eine mail bekommen mit dem header rezensionsanfrage. spontan rezessionsanfrage gelesen. das krisengerede kontaminiert allmählich die sinne.






ich hatte vor einer halben stunde ein telefonat mit einer pr-frau, in dem ich gefragt wurde, ob ich ein rezessionsexemplar wolle. ich: "Sie meinen wohl rezensionsexemplar?" sie: "nein. rezessionsexemplar." ich: "sind Sie sicher?" sie: "heißt doch so." ich: "rezession ist eine wirtschaftskrise. so schlecht geht es Ihnen doch nicht?" sie, verlegen kichernd: "oh." das "oh" klang, als ginge sie gerade innerlich noch einmal die liste ihrer telefonate vor mir durch...


War das

Vogel Verlag? Chip Foto und Video? bei denen hatte ich es auch auf dem Rückfax.


nein. sony. aber die müssen ja bekanntlich mit thomas stein fusionieren, die schlimmste demütigung, die sich denken lässt


Die Frau liest den Spiegel.


eine frage an die älteren

war das schon immer so, dass man in krisen ausharrte und seufzte, wartete und über sich ergehen ließ? will mich nur vergewissern, in welche welt ich mich hineindenken muss.


definieren Sie

krise


Is nich

im Westen seit 73 Krise?


krise ist, wenn früher war, was jetzt nicht ist - und keiner will's.


Du musst dich in eine Welt hineindenken, in der jede rektale Körperausgasung sensorisch erfasst, digitalisert, abgespeichert, vernetzt und verrechnet wird. Könnten ja wertvolle Daten für die Krankenkasse drinstecken. Ernährung ungesund? Prämie um 0,2% rauf, aber dafür Sonderangebot Schweinebraten automatisch beim nächsten Supermarktbesuch auf dem personalisierten Einkaufswagendisplay. Bleibt nur noch die Frage, ob Gott ein BWL- oder ein VWL-Prof ist. Oder ein Jurist?


Gott

ist Produzent.


Gott ist der P. Diddy unseres Kontinuums. All hail Virgin Missy.


@fernsehratgeber.

das ist für einen älteren eine schwer zu beantwortende frage. zum älterwerden gehört ja auch, dass sich ein größeres sicherheitsbedürfnis einstellt und dass man in verfestigteren umständen lebt. je älter man wird, desto weniger leicht lässt sich sagen "dann wandere ich eben aus" oder "dann mach ich halt was ganz anderes".

vielleicht wird ja auch die aktuelle krise jetzt als lähmender und auswegloser wahrgenommen als die vorangegangenen, weil das verhältnis der generationen sich verändert: wenn der berühmte demoskopische faktor dazu führt, dass es tendenziell mehr ältere und weniger jüngere menschen gibt, dann schlägt das möglicherweise auch auf die "durchschnittliche" wahrnehmung von krisen zurück, die dann zur medial wirksamen (und die individuellen wahrnehmungen verstärkenden) wird. keine ahnung.

was mich betrifft, habe ich in meinem leben 3-4 rezessionen, so-gut-wie-rezessionen und sonstige "krisen" bewusst mitbekommen, beginnend von der "erdölkrise" in den frühen 70ern. sie sind alle nicht wichtig für mich gewesen, waren eher mediales rauschen als dass sie etwas mit eigener lebenserfahrung zu tun gehabt hätten, sind auch nie angstumzingeltes thema in familien- oder freundeskonversationen gewesen. ob das daran liegt, dass die krisen nicht so tief gewesen sind wie aktuell, dass man (wir, die gesellschaft, die medien, wer auch immer) heute eine andere wahrnehmung hat, dass es emotionale unterschiede zwischen österreich und deutschland gibt, oder dass die politischen optionen sich verändert haben, weiß ich nicht so genau.

