Tatsächlich: Wien scheint ein ausgewählter Standort für den "Angstraum" zu sein, gestern wie heute, theoretisch wie praktisch. Gestern und theoretisch verknüpft sich dies mit den Namen von Camillo Sitte [vgl.Kap. 3] und Sigmund Freud und der Entdeckung der modernen Krankheit namens "Agoraphobie". "Agoraphobie", Platzangst, diagnostiziert Esther Da Costa Meyer in "The Sex of Architecture", ist eine neue und sich ausweitende Neurose, die vorwiegend den Frauen zugeschrieben wird. Es ist eine städtische Neurose, die sie erstmals beim Wiener Stadtplaner Camillo Sitte thematisiert findet. Bei seinem Rettungsversuchs des städtischen Platzes benützte Sitte die anthropologische Erklärung, der Mensch habe Angst vor der "offenen Flanke", an der er leichter angegriffen werden könnte. (Sein Projekt sah deshalb vor, die Ringstraße in umbaute Plätze zu untergliedern. Der Stadtraum sollte also vom menschlichen Körper und dessen Aktionsradius her entwickelt werden.) Sigmund Freud fügte dem hinzu, daß die Angst vor der Querung großer offener Flächen sich aus der Verdrängung des Wunsches herleite, auf der Straße eine zufällige sexuelle Begegnung zu erfahren. Da Costa Meyer hält zwar nicht an so expliziten Theorien fest, doch meint sie: Agoraphobie als spezifisch weibliche Form von Stadtneurose stehe in engstem Zusammenhang mit der geschlechterorientierten Ausprägung der Stadträume und der spezifisch häufigeren realen Erfahrung der Frauen mit gewaltsamen Übergriffen. Diese städtischen "Angsträume" könnten also auch als lokale Abbildung unspezifischer Viktimisierungsfurcht aufgefaßt werden. [Esther Da Costa Meyer: La Donna è Mobile: Agorophobia, Women, and Urban Space, in: Diane Agrest u.a. (Hrsg.): the Sex of Architecture, New York 1996, S.141ff] - Und wie so vieles andere an der Moderne führt die Spur ins Jahrhundertwende-Wien zurück.
Siegfried Mattl: Die Stadt und/gegen die Frauen.