Ein guter Artikel in der Neuen Zürcher, der sagt, was zu sagen ist: Zurück zur Opfergesellschaft. Verschiebungen in der deutschen Erinnerungskultur.

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Anzeichen für eine Transformation der Täter- in eine Opfergesellschaft gibt es schon länger. Seit Mitte der neunziger Jahre ist zum Beispiel ein bis heute anhaltender «Zeitzeugenboom» zu verzeichnen. Der begann unter anderem mit der deutschen Antwort auf Steven Spielbergs Video- Archiv der Holocaust-Überlebenden, dem von Guido Knopp initiierten «ZDF-Jahrhundertbus». Mit Hilfe dieses mobilen Aufnahmestudios sollte die Zahl der damals 50 000 Zeugen des weltweit operierenden Archivs der Shoah Foundation von deutschem Boden aus übertroffen werden. Tatsächlich gibt seither eine nicht enden wollende Reihe ehemaliger BDM-Mädel und Frontsoldaten ihre Erlebnisse, Erfahrungen, ihre Leiden und Verluste (nicht aber ihre Taten) vor den Videokameras der Zeitzeugenambulanz zu Protokoll.
Die eindrucksvollsten dieser «Zeugnisse» werden häppchenweise als «authentische» Geschichtsgeschichten in die allfälligen Features über «Hitlers Helfer», «Hitlers Kinder», «Hitlers Frauen» und über die Vertriebenen einmontiert - womit die Leidenserzählungen der Deutschen beiläufig und beinahe unbemerkt wieder in das offizielle Erinnerungsinventar der Bundesrepublik eingefügt wurden. Bei all dem wird überdies der Eindruck vermittelt, die Erinnerungen eines ehemaligen Panzermannes der Waffen-SS hätten dasselbe Gewicht und die gleiche Dignität wie die Ausführungen des einen oder anderen Historikers, der scheinbar zufällig in derselben Sendung auch vorkommt.
So wenig der Umstand Beachtung fand, dass plötzlich wieder massenmedial vom Leiden der deutschen Bevölkerung unter Krieg, Bombardierung, Verfolgung und Vertreibung gesprochen werden konnte, so wenig wurde registriert, dass sich ungefähr zur selben Zeit ausgerechnet auf Seiten sich als kritisch verstehender Wissenschaften ein analoger Vorgang vollzog, und zwar unter dem Vorzeichen des «kollektiven Traumas». Der ursprünglich eng definierte und klinisch verstandene Begriff des Traumas war lange Zeit für die Beschreibung der psychischen Folgen reserviert, unter denen Gewaltopfer - und nicht zuletzt die überlebenden Opfer des Holocaust - zu leiden hatten. Die psychischen Probleme zurückgekehrter Vietnamveteranen liessen es dann in den siebziger und achtziger Jahren zunehmend sinnvoll erscheinen, auch Gewalttäter in den Kategorien des Traumas zu beschreiben. Allerdings wäre damals noch niemand auf die Idee gekommen, solche Kategorien auch auf nationalsozialistische Massenmörder oder gar auf Schreibtischtäter anzuwenden.





Armer Martin Walser

Warst ein paar Monate zu früh dran.