Gerade über folgende Passage gestolpert [aus: "Der Kapitalismus ist senil geworden". Ein Gespräch mit Samir Amin und Michael Hardt.]

L &W: Michael, Du scheinst eher geneigt, die Qualitäten des Anti-Nationalismus zu betonen.

MH: Absolut. Benedict Anderson hat dieses Schlagwort von der Nation als imaginierter Gemeinschaft geprägt. Leider ist die Nation mitunter die einzige Gemeinschaft, die die Menschen sich vorstellen können, wohingegen ich denke, daß es andere Möglichkeiten gibt, Kollektivitäten zu konstruieren. Der Einwurf, man möchte ja einerseits gegen alle Arten von Nationalismus kämpfen, die einzigen Alternativen seien jedoch ein islamistischer Internationalismus oder ein Internationalismus des neoliberalen Kapitals, dann halte ich dagegen, daß die Nation dennoch nicht der einzige andere Lokus der Identität ist und eine andere Alternative gefunden werden kann.

SA: Klasse ist eine andere.

MH: Klasse ist sicherlich eine.

SA: Und hoffentlich einflußreicher als Nation. Anderson hat recht, wenn er sagt, die Nation ist eine imaginierte Gemeinschaft, aber einmal imaginiert, wird aus ihr eine reale Gemeinschaft.

MH: Zeugt es nicht von einer Armut der Phantasie, wenn das die einzige Gemeinschaft ist, die wir uns vorstellen können?

Mich gleich gefragt, ob es nicht der Denkfehler von, sagen wir mal: Sozialisten ist (deren Gemeinschaft ich mich als zugehörig imaginiere, auch wenn sie meistens eher einem Narrenhaus oder einem Distinktions-Wettbewerb oder einer Mensa, in der es immer nur Stammessen 3 gibt, gleicht als dem, was ich mir gerne nach Hause einlade), genau das zu wollen: sich eine Gemeinschaft vorzustellen, für deren Glücksvermehrung der Sozialismus in Gang gesetzt wird? Kann man denn nicht auch aus rein egoistischen Gründen Sozialist sein? Ich bilde mir ein, dass das erstens ginge, dass es zweitens entspannter und drittens vernünftiger wäre, aber ich habe noch nicht sehr gründlich darüber nachgedacht.






nein,

das ist verpoent. das gute fuer die (imaginierten) anderen zu wollen, ist irgendwie heldenhaft. ausserdem kann man dann all die abstriche machen, die man fuer sich selber nicht machen will.


Ich bin aus durch und durch handfesten egoistischen Gründen links.


ich ja auch, aber ich habe schuldgefühle dabei.


Ich nicht. Bin allerdings auch kein Anhänger dieser Adam-Smith-Theorie, dass alles gut wird, wenn alle nur immer an sich selbst denken. Strategien, die auf Selbstaufgabe zielen, werden aber niemals funktionieren. Daher ist es angebracht, Strategien zu entwickeln, die auf Empathie abzielen.


Ich nehme an, man kann schon aus rein egoistischen Gründen Sozialist sein, aber der Sozialismus als gesellschaftsbezogenes Denken und gesellschaftsbezogene Praxis wird wohl nicht ohne Gesellschaftsutopie auskommen können. In der derzeitigen Situation kann man vermutlich sogar sehr gut und sehr lang Egosozi sein, weil der Punkt, an dem dann notgedrungen Spannungen zwischen Selbst & Utopie auftreten müssen, zeitlich nicht in Sichtweite ist.


Hm. Ich sehe das eher als Debugging-Prozess. Man lokalisiert Dysfunktionalitäten und versucht, diese zu korrigieren. Gewicht und Gegengewicht. Endgültige Lösungen gibt es nicht.


nun ja, das eine und das andere schließen einander nicht aus. eine gesellschaftsutopie könnte zum beispiel darin bestehen, dass sozialismus jene organisation von gesellschaft ist, in der endlich alle egoist sein können. was natürlich wiederum eine auffassung von menschen voraussetzt, die nicht davon ausgeht, dass dann in allen ausgerechnet das bedürfnis zu toben beginnt, andere auszubeuten oder zu übertrumpfen oder was es da sonst noch alles an angeblich anthropologischen konstanten gibt. sozialismus wäre dann so etwas wie die vernünftige organisation von egoismen - anstatt die unvernünftige.


