veröffentlicht worden. es hat sich damals halt zu einem acht- oder zehnstunden-gespräch ausgewachsen, in dem reitz immer noch etwas erzählt hat.


nicht ungern...

läse ich die anderen 77 seiten. not kidding.


mal sehen

ist sehr chaotisch, wie stundenlange gespräche eben so sind. müsste viel editing betreiben.


man könnte

direkt eine neue kunstform draus machen. tape/minidisc/dat abspielen und in eine spracherkennungssoftware laufen lasen.

wobei: reitz hat das nicht verdient.


Ich hab das so verstanden, dass die 82 Seiten bereits transkribiert sind.


transkribiert schon,

aber ohne bearbeitung eben, direkt vom band. was ja nie texte ergibt, die man mühelos lesen kann, nebensatzverschachtelungen, die das prädikat verlieren, wiederholungen usw.


sonst wüßte man vermutlich nicht, dass es 82 sind.


in meinem orchester

wird unter den geigern regelmässig um die plätze ganz vorne und ganz am rand gebalgt. die sind nämlich am weitesten weg von den blechbläsern. die bringen eine lautstärke hin, die man aus der nähe einfach nicht aushält. ich glaube, gegen den hochkultivierten lärm von streichern ist mein gehör schon lange immun.


hört man im orchester,

was man selbst spielt, eigentlich noch - oder hört man nur das orchester, oder dessen lautere abteilungen? und falls sich ein streicher selbst nicht mehr hört (sehr abgründige vorstellung, finde ich), wie schaffen die das dann, fehlerfrei zu spielen, was sie spielen sollen?


ich hör mich ganz gut

aber ich spiele ja auch Posaune, ob die Leute vor mir überhaupt noch irgendwas hören, weiß ich nicht ;-)


die posaunisten

sind die schlimmsten, lautstärke-mässig. ;)

es gehört tatsächlich zu einem meiner grössten probleme im orchester, dass ich mich selbst zum teil nicht höre. das ist allerdings ein gutes zeichen. wenn man daneben greift, dann hört man's.


blechbläser-erfahrung

ist, dass man sich selbst schon noch hört, auch wenn das Register sehr laut ist. Die Klarinettisten vor uns behaupten, sie würden sich selbst auch dann noch hören. Aber wahrscheinlich sind die eh längst taub. ;)


Rachmaninow

ich hab mal gesehen bzw. gehört, wie eine Klavierstudentin Rachmaninow-Etüden geübt hat, irrsinnige Geschwindigkeiten, überkompliziert Läufe, absoluter Wahnsinn. Das ist nicht merh rational erklärbar, wie die das treffen können. Manchmal denkt man, die langen Probenjahre sind nur dazu da, den Verstand als verlangsamendes Moment auszutricksen, irgendwie zu umgehen, um die technische Seite hinzukriegen, dann geht es wieder darum, das Gefühl wirken zu lassen, um den Ausdruck hinzukriegen. Gibt es eigentlich dazu Forschungen?


Klar gibt's dazu Forschungen. Solcherlei Dinge sickern sozusagen als Makros ins Unterbewusstsein.


genau deswegen hat das bei mir nie wirklich funktioniert. verstand war zu interessiert an dem, was die finger da tun auf der tatstatur. ließ sich nicht ausschalten. habe mich dann damit gerechtfertigt, dass die meisten klassischen klavierstücke heutzutag ohnehin vieeeel zu schnell gespielt werden (im vergleich zu ihrer entstehenszeit).


Ich liess es nie so weit kommen, Ms K. Der erzwungene Blockflötenunterricht an der Schule liess jegliche Musikalität in mir ersterben.


eines meiner lieblingsmusikbücher,

early jazz von gunther schuller (*), eine grandiose rehabilitation des frühen new orleans-ragtime-blues-usw-jazz gegenüber dem uninformierten gerücht, das wäre nur das talentlose zusammengerühre europäischer musik mit ein paar black roots durch talentlose puffmusiker gewesen, belegt mit einem haufen beispielen und transkriptionsversuchen, wie unfassbar komplex die rhythmischen patterns schon dieser musik gewesen sind, und dass die musikwissenschaft mangels wahrnehmungsvermögen es lange nicht geschafft hat, das überhaupt in europäischen notationen aufzuschreiben - 128tel beats, gegeneinander geschichtet undsoweiter. leider steht in dieser studie nicht drin, was diese musik für einen musikproduzentenkörper voraussetzt und wie der sich vervollkommnet hat unter den miesen gesellschaftlichen bedingungen, unter denen er seine musik erfunden hat.

(*) gunther schuller hat bei miles davis mitgespielt und danach den "third stream", eine relativ kurzlebige, aber ziemlich interessante jazzspielart entwickelt, und war nebenher ein recht einflussreicher musikwissenschaftler, der als einer der ersten aus dem material belegt hat, dass jazz eine musik sui generis ist. na ja, wen´s interessiert.


Guter Tip! guck


Arts Medicine

hier ein Link zu einer "Spezialisten-Seite": Arts Medicine. Und ansonsten empfehle ich, Gehörschutz wenigstens bei den Proben zu tragen (während der Aufführungen nicht möglich), wenn man Musiker ist und regelmäßig durch den "Lärm" belastet wird (ist KEIN Witz). Es gibt spezielle Schutzmittel für Musiker, die sogar annähernd frequenzrichtiges Hören ermöglichen. Durch Orchester-Lärm bedingte Gehörschäden bei Berufs-Musikern werden übrigens heute unter gewissen Bedingungen als Berufskrankheit anerkannt/entschädigt.


vielen dank

für diesen kostbaren link.