Das hier hatte ich schon einmal. Aber das muss jetzt noch einmal sein. Die ersten Sätze von Peter Handkes "Chronik der laufenden Ereignisse", einem Script für einen Fernsehfilm, der 1971 vom WDR ausgestrahlt wurde..
Jetzt erscheint auf dem dunklen Bild ein Rolltitel:
"1969. Alles ist im Umbruch begriffen. Kein Wert mehr wird als gesichert betrachtet, keine Ordnung mehr gilt als endgültig. Alle Vorstellungen von Gut und Böse, Recht und Unrecht, Wahr und Unwahr sind über den Haufen geworfen. Keiner mehr ist seiner Sache sicher. Eine heilsame Verwirrung hat überall eingesetzt und jedermann nachdenklich gemacht. Verstört beginnt man sich allerorten zu fragen, wie man denn leben solle.
Das Problem, wie man die Verhältnisse zueinander neu ordnen könne, geht an niemand vorbei; es beschäftigt die Menschen in den Betrieben, in den Büros, in den Warenhäusern: kaum einer von ihnen kann sich der Überzeugungskraft der neuen Ideen entziehen. Etwas muß geschehen! ist die übereinstimmende Auffassung; was aber geschehen muß, darüber wird allenthalben nachgedacht, und die Ergebnisse werden in nie gekannter Offenheit diskutiert und in Dialogen, die von allen Seiten - Lohnabhängigen und Lohnunabhängigen, Bemittelten und minder Bemittelten, Oben und Unten - mit der gleichen Einsicht in die Notwendigkeit veranstaltet werden, miteinander abgestimmt.
Mit brennender Sorge arbeiten die offiziellen Stellen an Plänen für eine gerechte Aufteilung von Kapital, Grund und Boden, Aufwand der Arbeitskraft, und damit auch an einer gerechten Aufteilung von Gedanken, Schmerzen und Freude. Jeder ist für jedermann offen. Immer mehr Individuen erkennen die Ursache ihres Unmuts, ihrer Alpträume; immer mehr Individuen verlieren die Scham, einander Fragen zu stellen; immer mehr Individuen erkennen an sich ein Bedürfnis, durch Fragen die Voraussetzung dafür zu schaffen, daß die Verhältnisse neu geordnet werden.
Wie also soll man leben? Wie miteinander leben? Wie einander und sich selbst lebend ein Bedürfnis sein? Wie falsche Bedürfnisse durchschauen? Wie echte Bedürfnisse erkennen? Wie die Schmerzen so im Gleichgewicht halten, daß sie notwendig zur Entstehung der Freude gehören? Und wie die Freude so im Gleichgewicht halten, daß sie nicht übermäßg schmerzhaft wird? Und wie Schmerzen und Freude so im Gleichgewicht halten, daß sie nicht beide die Gedanken verhindern? Und wie die Gedanken so im Gleichgewicht halten, daß sie gerade so schmerzhaft sind, daß man sich an ihnen gerade so freuen kann, daß man sie weiterdenken möchte? Wie soll man leben?"
Als der Rolltitel verschwunden ist, setzt sofort erregte Musik ein...
Was siehst Du in diesem Text? Meinst Du, dass er immer noch aktuell ist? "Wie soll man leben" ist ja die klassische Frage (nicht nur) der griechischen Philosophie. Beantworten kann man sie nur von Augenblick zu Augenblick. Dass es dabei um Gleichgewichte geht, um fragile Gleichgewichte, sehe ich auch so. Für einen Handke-Text kommen diese Zeilen überraschend klar daher.
Was ich in diesem Text sehe, kann ich, wie bei jedem anderen literarischen Text, der mir viel bedeutet, nur schwer beantworten - weil Literatur, die mir etwas bedeutet, immer diesen Überschuss hat, der sich in einer Interpretation nicht auflöst. Bei diesem Text mag ich die Dringlichkeit, mit der er spricht und von der er spricht; die Fiktion, eine Gesellschaft entschlösse sich dazu, sich selbst zu verhandeln, mit einer bestimmten Ernsthaftigkeit; ich mag die Verwirrung, von der der Text spricht, die Krisenerfahrung, die er voraussetzt - als eine allgemeine, geteilte Erfahrung; ich mag an diesem Text, wie er die Erfahrung, die man "1968" nennt (der Text beginnt ja mit: 1969) in etwas allgemein Verständliches übersetzt, jenseits des politischen Vokabulars, und wie er dadurch, so kommt es mir jedenfalls vor, viel politischer wird als man es mit einem anderen Vokabular sein könnte; ich mag die Ernsthaftigkeit in diesem Text; ich mag die Unterstellung, das es so etwas wie ein großes gesellschaftliches Palaver geben könnte; ich mag das Utopische daran; ich mag das Naive daran, weil diese Naivetät eine bestimmte Radikalität hat. So ungefähr.
Ob ich diesen Text für aktuell halte? Ja, und wie. Es wäre Zeit für ein großes gesellschaftliches Palaver. Über genau diese Fragen, die dieser Text stellt. Und mit genau dieser Haltung, die dieser Text hat.
Was Handke betrifft, bin ich sehr parteilich. Er ist damals, als ich begann, mich von Literatur umwerfen zu lassen, vor ungefähr 25 Jahren, sehr wichtig für mich gewesen. Unter anderem, weil er mir immer sehr klar vorgekommen ist. Ein paar Texte, die er geschrieben hat - die Laternen auf der Place Vendôme, die Linkshändige Frau, die Kindergeschichte - sind mir immer noch so wichtig, dass ich mich auf eine nüchtern abwägende Diskussion über seine letzten Bücher nicht leicht einlassen kann.
Also:
Gestern habe ich auf dem Weg zum Fotomuseum mal wieder in "Der Mensch in der Revolte" von Albert Camus gelesen. Er stellt in seinem Text den isolierten Dandy dem revoltierenden Menschen in der Gruppe gegenüber und meint, dass die Revolte immer eine Bewegung aufgrund einer Gemeinsamkeit sei. Ausserdem stellt er den Zustand des Religiösen den Zustand der Revolte gegenüber. Man könnte hier argumentieren, dass wir uns im Zustand des religiös-transzendenten Kapitalismus befinden, in dem der Markt alle Fragen beantwortet. Zur Revolte kommt es erst, wenn diese Fragen nicht mehr vom herrschenden transzendenten System beantwortet werden können. Palavert wird schon, aber es ist, folgt man Camus, dandyhaftes Palaver. Isolierte Stimmchen. Es ist noch lange nicht soweit. Soll es "soweit" sein? Man kann nach Argentinien blicken und zusammenzucken. Heute noch reich, morgen metzgert man Nutztiere auf offener Strasse.
dreamteam
- Praschl und Hack diskutieren die Welt g