Eine der sympathischsten Gestalten, die das alte Europa vor seinem Untergang im Gefrierschrank der Populärkultur deponiert hat, ist sicher der Pariser Bohémien: Unendlich rechthaberisch, spastisch im Denken wie in der Gestik, unterernährt und übernächtigt, geistert er als «Märtyrer der Konsumgesellschaft» durch das Bewusstsein der Literatur und des Films. Unverdrossen verteidigt er seinen kunsthandwerklichen Anspruch ans Leben und setzt dem kulturellen Kaufzwang das Abziehbild künstlerischer Heimproduktion entgegen.

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Schlag auf Schlag wird Antoine «Teil des Grossen und Ganzen». Die abgezirkelte Geographie des Bohémienlebens zwischen isländischem Spezialitätenrestaurant und besserwisserischem Freundeskreis weicht den Kulissen dessen, worunter sich Page die vollendete Idiotie vorstellt. Medikamentös ermutigt, dringt er «in den Hühnerhof der Bourgeoisie ein, der nach Moschus duftete und nach gesellschaftlicher Überlegenheit». Poster von Sportwagen, «jungen Frauen von sinnlicher Üppigkeit» und «unsterblichen Intellektuellen wie Alain Finkielkraut» lösen die Miyazaki-Gemälde ab; der Körper wird im Fitnessstudio gestählt, das Geld im Investmentbüro verdient. Als er in einer Art virtuellem coup de dés Millionär wird - er kippt seinen Kaffee in die Tastatur des Hauptcomputers, der Kurzschluss führt zu «genialen Finanzoperationen» -, scheint das Glück perfekt.

Die Neue Zürcher über Martin Pages Roman Antoine oder die Idiotie. Aus dem Französischen von Moshe Kahn. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2002. 135 S., Fr. 28.30.






yeh

könnte mir vorstellen, dass die Rezension von Milo Rau besser ist, als der Roman. So eine Schreibkraft ist mir lange nicht mehr untergekommen. Danke für den Hinweis!