[personal memoir.] Im Sommer 1994, dem ersten, in dem M. und ich zusammen verreisten, bin ich auch zum ersten Mal in New York gewesen. Wir sind damals gleich nach der Ankunft in JFK nach Long Island hinausgefahren, wir hatten mit Fatima und einer anderen Frau, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnern kann, in Bellport für zwei Wochen ein Sommerhaus gemietet, das mir bis heute als ein Ort des Glücks in Erinnerung geblieben ist mit seiner kleinen Veranda, auf der wir abends saßen, mit zitronisierten Kerzen gegen die Moskitos ankämpfend, mit seinen gräulich verwaschenen Holzböden, mit seinen tiefen Leinensofas, in denen man sich beim Lesen verlor und mit seiner Küche, in der es nur das für den Sommer Nötige gab, angeschlagene Schüsseln und Teller, einen Flaschenöffner, einen Hummertopf, einen Pastatopf, einen großen knackenden Kühlschrank für die Getränke, ein paar Bestecke und einen Satz Hummergabeln, deren Versilberung längst blind geworden war. Die Tage verbrachten wir auf den schon leer gewordenen Stränden von Fire Island, es war nach Labour Day und die New Yorker waren in die Stadt und zu ihren Geschäften zurückgekehrt, ein paar Münzensammler staksten mit ihren Metalldetektoren gegen das diesige Licht des Sunds, ein paar Frauen waren mit ihren Kindern noch dageblieben, um den endlosen Sommer dieses Jahres bis zur Neige auszukosten. Wir fuhren nach Montauk, ans Ende der Insel, einander, "guck doch!", die Schönheiten der Welt fast zubrüllend, nach Shelter Island, wohin unsere Vermieterin, eine Künstlerin aus Soho, gezogen war und wo ich mir vornahm, mit fünfzig so auszusehen wie einer von den liberalen Ostküstenintellektuellen, die wir im Restaurant beobachteten, Kaschmirpullover, Khakis, graubärtig, verwittert, mit hellwachen Augen. Das Glück, in unserem gemieteten Sunbird National Public Radio hören zu können, auf dem Weg zum Strand All Things Considered, nachts, bei unseren Heimfahrten, hatte eine Collegestation das Programm übernommen und spielte endlose Electronica-Flows, nur manchmal unterbrochen von Meditationen über herbs. Fast jeden Abend kauften wir für lächerlich wenig Geld Hummer bei einem der Fischhändler, bei denen es auch lobster burgers und lobster heros und allen möglichen anderen Überfluss gab, und dann aßen wir im Garten hinter dem Haus, sonnengeätzt. Wie braun M. damals gewesen ist. Und wie blond sie wurde, fast ins Silbrige. Das blaue Gap-Kleid, das sie den ganzen Sommer über getragen hat, jeden Tag. Die Bikinis der drei Frauen, die im Abend an der Wäscheleine schaukelten, auch nach dem Waschen noch nach Sonnenschutzcreme duftend. Wie Fatima eines Abends in der Küche, wir spülten gerade ab, ihr T-Shirt hochriss und mir ihre Brüste zeigte, "wie findest du sie?", und ich verwirrt und ein wenig schockiert irgendetwas wie "hübsch" oder "schön" sagte und gleich hinterher ganz warm war von dieser Ausgelassenheit. Wie wir nachts in unserem engen Bett unter dem Dach nach dem Gehteuchnichtsan immer noch stundenlang lasen, wachgehalten vom Sonnenbrand und vom Paarglück, manchmal stand ich auf und klatschte mit meinem Taschenbuch eine Mücke an die Wand. Die Sonntage, an denen wir die New York Times lasen, samt der Garden-Sektion und der Heiratsanzeigen. Der Tag, an dem wir nach East Hampton fuhren, wo M. einen Nachmittag lang mit einem freundlichen Joseph Heller sprach, während ich spazierenging und mir in irgendeinem Deli eine Kaiser Roll mit Pastrami machen ließ. Der Sand, den wir vom Strand ins Haus schleppten, den Boden immer weiter abschleifend. So ein Sommer war das. Und an jedem einzelnen Tag wurde ich aufgeregter. Wir waren nur zwei, drei Freeway-Stunden von New York entfernt, man konnte die Stadt nicht hören, aber sie rumorte schon gewaltig in mir.