(mit "politischen optionen" meine ich, dass viele leute meinesgleichen in den 70ern und bis in die 80er hinein krisenerscheinungen eh nur für ein gutes argument für reformen / sozialistische reformen / sozialismus usw. gehalten haben (als österreicher hat man bei "sozialismus" nie an ddr gedacht, es war ausgemacht, dass das keiner war...) und man sich deswegen von krisen nicht gelähmt, sondern eher bestätigt fühlte. wenn die arbeitslosigkeit stieg, wurde gesellschaftlich eben über arbeitszeitverkürzung und frühere verrentungen nachgedacht, um die jobs gerechter zu verteilen. heute ist es ja genau umgekehrt: obwohl es massenhafte arbeitslosigkeit gibt, wird gefordert, dass die, die jobs haben, mehr und länger arbeiten sollen - was den jobless people nun ganz sicher nicht die möglichkeiten auftut, neue jobs zu finden. oder man hat über arbeitslose grundeinkommen debattiert, durchaus auch bis in die sozialdemokratie hinein. will sagen: ältere haben erinnerungen an politische diskussionen, die deutlich solidarischer, kreativer und offensiver waren als diese ekeligen debatten heute, in denen es immer nur daran geht, die massen weiter zu verarmen, damit der standort deutschland billiger produzieren kann. und wenn jahrelang andere lösungen als die medial debattierten nur noch positionen von spinnern, utopisten, winz-minderheiten und atomisierten freischwebenden nörglern sind, werden auch die irgendwann mal bloß noch mürbe, resigniert, müde, beginnen, sich selbst für spinner und träumer zu halten. was dem allgemeinen klima vermutlich auch nicht weiter förderlich ist).

eines kann ich auf jeden fall sagen: ich habe mir bis weit in meine 20er hinein nicht die geringsten gedanken darüber machen müssen, wie ich einmal mein geld verdienen, mein überleben sichern, meine zukunft bewältigen sollte. nicht, weil ich aus extrem begüterten verhältnissen stamme (eher die ganz normale mittelschicht), sondern weil die gesellschaft und die ökonomie halt so waren, dass das ging. man wusste, man würde jobs bekommen, man wusste, man würde sogar jobs bekommen, die einem vermutlich spaß machen könnten, man wusste, dass man experimentieren konnte mit seinem lebenslauf, man hatte die zeit und den raum, etwas herauszufinden. man hatte deswegen übrigens auch zeit, sich mit jenen und mit der lage derer zu befassen, denen es tatsächlich scheissdreckig ging, der arbeiterklasse, den immigranten, den prekären. das war gelegentlich verquast, illusionär, peinlich, aber oft nicht so schlecht, sehr lehrreich, und hin und wieder beglückend. manchmal kommt es mir zum besipiel vor, dass man mit den mehrheitspositionen der österreichischen sozialdemokratie unter kreisky heutzutage in der spd einen ausschluss als linksextremist riskieren würde, aber das kann natürlich auch nur verklärende erinnerung sein (was mich betrifft, habe ich es allerdings nie zu mehrheitspositionen irgendwo geschafft).

eines jedenfalls verspüre ich oft: mitleid und mitgefühl für die jüngeren. ich stelle es mir (abgesehen von der energie, die man in dem alter halt hat) schlimm vor, heute mitte zwanzig zu sein. dieses gefühl, unterkommen zu müssen, wenige optionen zu haben, immer nur dieselbe sorte von optionen zu haben, diese praktikanten-existenzen, dieser dauerunterricht im bewerbungsschreiben, dieses leben als permanentes casting, dieser zwang, einen cv zu haben und und und. schrecklich, finde ich. hat niemand verdient, finde ich. nein, das ist nicht paternalistisch gemeint. und ja, die kids are allright. aber gerade das ist ja das problem: die gesellschaft ist es weniger, als sie es mal war.

keine ahnung, ob das Ihre fragen beantwortet


die antwort hat mich beeindruckt.aber ab wann gehört man zu den älteren?


ab sofort


von fernsehratgeber aus gerechnet bin ich das nun mal. ist ja ein komparativ.


Was mich immer wieder fasziniert: Ich lese ihre Worte, verstehe das so viel falsch läuft, sage das selbst so oft, dass ich schon mal ab und zu für zynisch gehalten werde. Und doch geht es irgendwie an mir vorbei. Mein Optimismus ist nicht tot zu kriegen.


ich weiss, dass sich das bei mir oft anders anhört, aber ich würde mich auch eher bei den optimisten einschlichten als sonstwo. man kann das ja vermutlich auch against all odds sein. und es verwundert mich bisweilen, dass man mich nicht selten für einen melancholiker, zyniker, pessimisten hält. ich bin noch nicht einmal enttäuscht in meiner liebe zu welt.


