Schon klar, das folgende lange Zitat ist nicht wenig naiv, und beim Abtippen wollte ich oft dazwischenblöken, vom besseren Wissen zum Blöken angestachelt, wie es mir oft geschieht. Andererseits hat es mich traurig gestimmt, dass 30 Jahre später kein etablierter Schriftsteller solche Sätze schreiben, kein Film so beginnen, keiner solche Sätze anders als zynisch kommentieren, kein öffentlich-rechtlicher Fernsehsender einen Film, der so begänne, in Auftrag geben könnte. Die Zeiten sind nicht danach, sie zwingen niemanden zu solchen Sätzen. Und das kommt mir heute abend wie ein Verlust vor.

Die Sätze übrigens stammen aus Peter Handkes "Chronik der laufenden Ereignisse", einem Script für einen Fernsehfilm, der 1971 vom WDR ausgestrahlt wurde. Für 3 € am Samstag geschossen, zusammen mit Hilde Spiels "Dämonie der Gemütlichkeit", ein Titel immerhin, der zu den Zeiten besser passt.

Jetzt erscheint auf dem dunklen Bild ein Rolltitel:
"1969. Alles ist im Umbruch begriffen. Kein Wert mehr wird als gesichert betrachtet, keine Ordnung mehr gilt als endgültig. Alle Vorstellungen von Gut und Böse, Recht und Unrecht, Wahr und Unwahr sind über den Haufen geworfen. Keiner mehr ist seiner Sache sicher. Eine heilsame Verwirrung hat überall eingesetzt und jedermann nachdenklich gemacht. Verstört beginnt man sich allerorten zu fragen, wie man denn leben solle.
Das Problem, wie man die Verhältnisse zueinander neu ordnen könne, geht an niemand vorbei; es beschäftigt die Menschen in den Betrieben, in den Büros, in den Warenhäusern: kaum einer von ihnen kann sich der Überzeugungskraft der neuen Ideen entziehen. Etwas muß geschehen! ist die übereinstimmende Auffassung; was aber geschehen muß, darüber wird allenthalben nachgedacht, und die Ergebnisse werden in nie gekannter Offenheit diskutiert und in Dialogen, die von allen Seiten - Lohnabhängigen und Lohnunabhängigen, Bemittelten und minder Bemittelten, Oben und Unten - mit der gleichen Einsicht in die Notwendigkeit veranstaltet werden, miteinander abgestimmt.
Mit brennender Sorge arbeiten die offiziellen Stellen an Plänen für eine gerechte Aufteilung von Kapital, Grund und Boden, Aufwand der Arbeitskraft, und damit auch an einer gerechten Aufteilung von Gedanken, Schmerzen und Freude. Jeder ist für jedermann offen. Immer mehr Individuen erkennen die Ursache ihres Unmuts, ihrer Alpträume; immer mehr Individuen verlieren die Scham, einander Fragen zu stellen; immer mehr Individuen erkennen an sich ein Bedürfnis, durch Fragen die Voraussetzung dafür zu schaffen, daß die Verhältnisse neu geordnet werden.
Wie also soll man leben? Wie miteinander leben? Wie einander und sich selbst lebend ein Bedürfnis sein? Wie falsche Bedürfnisse durchschauen? Wie echte Bedürfnisse erkennen? Wie die Schmerzen so im Gleichgewicht halten, daß sie notwendig zur Entstehung der Freude gehören? Und wie die Freude so im Gleichgewicht halten, daß sie nicht übermäßg schmerzhaft wird? Und wie Schmerzen und Freude so im Gleichgewicht halten, daß sie nicht beide die Gedanken verhindern? Und wie die Gedanken so im Gleichgewicht halten, daß sie gerade so schmerzhaft sind, daß man sich an ihnen gerade so freuen kann, daß man sie weiterdenken möchte? Wie soll man leben?"
Als der Rolltitel verschwunden ist, setzt sofort erregte Musik ein...






Schon klar, dass das nicht hierhergehört.

Aber nichts hätte ich jetzt besser brauchen können als diese vom lieben Praschl überbrachte kostbarkeit vom Handke. Gross.


merkwürdige koinzidenz: ich habe den text von handke auch am samstag gelesen und, wie du, teilweise abgetippt, zumindest den vorletzten absatz. strange


hm.

wirklich beeindruckende sätze, die handke da geschrieben hat, anno 69 oder so. da verzeiht man ihm glatt paar hundert jahre lang die kommenden selbstepigonalitätsergüsse und autoplagiarismen des 14. aufgusses vom 14. aufguss.

musste auch sofort mein exemplar herauskramen - aber: bin ich dumm, oder was? ich find die passage gar nicht?

habt ihr eine andere version als ich? nicht st 3?

auf welcher seite findet sich den das?


wenn es weiter nichts ist.

von vorne lesen hilft. st 3, kapitel 1, p. 8f. das wort ergüsse steht bei mir auf dem index. ich befürchte, hier hätten andere zu verzeihen.