Kleine Erinnerung an die Vernunft. Wolfgang Pohrt, 1978, "Vernunft und Geschichte bei Marx", der vollständige Text ist hier nachzulesen.

Wenn ich grob einschätzen sollte, wie sich das Verhältnis von  Vernunft und Geschichte bei Marx darstellt, würde ich folgendes  sagen: Das Kapitalverhältnis gilt Marx als notwendiges Übel,  weil ohne seine Errungenschaften offenbar kein Verein freier  Menschen möglich ist.

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Erst unter der Fuchtel des Wertgesetzes fingen die Menschen an,  allgemeinen Reichtum zu produzieren. Dass sie diesen allgemeinen  Reichtum nicht immer schon besessen haben, bleibt für immer  unverständlich, und nur die Religionen haben durch ihren  Schwindel diesen ärgerlichen Blödsinn gerechtfertigt und  begründet.  

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Dass schliesslich kein vernünftigeres Produktionsverhältnis als  ausgerechnet das terroristische, menschenverwüstende Kapital die  Menschen zur Produktion der materiellen Basis eines Vereins  freier Produzenten getrieben hat, ist wiederum eine bittere  Tatsache, die man zwar konstatieren muss, aber doch eigentlich  schlecht begreifen kann. Ich würde deshalb nicht von  weltgeschichtlich unvermeidbaren Dingen sprechen, denn diese  Redeweise setzt eine in der Geschichte waltende Vernunft voraus,  die fast an Vorsehung grenzt.  

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Wenn man die  Geschichte unter die Bestimmungen der Vernunft setzt, darf man  nicht vergessen, dass weder die Geschichte noch ihr  Ausgangspunkt, also die Natur, jemals vernünftig waren. Sie  können dies schon insofern nicht gewesen sein, als die Vernunft  etwas erst spät in der Geschichte Entstandenes ist, und also von  den entlegenen Epochen, die begriffen werden sollen, sehr  verschieden.  

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Die Entstehung des  Kapitalverhältnisses, und das heisst: Die Entstehung von Vernunft  in der Geschichte gehorcht also keiner geschichtlichen Logik,  und dieses Schandmal aller historischen Vernunft, diesen Makel  ihrer erbärmlichen Herkunft, hat Marx stets im Auge behalten,  insofern er unerbittlich darauf bestand, das Kapital logisch aus  seinen Gesetzen, und nicht historisch aus seinen  Entstehungsbedingungen zu begreifen.  

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Wo das Kapitalverhältnis also herkommt, lässt sich nicht sagen,  aber wenn es einmal da ist, wird die Geschichte für einen  Augenblick logisch - freilich nur im Hinblick auf einen Zweck,  der das Kapital bereits transzendiert. Genauer: Die Existenz des  Kapitals eröffnet die Möglichkeit, die Geschichte unter die  Bestimmung der Vernunft zu setzen. Ob diese Möglichkeit von den  Menschen wahrgenommen wird, ist dann allerdings keine logische,  sondern eine praktische Frage. Wenn auf das Kapitalverhältnis  ein Verein freier Menschen folgt, ist es ein Fortschritt  gewesen. Wenn auf das Kapitalverhältnis der Atomkrieg folgt,  wird man es, als Vorstufe dieses Atomkriegs, hingegen kaum als  Fortschritt bezeichnen können. Ohne den Begriff des Fortschritts  aber ist es unmöglich, von Logik in der Geschichte zu sprechen.  Nur wenn man einen Ursprung und ein Ziel schon voraussetzt,  stellt sich Geschichte überhaupt als ein Prozess mit  unterscheidbaren, nämlich in Relation zum Ursprung und zum Ende  verschiedenen Entwicklungsstufen dar, und die Unterscheidung  verschiedener Entwicklungsstufen ist die erste Voraussetzung,  deren zeitliche Abfolge in einen logisch zwingenden Zusammenhang  zu bringen. Logik und Teleologie hängen hier offenbar eng  zusammen.  