Nach oben geantwortet

gHack: Was sie in ihrer Welt vergessen haben, sind die dann auftauchenden Ratgeber- und Verängstigungsprogramme: »Wenn Sie länger vor diesem Schaufenster stehen, setzt ihre Krankenversicherung den Betrag und ihre Bank ihren Kreditrahmen herauf. Schnell weitergehen!« (Ich sollte mich spezialisieren)


herr praschl, sie haben es gut getroffen. wirklich. ich will nicht sagen, dass ich mich mit mitte zwanzig nicht gebraucht fühlte. nur, dass ich in kein casting passe, nicht mal einer risikogruppe angehöre. dass ich betriebswirtschaftlich nicht vermisst werden würde, volkswirtschaftlich aber schon. dass man mir multioptionen vorgaukelt, die keine sind. und dass die hipness eine genauso blöde attitüde ist, wie es mein defaitismus ist. und ja: ich bin optimistisch. denn bisher ist alles irgendwie gut gegangen. irgendetwas hat es immer gerichtet, bisher. und dann doch dieses gefühl, dass gesellschaftlich früher mehr auflehnung war, mehr kritik, mehr handlungsvermögen. dass es gerade keinen umbruch-dienstleister gibt, der das für einen bewerkstelligt. diese verfluchte, leidige apathie.


apathie ist vleicht nich das richtige wort

es ist derzeit viel riskanter geworden, sich für etwas einzusetzen, weil eben fast alle auffangsoptionen weg sind. wer heute demonstrieren ginge, würde niemals mehr außenminister, geschweige denn was besseres


@fernsehratgeber

Ist immer alles gut gegangen, irgendetwas hat es gerichtet; das kenn ich gut. Nur stimmt mich das nicht optimistisch; es raubt mir jegliche Notwendigkeit. An manchen Tagen sehne ich mich nach dem Crash, der freier machen könnte, die vitalisierende Portfoliobereinigung, die jedes Rumeiern verschwinden lässt. Befreien muss man sich schon selbst, ist mir ja klar; ein jeder ist sein eigner Cutter.


in diese richtung passt ja die verhängnisvolle ansicht, dass als einziges eine katastrophe den umbruch schafft - kein leidvoller, langsamer prozess des schmerzbeibringens, sondern ein einschneidender, plötzlicher zwang zum neuanfang. man mag es kaum aussprechen und schon gar nicht befürworten.


@umbruch, crash und so: Die Bundesrepublik ist von Anfang an auf ein alles überschattendes Ziel hin angelegt worden: Stabilität. Im historischen Kontext ist das mehr als verständlich gewesen. Für die ersten zwei Jahrzehnte war das Modell sehr erfolgreich. Sogar später, nach 68, haben die Stabilität des formalen Konstrukts und die Behäbigkeit der politischen Kultur dazu beigetragen, alle instabilen Tendenzen letztlich wieder erfolgreich ins System zu integrieren. Das Gesamtsystem war zudem so produktiv, dass der gravierende Nachteil der Stabilität, nämlich die Inflexibilität des gesellschaftlichen und politisch-administrativen Strukturen, nicht weiter auffiel. Bis jetzt. Der Unterschied zu früheren Krisen liegt darin, dass jeder betroffen ist. Egal ob als Arbeitnehmer, Selbstständiger, Mittelständler, Global Player, Student, Arbeitsloser, Beitragszahler, Rentner whatever - jeder ist auf irgendeine Weise an der Krise beteiligt. Sogar wir Medienfuzzis. Die Risikogesellschaft ist angekommen, könnte man sagen. Ich denke, hier liegt der Unterschied zum medialen Rauschen vergangener "Krisen".


against all odds

Schlimmer noch, Herr Praschl, denke ich: Optimismus geht nur noch against all odds. Er ist nicht länger eine innere Qualität, eine Seelenhaltung. Vielmehr ein unabdingbares Bollwerk, eben so wie ein deutlicher Glaube an sich selbst; bitter notwendig. Dies trifft die Jüngeren härter, schont aber auch die Mittdreißiger und Mittvierziger nicht. Wer keinen stromlinienförmigen Lebenslauf vorweisen kann bzw. eine stabile, möglichst prestigeträchtige Position bereits erreicht hat, findet sich in einer Gefühlslage wieder, die nur noch "kämpfen" schreit. Das drückt aufs Lebensgefühl, nimmt in extremis jede Fähigkeit zu Leichtigkeit.