Sie sprechen in Rätseln, Mr. gH. Welche Dysfunktionalitäten? Von wem? Zusatz: "aus x-artigen Gründen Sozialist sein" ist ja eine mehrdeutige Ausdrucksweise. Gibt man damit Ursachen oder Zwecke/Ziele an? (Sowas hatten wir hier schon mal bei Palästinensern und ihrem freien Willen.)


in diesem fall meinte ich zwecke.


Hm. Muss man heute noch Sozialismus mit Kollektivismus gleichsetzen? Ich schätze, heute geht der linke Konsens eher in die Richtung, allen Mitgliedern einer Gesellschaft (mir wäre lieber: der Weltgesellschaft) eine solide materielle Basis zu verschaffen, die den Individuen grösstmögliche Bewegungsfreiheit im Sinne des kategorischen Imperativ verschafft. Wie immer man da auch hinkommen möchte.

Ms. K.: Ich bin unter anderem deswegen egoistisch links, weil ich Bewegungsfreiheit für sehr wichtig halte. Die Taktiken der Rechten führen immer zu Ghettobildung, zu Compounds, zu Abschottung. Wo bleibt da die Lebensqualität? Da muss man debuggen.


das ist dann wohl eine frage dessen, was man mit egoismus verbindet. versteht man darunter die haltung, eigennutz in jedem fall über gemeinnutz zu stellen, spießt sich's mit dem sozialismus wohl eher deftig, es sei denn, man könne garantieren, das jeder seinen eigennutz daran sieht, sich gegebenenfalls zurückzuhalten, sobald es um gemeinnutz geht, womit man, wie du richtig sagst, bei anthropologien landet. "vernünftige organisation von egoismen" wäre dann schon als ausdruck recht merkwürdig. entweder die menschen sind eh egoismustechnisch ungefährlich (weil anthropologische konstanten wie ausbeuterwille usw. sich als pseudokonstanten erweisen und der mensch gut ist), aber dann braucht's auch keine vernünftige organisation. oder sie sind egoismustechnisch gefährlich, dann klingt aber "vernünftige organisation" schon wie resignative kollateralschadenminimierung. katastrophenvermeidung anstelle von realitätsverbesserung. sandsäcke anstelle von auwäldern. wo dann noch sozialismus platz hätte, kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen.


Es ist wichtig, welche Prioritäten gesetzt werden. Wenn es mir nichts ausmacht, in einem Compound zu leben und aussenrum die Leute verrecken zu sehen, dann kann ich ruhig rechte Politik unterstützen. Wenn mir Bewegungsfreiheit wichtig ist, dann muss ich anders handeln.


@gH

Wer sprach von Kollektivismus? Gesellschaftsbezogenes Denken ist ja nicht per se Kollektivismus. Auch eine Gesellschaftsutopie zu haben ist nicht Kollektivismus, wie die Utopie "alle Gesellschaftsmitglieder sollen eine solide materielle Basis haben" ja eh illustriert. Die Haltung "alle sollen eine solide materielle Basis haben, und ich finde das deswegen gut, weil 'alle' ja auch mich miteinschließt und das für mich gut ist" würde ich übrigens nicht als egoistisch betrachten. Egoistisch wäre "ich will eine solide materielle Basis haben, und was mit den anderen ist, kümmert mich nicht".


die vernunft in der "vernünftigen organisation von egoismen" bestünde darin, egoismen so aufeinander zu beziehen, dass der eine egoismus dem anderen egoismus, vermittelt durch das system, nicht schadet - was ja in einer kapitalistischen ökonomie (nicht immer, aber sehr häufig) der fall ist. für resignativ halte ich das nicht, eher sogar im gegenteil: eine solche überlegung nimmt die existenz von egoismen zur kenntnis, ohne sie moralisch bewerten zu wollen, und macht sich gedanken darüber, wie man die partikularen interessen so miteinander vermitteln kann, dass alle (also jeder egoismus) möglichst viel davon haben kann. auch wenn menschen egoismustechnisch ungefährlich sind (eine auffassung, der ich zuneige), muss man die egoismen ja - weil es viele davon gibt, weil es arbeitsteilung gibt usw. - organisieren, und das kann man eher vernünftig oder unvernünftig tun. "vernünftig" heißt in diesem fall: so, dass möglichst viel nutzen für möglichst viele entsteht und möglichst wenig schaden als nebeneffekt anfällt. "unvernünftig" hieße: man vertraut darauf, dass in der konkurrenz der egoismen so etwas wie eine allgemeine vernunft sich durchsetzt (yeah, right....)

