Ja sicher, es ist so leicht, die aktuellen Aufgeregtheiten der Lumpenbourgeoisie zu dechiffrieren, ihren Putschismus, ihre Sehnsucht nach dem paternalistischen Führerstaat, in dem der Führer die Untertanenkinder nicht belügt, ihr profundes Unverständnis dessen, was Politik überhaupt ist, ihre Bereitschaft, für ein paar Cents Handelsspanne jederzeit Massenarmut in Kauf zu nehmen. Kein Problem, das zu lesen, da tarnt sich nichts mehr, die Leute reißen ihre Fassaden ja selber ein.

Nur: Was hätten wir dem entgegenzusetzen? Unsere eigene Muffigkeit? Mehr nicht?






Kann man nicht sagen. Es geht zunächst darum, international soziale Mindeststandards durchzusetzen, analog zu WTO und dergleichen. Das ist natürlich unsexy und wird speziell bei uns eine Menge von Produkten verteuern. Davor stehen natürlich zahlreiche Probleme. Vor allem aber ist es einfacher, ein Framework aufzubauen, als Handelsschranken einzureissen. Aber schon letzteres war alles andere als trivial.



Perspektive herstellen. Bestimmte Fragen fragbar halten. Führt das Handeln einer gesellschaftlichen Kraft zur Verfestigung von Herrschaft (einer Minderheit über eine Mehrheit), oder ist sie geeignet, sie aufzuweichen oder gar abzuschaffen? Wie hält man es mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln? Was ist ein Produktionsmittel? Welche Hierarchien entstehen geplant oder ungeplant schon in der Vorbereitung der angestrebten gesellschaftlichen Veränderung? Wird das Geschlechterverhältnis zumindest reflektiert? Sind Kinder Rohmaterial, oder doch echte Menschen? Enthält das entsprechende Gesellschaftsmodell ein Wachstums- und Verteilungskonzept des gesellschaftlichen Reichtums, das notwendigerweise eine Überstrapazierung natürlicher Ressourcen zur Folge hat? Stellt sich die zugehörige Theorie der Komplexität unserer Welt, oder versucht sie gewaltsam, alles einfacher zu machen als möglich?

Es ist eine Aufgabe, diesen Fragen ein Gewand zu geben, das viele zumindest anprobieren wollen.

Keine Lösungen meiner Meinung nach: "Verfassungspatriotismus" oder die Glorifizierung eines Status Quo, aus dem der gegenwärtige Mist erst erwachsen ist.


Was die Themen betrifft, auch jene Herrn Hacks: einverstanden, obwohl ich das eine oder andere anders formulieren würde. Wahrscheinlich bin ich wieder einmal zu elliptisch gewesen. Die Frage, was "wir" dem Gezeter der Lumpenbourgeoisie (oder dem "Aufstand der Deppen", wie die die dieswöchige Jungle World titelt) entgegenhalten können, hat sich gar nicht so sehr auf Themen bezogen als auf die, nennen wir es mal so: Art der Propaganda, den Vortrag. Mir kommt es zunehmend so vor, dass fast nur noch der Modus der Tobsucht, des Skandalisierens, des Brabbelns so etwas wie öffentliche Macht erobern kann, das Generve, das den Gegner so mürbe und müde macht, bis er endlich erschöpft aufgibt. Diese Sprechweise, eh klar, verbietet sich für jede linke Position (obwohl das ziemlich viele Linke leider nicht begreifen), damit kann man nun mal Aufklärung darüber, wie die Maschine funktioniert, nicht befördern. Andererseits: man will ja nicht bloß der öde Dokumentarist bleiben, der man als Linker schnell wird. Den Herrschaften, die da gerade den Klassenkampf verschärfen wollen, immer nur vorzuhalten, was wirklich passiert, wer wieviel zahlt, wer wie wenig zahlt, wer verarmt und zu wessen Gunsten die Rotgrünen all die letzten Jahre entschieden haben, wäre zwar richtig, aber eigentlich doch nur faktenhuberisches Querulantentum. Die andere, sehr häufig, auch von mir bewusstlos gewählte Option: Muffigkeit. Womit man aber, fürchte ich, niemanden davon überzeugen könnte, dass man etwas davon haben könnte, da nicht mitmachen zu wollen, wo das nicht erst hingeht, sondern längst schon ist.


Totgesagte leben länger. Es ist das Vermittlungsproblem. Aber der Begriff ist so muffig, den läßt man lieber stecken.


