Fünf Tage auf Juist gewesen: Strich im Meer, 17 Kilometer lang, 500 Meter breit, Watt, Deich, Düne, Strand, Meer. Stundenlange Spaziergänge an der Flutkante (Aerosole!), das Schiffsuntergangsmuseum, der Jakobstab, die Domäne Bill. Im Speisesaal des historischen Kurhauses jeden Abend die Neue Deutsche Bourgeoisie, Button-Down-Hemden, kleines Karo, himmelblaue Kaschmirpullover, gebärfreudige Frauen, wie sie auch in Gütersloh verlangt werden, nonchalante Perlenketten, wohlerzogene Kinder. Am Nebentisch erzählt einer sehr laut, wie er Anne Sophie Mutter ein Konzert lang in den Ausschnitt gestarrt hat, zu jedem Gang neuer Wein, der Elbling, den die Römer nach Deutschland brachten, Franz Keller vom Kaiserstuhl. Die Wochenendgäste werden von den Kellnern mit Handschlag begrüßt, das Hotel als Steuersparmodell, ein Eigentümerkonsortium, jeder von ihnen mit eigener Suite, die er von Freitag nachmittag an bezieht, begleitet von den Geschäftspartnern, der Familie, es sind die Leute, denen man ansieht, dass für sie glass ceilings nicht existieren, das Wochenenddasein als Nebenhotelbesitzer fließt in die Verlustbilanz, die Suiten heißen "Droste von Hülshoff" (nicht die Dichterin, sondern ein Verwandter) oder "König von Sachsen" ("Macht euren Dreck doch alleene..." gemahnt ein Schild an dessen Abdankung), die Kaminbar (ostfriesische Teezeremonie) ist nach dem Baron von Münchhausen benannt. Die Masseuse - "eigentlich wollten wir ein halbes Jahr arbeiten, die andere Zeit auf Reisen gehen") erzählt von den Wellen in der Bretagne und auf Hawaii, jenen Surfern, die sich vom Helikopter in den Wellen aussetzen lassen, es ist ihr letzter Tag, das Hotel hat sie so lange getriezt, bis sie entnervt und entschädigungslos gekündigt haben, um ihre Praxis (Peelingzeremonie) anderswo auf der Insel aufzuschlagen. Zwischen den Spaziergängen und den Saunagängen Inselkrimis gelesen, eine Hotelbesitzergattin, sich in der Nähkammer verschanzend, wird verrückt, weil ihr Mann das Familienhotel in einen kalten Marmorpalast verwandelt und darüber alle Menschlichkeit vergessen hat, vor dem Familiengericht im Fernsehen gesteht eine Mutter, dass der Mann, den ihre 17jährige Tochter mit Erlaubnis des Gerichts heiraten will, deren Vater ist, Lentzen & Partner dagegen befürchten, dass es sich bei dem Fleisch in der Tiefkühltruhe des Verdächtigen um Menschenfleisch handelt. In den Insellichtspielen - in dem der Zuschauerraum mit vielen kleinen Lampenschirmen illuminiert ist, es handelt sich um ein Verzehrkino, die Lampen dienen als Verzehrbedienschalter, wenn man das Licht ausknipst, kommt jemand, um Bestellungen aufzunehmen - haben wir dann doch noch Goodbye, Lenin gesehen, die Geschichte einer Frau, die den Sozialismus mit Spreewaldgurken verwechselt hat, Erinnerungspolitik wie überall (Irgendwann wird in den Lebensläufen stehen: Mein Hobby: die Erinnerung.) Beschlossen, die Tanaka-Geschichte endlich fertigzuschreiben. Bei Haushaltswaren-Behrendt einen ostfriesischen Sahnelöffel und ein Party-Flaggen-Set gekauft, im Schaufenster hingen Sturmwäscheklammern, die auch bei Orkanstärke noch funktionierten und deren Wirkungsweise an einem Spitzentanga, zur Verfügung gestellt von einer freundlichen Nachbarin aus dem schönen Ostdorf, demonstriert wurde, in der Brigitte ein Gespräch schmeichelhaft geschminkter und ultrawhite fotografierter Brigitte-Redakteurinnen über ihr Verhältnis zur Schönheitschirurgie und über die double standards, die darin bestehen, das natürliche Aussehen zu propagieren, aber die eigenen Kinder zum Kieferorthopäden zu schicken, damit sie alle Chancen haben. Ein wenig enttäuscht gewesen, dass die Insulaner bei unserer Ausschiffung nicht, wie es dokumentierter Juist-Brauch ist, unisono oh, wie blaß! riefen, ein wenig versöhnt immerhin davon, dass bei der Rückfahrt im Augenblick des Ablegens die Instrumentalversion von "My Heart Will Go On" aus Titanic gespielt wurde.






gütersloh! (ha!)


Die blauen, kleinkarierten Button-Down-Hemden hätte ich anstatt auf Juist jederzeit auf Norderney vermutet. Vor einigen Jahren, als ich Juist entdeckte, erschien es mir irgendwie sehr unpassend, dass diese laute, discothekenbedeckte, etepetete Norderney ausgerechnet neben Juist liegt.


es hat auch nicht weiter gestört, nicht im geringsten, das bisschen button down. und, ja, auch für mich war juist eine schöne entdeckung.


Dieses Stück finde ich bemerkenswert schön.