von egoismen auszugehen heißt übrigens nicht, dass man ein "wir alle" nicht mehr denken könnte. gegen auwälder ließe sich aus dieser position weniger einwenden als gegen sandsackschleppenmüssen: auwälder sind haltbarer, effektiver, schöner, machen allen egoismen weniger arbeit usw.


Die heftige Einschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit durch kurzsichtiges egoistisches Handeln gehört zu den Opportunitätskosten, die von den Leuten nicht in ihr Handeln einberechnet werden. Das erinnert mich an die Typen, die aus der Innerschweiz mit dem Auto nach Deutschland fahren, um beim Aldi billige Lebensmittel zu kaufen, und dabei in den Preis der "Schnäppchen" weder die Kosten für Kraftstoff noch die Fahrzeit einberechnen.


@praschl

aber ist nicht das, was du als "egoismen" bezeichnest, schlicht ein partikularinteresse? so besehen ist gegen das, was du ausführst, nichts einzuwenden. allerdings finde ich das einen reichlich merkwürdigen sprachgebrauch. egoismus ist doch wohl eine extreme, überzogene haltung in bezug auf das eigene selbst, die über das hinausgeht, was man als akzeptables interesse an selbsterhaltung und -entwicklung betrachtet, oder? so besehen wäre die forderung, zwischen egoismen vernünftig zu vermitteln und ihre existenz anzuerkennen, analog zur politischen forderung danach, zwischen rechtsextremen und dem rest der welt vernünftig zu vermitteln, anstatt dem rechtsextremismus den garaus zu machen - verstehende egoismenarbeit halt. das meinte ich mit resignativ.


@katatonik

vermutlich hast Du recht, wie immer. ich hab´s halt als gegensatzbegriff zum altruismus eingeführt, ohne an dosierungen zu denken, ausgehend von diesem zitat, in dem darüber gerätselt wird, welche gemeinschaft man sich vorstellen sollte als horizont politischer handlungen.


ja, is mir dann auch noch eingefallen: kontrast egoismus-altruismus. natürlich kann man auch von der begriffsopposition ausgehen und sagen, vernünftiges selbstinteresse, das sich mit gemeininteresse deckt, ist kein selbstinteresse im sinn eines egoismus, sondern nur gemeininteresse, das sich in einem individuum manifestiert; unvernünftiges selbstinteresse wäre egoismus. es wird zeit, das gemeine absatzinteresse österreichischer weinbauern zu fördern, das sich zufällig gerade in mir manifestiert.


das sich im individuum manifestierende vernünftige selbstinteresse kommt mir dann aber doch sehr hegelianisch weltgeistmäßig vor - was mich aber nicht besonders stört.

was die weinbauern in niederösterreich betrifft: haben die eigentlich unter dem regen und der flut auch so bitter gelitten?


in einer pressekonferenz letzte woche sagte ein kamptaler weinbauernobmann, dass es ihm leid täte, aber tatsächlich wäre der viele regen für die weinernte sogar sehr gut gewesen. (ersetze "sich in individuum manifestierendes interese" durch "sich mit partiularinteresse deckendes gemeininteresse", und schon wird aus dem schweren hegel südhang 1791 ein leichtfüßiger eagleton westhang 2001.)


Bah.

Das einzige das mich interessiert, ist ob die menschen danach leben oder nicht.

Aber die meisten die ich kenne und die von Sozialismus oder sonst einer besseren Welt traeumen, nerven mich dauernd mit den Sachen die sie mir "geliehen" (ha !) haben. Aber ich habe auch Freunde.

"Bessere Welt, innere Werte, aber nich bei mir anfangen bitte."

ps: Jeder darf darauf zaehlen seinen Besitz von mir unbeschadet zurueckzubekommen.