Das ist gar nicht so problematisch. Gestern haben wir uns hier Ausschnitte aus der Haushaltsdebatte angesehen. Angelausch des Gekeifes von Angela Merkel und jedwedem Fehlen irgendwelcher Vorschläge, wie denn die derzeitigen Probleme zu bewältigen wären, wird sich jeder mit Grausen abwenden. Das heisst konkret: Auch die Gegenseite disqualifiziert sich selbst. Ich wäre erstmal für die Synchronisation sämtlicher Landtagswahlen. Dann wäre dieser ewige Wahlkampf mal etwas abgebremst. Weiterhin wäre es nicht schlecht, den Bundesrat in seiner jetzigen Form abzuschaffen und durch plebiszitäre Elemente auf Landesebene zu ersetzen. Der Bundesrat war früher sinnvoll, aber jetzt, da es noch zusätzlich eine europäische Machtebene gibt, ist er es nicht mehr. Man verzettelt sich nur noch. Dafür könnten die Länder dagegen mehr Budgethoheit erhalten.


Institutionelle Phantasie ist o.k., reicht aber nicht. Ich empfehle in diesem Zusammenhang (ich weiß, ich hab's schon oft getan) Christoph Spehrs Aliens.


Jedes System wird an dem nie enden wollenden Feinjustieren der administrativen und regulativen Institutionen zu knabbern haben. Ein freudloser, hässlicher Job. Moderne Gesellschaft ohne Bürokratie wird es nicht geben. Jede Problemlösung wird also irgendwie unglamourös daherkommen. Tatsächlich werden täglich Unmengen an wichtigen Problemen gelöst. Das fasziniert mich noch mehr als das partielle Scheitern.


ad bundesrat: den sinn von föderalismus habe ich - abgesehen von den sehr verständlichen nachkriegserwägungen - als immigrant eh nie kapiert. fördert, scheint mir, nur die regionale engstirnigkeit. plebiszitäre elemente: wozu? damit herr koch wieder mal unterschriften für die integration sammelt? freudlosigkeit, bürokratie, unglamourösität: ja natürlich. trouble is: über die zwecke von all dem müsste man halt zwischendrin wieder nachdenken und debattieren, da wird gerade jede menge sozusagen umgewidmet...


Föderalismus ist schon OK. Die regionale Engstirnigkeit verschwindet nämlich nicht mit Einführung eines zentralistischen Systems. Wenn es ganz besonders dumm läuft, dann kommen dabei Dinge wie die IRA oder die ETA raus. Die Briten und Franzosen probieren ja mit Föderalismus herum, zur Zeit. Plebiszitäre Elemente auf lokaler oder regionaler Ebene können durchaus sinnvoll sein. In der Schweiz wird so das politische System stabilisiert und die Umfragen funktionieren eben nicht immer so, wie ein Koch oder ein Blocher oder wer auch immer es wollen. Im Gegenteil: Meistens werden die populistischen Forderungen als Gebrüll einer Minderheit entlarvt.

Was ich meine: Es ist langweilig, für ein System zu kämpfen, das wirklich funktionieren könnte, weil ein solches System unglaublich langweilig wäre. Die meisten Revolutionsschwafler wollen aber den grossen Umsturz und viel Theaterdonner.


Sagen wir so: den Theaterdonner bekommt man bei einer Revolution gratis, ebenso wie die Barrikaden, Heldenmut, Fahnenmeere und leider auch allzuoft Schauprozesse und "Säuberungen". Die Frage ist: Geht es auch anders? Wenn nicht: Lohnt sich das? Und: Wer entscheidet das?


Seltsam: In letzter Zeit habe ich auch viel über Revolution nachgedacht; in der Sartre-Biografie von BHL gelesen, die Sperber-Memoiren, den zweiten Band der Dits et écrits von Foucault mit seinen Arbeiten in der ersten Hälfte der 70er, Fanon wieder zu lesen begonnen, immer wieder von unangenehmsten Erinnerungen an die Maoisten heimgesucht worden, die kennenzulernen ich das Pech hatte und die sich mitten im Österreich der 70er schon mal überlegten, wer nach der (natürlich unmittelbar bevorstehenden) Revolution aufgeknüpft werden müsste. Was mich betrifft: ich bin immer zu guterzogen, zu autistisch, zu angeekelt von Tribunalen usw. gewesen, habe immer zu viele Sympathien für ein Bürgertum gehabt, das es eh leider nicht mehr gibt, als dass ich den revolutionären Fantasien irgendetwas abgewinnen könnte. Was aber nichts ausmacht: Revolutionen pflegen glücklicherweise nicht auf Kommando loszugehen, sondern weil "die Wirklichkeit" sie auf die Tagesordnung setzt, also muss man eh nicht drüber nachdenken. Ich weiß bloß, dass mir Heldenmut & Fahnenmeere auf die Nerven gehen und dass eine Veranstaltung, die sich zu Säuberungen und Schauprozessen erniedrigt, eine ist, an der ich lieber als Gesäuberter und Angeklagter teilnehmen möchte denn als Berija.


