Wir besuchen die Familie des Dorfvorstehers.

Sie wohnt in einer aus Brettern zusammengenagelten Hütte, die auf Pfählen steht wie fast alle Wohnhäuser in kambodschanischen Dörfern, Schutz gegen die Ratten, außerdem schafft es Stauraum für Mopeds, Fahrräder, Tiere, Handwerksarbeiten, in der Mittagshitze findet man ein wenig Schatten, Schatten ist wichtig hier.

Der Dorfvorsteher besitzt eine kleine Reismühle, die mit Benzin betrieben wird.

Benzin, die rote Sorte für die Mopeds, wird in Kambodscha in Einliterflaschen entlang der Straße verkauft, an Imbissstand-Zigarettenladen-Benzinshop-Kombinationen, die ihrerseits auch nur Bretterbuden sind.

Die Familie, Mutter, Vater, sechs Kinder, lebt in einem einzigen großen Raum, auf vielleicht zehn mal vier Meter Grundfläche. Das Dach ist aus selbstgemachtem Reet, da und dort ein wenig löchrig, sie werden es noch ausbessern müssen vor dem Monsun.

Der Besitz der Familie, soweit ich ihn sehen kann: ein paar Klamotten, wahrscheinlich für jedes Familienmitglied eine zweite Garnitur. Ein Essgeschirr, für jeden eine Schüssel, zwei, drei Blechtöpfe. Kleinkram, das meiste in Plastiktüten verstaut und irgendwo ins Reetdach gesteckt, die Schulsachen der Kinder zum Beispiel. Und dann ein Fernseher, mitten im Raum, der an einer Autobatterie angeschlossen ist, Strom gibt es ja hier keinen.

Auf dem Fernseher Luxus: eine kleine Schale mit drei vier Tüten Sunsilk-Shampoo. In diesem Zusammenhang ein Zitat aus einem Interview mit der Autorin des Buchs "Asian Business Wisdom" über die Einführung der Sunsilk single-use sachets auf dem indonesischen Markt:

Unilever Indonesia is another company that uses smart pricing. To make sure all Indonesians can afford at least some of its products, Unilever introduced single-use sachets packets of Sunsilk shampoo and Rinso detergent for about four cents each. As a result, the company sold 2.9 billion sachets of Rinso and 3.8 billion of Sunsilk last year.
Wir sitzen auf dem Boden und treiben ein wenig Konversation mit Oat, dem ältesten Mädchen. Wegen der Kinder sind wir ja gekommen, um sie soll es gehen, die Zukunft Kambodschas.

Wie sieht dein typischer Tag aus?

Ich stehe um sechs Uhr auf. Ich hole Wasser vom Brunnen, kümmere mich um meine kleinen Geschwister, gehe in den Wald und sammle Feuerholz.

Feuerholzsammeln ist gefährlich. Möglicherweise liegen noch Minen herum. Letzte Woche hat es im Nachbardorf ein Mädchen zerfetzt, vor zehn Tagen haben in Tab Svay vier Jungs, Brüder, eine Mine gefunden und wollten sie ausgraben, damit der Vater Metall zu verkaufen hatte, jetzt liegen alle vier im Kinderkrankenhaus von Siem Reap, dort ist die Behandlung kostenlos, das Krankenhaus wurde von einem Schweizer Arzt gegründet, der jeden Samstag unter dem Namen Beatocello Bachsuiten und eigene Kompositionen auf dem Cello vorträgt, The Beat goes on! stand auf dem Plakat vor dem Klinikgebäude. Und vor einigen Tagen hat man im Dorf in einem Baum, den jemand - ich weiß nicht warum, vielleicht um Land zu roden - abfackeln wollte, gerade noch rechtzeitig eine undetonierte Handgranate entdeckt, sie steckt kaum erkennbar im Stamm, in ein paar Tagen werden die Entminer vorbeikommen und die Granate entschärfen.

Oder ich füttere die Tiere, sagt Oat.

Die Familie hat ein paar Hühner, ich kann mich nicht mehr erinnern, ob auch ein Schwein. Man darf sich die Tiere in diesem Dorf natürlich nicht vorstellen wie deutsche Tiere. Es sind jämmerliche Viecher, die Hühner sehen aus wie große zerrupfte Küken, die Schweine und Rinder haben keinen Speck auf den Rippen. Aber immerhin, es ist mehr als nichts.

Danach gehe ich zur Schule.

Oat ist in der zweiten Klasse, mit zehn. Bevor Angelina Jolie die Schule spendierte, gab es hier ja keine.

Was sind deine Lieblingsfächer?

Lesen und Schreiben. Geschichte. Rechnen.

Was willst du einmal werden, wenn du groß bist?

Lehrerin, sagt Oat.

Um Lehrerin werden zu können, muss man mindestens eine Sekundarschule absolviert haben. Die nächste Sekundarschule ist in Siem Reap, 40 Kilometer und eine Autostunde entfernt.

Könnten Sie sich denn leisten, Ihre Tochter auf die Sekundarschule in die Stadt zu schicken, falls sie sich als klug herausstellt.

Nein, lachen die Eltern, das geht auf gar keinen Fall. Das könnten wir nie bezahlen.

Also wird Oat keine Lehrerin werden können. So schnell erledigt sich das mit dem Träumen hier, unglaublich, dass man das mit dem Träumen dann doch nicht lassen kann.

Es sei denn, natürlich, es baut hier irgendjemand noch eine zweite Schule, es findet sich ein Lehrer, und so weiter. Immerhin, es kommen ja Leute wie wir um die halbe Welt geflogen, um in einem kambodschanischen Dorf nach den Kindern zu sehen. Vielleicht wird ja doch noch etwas draus.

Wie ist deine Lehrerin? Nett.

Ist sie manchmal auch streng? Ja. Wenn wir uns nicht an die Regeln halten.

Bestraft sie euch? Sie zieht uns den Stock über die Finger. Aber es tut nicht sehr weh. Und es kommt selten vor.

Was sind deine Lieblingsspiele? Seilspringen. Und Verstecken.

Es fällt einem auf: Kein Spiel dabei, das etwas kostet.

Zwei Tage später beobachte ich, wie die Mädchen auf dem Dorfplatz Gummitwist spielen.

Einerseits: Sie haben die Gummis aus alten Gummiringen zusammengebunden. Andererseits: Wo haben sie eigentlich die Gummiringe her?

Noch nie in meinem Leben bin ich an einem Ort gewesen, an dem mir die Frage einfallen hätte können, wo Kinder alte Gummiringe herhaben. Oder die Frage, wie jemand so reich sein kann, dass er sich vier Portionspackungen Sunsilk Shampoo leisten kann. Es ist nicht so, dass ich mich für solche Fragen, diese Hinterherschnüffelwahrnehmungen, nicht sofort wieder verabscheue, hallo, alte aufgeklärte Mittelschichtpsyche, und wenn man jetzt noch die Selbstwahrnehmung thematisiert, ist man dann noch fieser, all die Metafragen, Mannomann.

Nach allem, was ich gelesen habe, kommt es mir sehr wahrscheinlich vor, dass man unter Pol Pot für Sunsilk Shampoo mit einer Spitzhacke den Schädel aufgeschlagen bekommen hätte. Man ist damals ja auch für den Diebstahl eines Maiskolbens umgebracht worden.

Fragen: Wo liegt der Nullpunkt der Ökonomie wirklich? Und wie würde "Die kleinen Unterschiede" von Pierre Bourdieu in Kambodscha aussehen?

So etwas denkt man hier. Man kann das Denken ja doch nicht lassen.