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Das Kapital als Vorstufe zu einem Verein  freier Produzenten betrachtet, also diesen Verein freier  Produzenten vorausgesetzt, werden die Lücken und Widersprüche  der politischen Ökonomie begreiflich, und der Widerspruch von  Freiheit und Notwendigkeit im gesellschaftlichen Leben der  Menschen, eine der zentralen Aporien bürgerlichen Denkens, löst  sich materialistisch gewendet dahin auf, dass die freien  Produzenten das Wenige, was zu tun sie noch gezwungen wären,  sehr wohl in freier Übereinkunft regeln könnten und keines über  ihnen schwebenden gesetzmässigen Zusammenhanges mehr bedürften.  Die Voraussetzung dieser theoretischen Auflösung der  Widersprüche der politischen Ökonomie ist aber so wenig eine  logische, wie zuvor die Unfähigkeit zur Auflösung dieser  Widersprüche nicht logisch, sondern real begründet war. Man muss  das Kapital vielmehr abschaffen wollen, wenn man es begreifen  will, und dieser Wille, das Kapital abzuschaffen, hat  seinerseits aussertheoretische Gründe. Über die Kontinuität  zwischen politischer Ökonomie und Kritik der politischen  Ökonomie ist hier wieder der Bruch nicht zu vergessen, und als  Bruch ist hier zu verstehen der Entschluss des revolutionären  Schreibtischsubjekts, sich mit keinen Verhältnissen abfinden zu  wollen, welche den Menschen unterdrücken, ausbeuten, quälen,  verdummen, entmündigen.

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Marx kann zeigen, dass die Logik des Kapitals an inneren  Widersprüchen zerbrechen wird - wobei Voraussetzung dieser Logik  freilich wieder die vorausgesetzte Revolution ist. Wenn auf das  Kapital nicht der Verein freier Produzenten folgt, zerbricht  eigentlich nichts, sondern es bleibt alles beim alten. Die  grossartige Vernunft, unter welche Marx das Kapitalverhältnis  setzt, resultiert nämlich aus dem greifbar gewordenen Telos der  endgültigen Befreiung der Menschheit, nur in Bezug auf diesen  ihren letzten Zweck kann man Vernunft und Widersinn in der  Geschichte unterscheiden. Nicht weniger als die profane Arbeit  hat die historische Arbeit zur Bedingung, dass der Produzent das  Produkt schon im Kopf hatte, bevor er Hand anlegte. Und ebenso  wie die profane Arbeit ist die historische Arbeit stets mit dem  Risiko behaftet, zu misslingen. Wenn aus dem im Kopf  antizipierten Produkt schliesslich kein wirkliches wird und dies  weiss man vorher nie mit letzter Sicherheit - dann war alle Mühe  vertan.  

Folgt also auf das Kapital nicht der Verein freier Produzenten,  so ist es auch kein historischer Fortschritt gewesen, sondern es  landet auf dem Friedhof zwar bemerkenswerter, aber  untergegangener Kulturen, wird aus einem Gegenstand der Kritik  der politischen Ökonomie zu einem Gegenstand der Völkerkunde.  Das diskriminierende Kriterium ist immer, ob eine Epoche zur  Revolution taugt. Wenn nicht, unterscheidet sie sich von allen  anderen nur graduell. Voraussetzung sogar der Unterscheidung von  Kapitalismus und Barbarei ist immer noch die Erwartung der  Revolution. Wenn man sie aufgibt, wird diese Distinktion  hinfällig und weicht einem Kaleidoskop verschiedener  Gesellschaftsformationen und Epochen.  

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Gescheitert ist aber mit der Marxschen Theorie die  vernünftige Begründung der Revolution, und an dieser  vernünftigen Begründung muss man trotz ihres Scheiterns  festhalten, wenn die Menschheit sich in der Revolution  tatsächlich zum Subjekt konstituieren soll, welches mit Willen  und Bewusstsein seine Geschichte macht. Das Scheitern der Theorie  ist der Grund, weshalb man stets wieder auf die Marxsche  zurückgreifen muss. Nach ihr gab es keine mehr.  

Wenn man dies tut, muss man aber sich über die Merkwürdigkeit  dieses Verfahrens Rechenschaft ablegen: Die Vernunft ist so  obsolet geworden, dass man sie nur in Archiven und Bibliotheken  findet.






Tja

Dann doch lieber nicht Marx, sondern Georg Simmel lesen. Am besten gleich beide. Simmel funktioniert aber besser.