Das mit den Fahnenmeeren und dem Heldenmut und erst recht mit den Säuberungen war mir auch immer sehr suspekt. Wenn diejenigen, welche gegen die vorherrschenden Machtverhältnisse kämpfen (wegen der damit verbundenen Mißstände und Unmenschlichkeiten), sich nach der Revolution direkt dermassen von ihrer neu gewonnenen Macht korrumpieren lassen und sich selbst zu Hinrichtungen etc. hinreissen lassen... nein danke. Aber damit es anders funktioniert, müssen die meisten Linken nach meiner erfahrung eine entscheidende Sache lernen: Man muss dahin gehen, wo die Leute nicht deiner Meinung sind. Alle Gruppierungen und Szeneleute und so weiter die ich kennengelernt habe, leben in der Regel in ihrem Mikrokosmos in dem sie sich dann immer mit Leuten umgeben, die halt ähnlich ticken. Und um dann mal was zu bewegen, gehen sie demonstrieren, oder machen sonst irgendwelche Aktionen. Dabei bleiben sie den Leuten auf der Strasse ebenso fremd wie diese ihnen fremd sind.



Der Klassiker zum ennui nach der Revolution und der ganzen Hirnverbranntheit, die mit Revolutionen oft im Doppelpack kommt, natürlich immer noch: Büchners Danton.

Zum Thema Vermittlung, und weil ich oben schon von Christoph Spehr die Rede hatte:

Welcome to the Dark Side

Gegenöffentlichkeit und linke Perspektiven

Warum ist das Flurgespräch immer interessanter als der Vortrag? Warum haben wir es eiliger, in die Caféteria zu kommen, als in den Hörsaal? Warum ist das Bestellen des neuen Eminem-T-Shirts wichtiger als eine Stunde Sozialkunde-Unterricht? Ganz klar: weil hier Gegenöffentlichkeit am Werk ist. Gegenöffentlichkeit ist die andere, die nicht vorgesehene Öffentlichkeit; gleichzeitig ist sie aber auch ein politisches Projekt. Schon in den 60ern forderten die Einen "Enteignet Springer!", während die Anderen alternative Radios bauten. Wieder Andere begannen, die subversiven Botschaften in der Popkultur zu lesen, während Adorno-LeserInnen damals wie heute abwinkten: hat eh keinen Zweck! Was sind heute die Perspektiven von Gegenöffentlichkeit? Und was hat Anita Hall mit Star Wars zu tun?

Vortrag: Christoph Spehr

Mittwoch, 11. Dezember 2002, 20.00 h Uni Tübingen, Neue Aula, Wilhelmstraße, Hörsaal 2 Eine Veranstaltung des Rosa-Luxemburg-Club an der Universität Tübingen

@praschl

Revolutionen pflegen glücklicherweise nicht auf Kommando loszugehen, sondern weil "die Wirklichkeit" sie auf die Tagesordnung setzt, also muss man eh nicht drüber nachdenken.

Dafür liest du aber eine Menge Material dazu, daß du da drüber nicht nachdenkst.

@mama

Dabei bleiben sie den Leuten auf der Strasse ebenso fremd wie diese ihnen fremd sind.

Noch schlimmer: Sie bleiben sich selbst und ihresgleichen fremd. Einer der Hauptgründe, weswegen das für mich nicht mehr ging.


@MH: na ja, ich lese, was ich da lese, ja nicht, weil ich mir davon irgendetwas verspräche, was mit revolutionärem zu tun hat. war nur erstaunlich massiv in den letzten büchern, weil sie mit 68 pp. (im falle sartres und foucaults) zu tun hatten usw. das motiv, das alles gerade jetzt zu lesen & wiederzulesen, ist bei mir eher ein bedürfnis, wieder eine größere thematische weite in den kopf zu bekommen, was leftism betrifft; die halbdebatten, die derzeit geführt werden, sind manchmal doch sehr verengt und verbissen. und wie das dann so ist: eines führt zum anderen und man liest sich plötzlich wieder fest und merkt, wie verdammt gut und elektrisierend manche texte gewesen sind, die sartre und foucault geschrieben haben. und zwischendrin dann wieder so leichte befremdungsschocks; in den foucault schriften (vol 2.) z.bsp. ein dreiergespräch mit 2 maos (der eine davon glucksmann, den ich immer schon zu recht verachtet habe) über "volksjustiz", wo dann natürlich auch schon übers bestrafen fantasiert wird (während foucault himself standhaft die form des tribunals selbst ablehnt), na ja.