unverkrampft
[bürgertum, nation, deutsch, nationalkultur, hamburger philharmonie, neue bürgerlichkeit, blablabla]
"unverkrampft" ist das neue "gutmensch"
glaube ich nicht. gutmensch war immer als beleidigung gedacht. unverkrampftheit attestiert sich das neue bürgertum selbst, verdächtigt sich dabei des fortschritts und ist dabei so strunzdämlich deutsch, dass man angstkrämpfe davon bekommt. ich glaube, es gibt keine andere nation auf dieser welt, die sich selbst ständig für verkrampft hält und ständig darauf aus ist, sich endlich zu entkrampfen. als ob entkrampfung etwas zivilisatorisches wäre. im spiegel von heute haben sie aus dem umstand, dass ein paar millionäre und viele kleinspender viel geld für eine neue philharmonie herausgetan haben (in der dann doch wieder nur die bürgerliche musik verhöhnt und vernichtet und zu einem event gemacht werden wird), eine lange, ganz unverkrampft vor sich hin delirierende epistel über la nouvelle bourgeoisie und ihre neue unverkrampftheit gemacht, die doch wieder nur auf diese "jetzt gönnen wir uns mal was"-stupiditäten hinausläuft. auch so entsetzlich in diesen letzten zwei, drei jahren der berliner republik: dass sie (spiegel, cicero, welt und der ganze restliche müll) einem immer wieder dasselbe hineindreschen wollen, friss es endlich, glaub es endlich, auf immer dürftigeren fakten.
("da steckt mehr drin in dem thema, siehst du das nicht, lass uns doch mal was über die renaissance des bürgertums machen". oh mann.)
Apo 2.0
"Bürger, laß das Glotzen sein, komm' heruter, log Dich ein!"
Es fällt ihnen nichts ein, obwohl sie doch all das Geld haben. Der letzte Impuls war noch diese lasche Abrechnung der Bubis (Generation Köppel) mit den 68ern. Seither kommt nichts, ausser irgendwelchen Zumutungen, die sie sich für Wehrlose einfallen lassen. Unter ähnlichen kulturellen Umständen muss wohl Heinrich Mann den "Untertan" geschrieben haben.
Es fällt ihnen nichts ein, weil es imho das neue bürgertum gar nicht gibt, da eine ganze menge der einst mit dem bürgertum verbundenen privilegien weggefallen sind
Ich kann mich in Wolfram Weimer nicht mal ansatzweise reindenken. Es fiele mir leichter, einen Tentakel von Omikron Beta zu verstehen.
Nein, eher sowas wie Mörtel und Mausi minus unterhaltsamem Wahnsinn.
das lustige (und erbärmliche) daran ist, dass dieses neue bürgertum sich erst dadurch konstituiert, dass man den leuten in 101 wams-spiegel-cicero-weltwoche-schulterklopf-artikeln hineinsagt, dass es eines gibt. die typen wollen einen neuen stamm aufmachen, so wie es früher der von ihnen verachtete zeitgeist-magazin-journalismus getan hat, für den sie immer zu jung oder zu uncool oder zu peinlich gewesen sind. das neue bürgertum ist natürlich ein kampfbegriff. gegen die linken (was natürlich auch unsäglich lustig und erbärmlich ist, einen kampf gegen leute zu führen, die es gar nicht mehr gibt; geht ja auch nur, weil ihnen niemand mehr widerspricht; muss man auch nicht, man widerspricht ja auch nicht der argumentation eines klingeltons & the like) und gegen den pöbel, den der neue bürger inbrünstig hasst, weil er unansehnlich in der einkaufspassage herumsteht. ich glaube ja, dass viel am journalismus allmähllich zu so einer art gated community wird. und drinnen stehen die bewachten, trinken nicht einmal alkohol und zetern die ganze zeit gegen die typen vor den gates, die ihnen doch eh gar nichts tun wollen.
ich glaube, es gibt keine andere nation auf dieser welt, die sich selbst ständig für verkrampft hält und ständig darauf aus ist, sich endlich zu entkrampfen. allein schon das wort sagt doch alles. gibt es diese vermurkste negation noch in einer anderen sprache? in der leo diskussion werden drei englische übersetzungen genannt. eine lockerer als die andere. relaxed, easy going und laid back.
Dazu passend: Die Selbststilisierung zum irgendwie von einem angeblich linken Mainstream verfolgten Helden der Wahrheit (Köppel, Matussek).
vielleicht hilft ein einlauf, das soll irre entspannend wirken. oder, wie mein arzt sagte: vielleicht muss da einfach nur mal luft ran.
Auch schön doof: Wie sich an dem ganzen Unverkrampf noch der Neid auf eine angebliche Lockerheit der 68er dokumentiert, die von den 68ern schneller aufgegeben wurde, als man "Zentralkomitee" sagen kann. Wie sich diese neuen Bürger noch in ihren unverkrampften Selbstinszenierungen als Loser entlarven, denen der letzte Kiffer was voraus hat.