Nach zwei Wochen fuhren wir dann über die Brooklyn Bridge nach Manhattan hinein, und mit jeder Kreuzung, jeder Hupe, jedem Zeitungskiosk und jedem Taxi, mit jedem door man vor einem Condominium und mit jeder Frau, die im grauen Business-Kostüm und in Glanzstrümpfen, aber in Turnschuhen an einer Ampel wartete, war mir, als wäre ich endlich angekommen. Wir setzten die beiden anderen am Pierre ab und fuhren in unser Hotel am Washington Square, lagen einen halben Nachmittag auf unserem Hotelbett, ich rauchte zum Fenster hinaus, wie immer, wenn ich mit M. verreise, und war glücklich über die Wassertanks auf den umliegenden Dächern, über das Hupen in den Straßen tief unter mir, über die verwaschenen Farben der Gebäude ringsum, das Licht, von dem ich zuvor gedacht hatte, Maler hätten es bloß erfunden. An unserem zweiten Tag in New York sind wir zu Tiffany's gegangen und haben uns zwei Eheringe machen lassen, schlichtes Gold, wie man es für Eheringe verwendet, und sie drei Tage später wieder abgeholt in dieser kleinen Tiffany-Schachtel in diesem Tiffany-Taubeneiblau, darin ein Etui, in dem sie immer noch, jeder in seinem Schlitz, liegen und darauf warten, dass wir sie einander anstecken, weil wir nie dazu gekommen sind, einander zu heiraten, und es im Lauf der Jahre immer seltsamer geworden wäre, es doch zu tun, so verheiratet, wie wir doch immer schon gewesen sind, selbst damals auf Long Island, und es ist, an jedem einzelnen Tag der letzten zwölf Jahre, so geblieben, zu meiner eigenen Verwunderung, eine helle nüchterne Liebe, von der ich mir oft gedacht habe, dass ich sie mir nicht ausgesucht habe, sondern dass sie mir aufgegeben wurde, und die mich immer wieder demütig macht, auf eine sachliche Weise, wie vielleicht ein Maler demütig ist, dem Licht, dem Fleisch, der Haut, der Form gegenüber, oder ein Musiker, der auch nur den Tönen hinterherspielt, die im Klavier, im Saxophon schon sind, etwas, das man tragen muss, irgendwie. Aber darum geht es hier nicht, obwohl es mir au fond schon lange fast nur noch darum geht, eine andere Erkenntnis hätte ich der Welt nicht zu hinterlassen, nicht wirklich, nur die eine eben, dass es helle, fast sachliche Liebe geben kann, unaufgeregt, neurosen- und panikruckfrei, eine andere, nüchternere Leidenschaft als die Rasereien, die man sonst mit dem Wort bezeichnet, aber, wie gesagt, darum geht es nicht. Worum es hier geht, ist die Wehmut, mit der ich vor einigen Tagen gelesen habe, dass das Plaza Hotel Ende März geschlossen und zu einem Condo-Gebäude umgebaut werden soll, das Plaza, in dem wir an unserem letzten Tag in New York, einem Sonntag, zum Frühstück waren und das mir in den zwei Stunden, die wir dort saßen, nicht nur wie ein längst abgelebtes Reservat einer früher einmal heroischen, jetzt aber nur noch ineffektiven Epoche vorkam, das sich mit seinem zum Brunch angeheuerten Musikstudenten-Streichquartett, seinen cholesterinhaltigen Hummersalaten, seinen livrierten Kellnern und seinen diesen im Weg stehenden Marmorstatuen tapfer gegen den Lifestyle-Magazin-Stil der nouveaux riches zu behaupten versuchte, sondern immer wieder auch, wie in einem Sprungbild, wie ein Vorgriff auf eine Zukunft, auf die damals, im Sommer 1994, ganz sicher niemand von einigem Verstand mehr hoffen konnte, und in der mindestens die Sonntage dem Überfluss, der Völlerei, der Freundschaft, den Wunderkerzentorten und den Toasts auf die Liebe gewidmet gewesen wären. Sie machen also auch das Plaza dicht. Man soll sich nicht mehr daran erinnern können, dass es anders ginge. Das Sonntagsfrühstück wird ein Protein-Shake sein, mit Sojamilch, laktosefrei. Am Nebentisch saß damals eine Frau, die aussah wie Lee Radziwill.
lichtbildmaler
danke. wie so oft.
Danke.
Die Beschreibung unaufgeregter Liebe mit ein paar Wörtern, schön! Ich habe das Glück, so eine auch geniessen zu dürfen.
Mit einem sommerlich-stillen, ganz fühlbaren Licht im Raum zwischen den Worten. Wunderschön. Danke.
Schön...
...daß man beim Lesen dieses Textes Deine Wehmut förmlich spüren kann. Danke
gone but not lost
so lange es männer gibt, die so schreiben können/wollen, weil sie groß genug sind, so fühlen zu können/wollen/dürfen - - - here's to you (two)!
Fühlte mich beim lesen an "Montauk" von Max Frisch erinnert.
Seufz ...
Schön. Worte, die glitzern wie Sonne auf Wasser. Oder ist das kitschig?