Im Alter von 40 bis 50 Jahren pflegen Menschen eine seltsame Erfahrung zu machen. Sie entdecken, daß die meisten derer, mit denen sie aufgewachsen sind und Kontakt behielten, Störungen der Gewohnheiten und des Bewußtseins zeigen. Einer läßt in der Arbeit so nach, daß sein Geschäft verkommt, einer zerstört die Ehe, ohne daß die Schuld bei der Frau läge, einer begeht Unterschlagungen. Aber auch die, bei denen einschneidende Ereignisse nicht eintreten, tragen Anzeichen von Dekomposition. Die Unterhaltung mit ihnen wird schal, bramarbisierend, faselig. Während der Alternde früher auch von den anderen geistigen Elan empfing, erfährt er sich jetzt als den einzigen fast, der freiwillig ein sachliches Interesse zeigt.

Zu Beginn ist er geneigt, die Entwicklung seiner Altersgenossen als widrigen Zufall anzusehen. Gerade sie haben sich zum Schlechteren verändert. Vielleicht liegt es an der Generation und ihrem besonderen Schicksal. Schließlich entdeckt er, daß die Erfahrung ihm vertraut ist, nur aus einem anderen Aspekt: dem der Jugend gegenüber den Erwachsenen. War er damals nicht überzeugt, daß bei diesem und jenem Lehrer, den Onkeln und Tanten, Freunden der Eltern, später bei den Professoren oder dem Chef des Lehrlings etwas nicht stimmte! Sei es, daß sie einen lächerlichen verrückten Zug aufwiesen, sei es, daß ihre Gegenwart besonders öde, lästig, enttäuschend war.

Damals machte er sich keine Gedanken, nahm die Inferiorität der Erwachsenen einfach als Naturtatsache hin. Jetzt wird ihm bestätigt: unter den gegebenen Verhältnissen führt der Vollzug der bloßen Existenz bei Erhaltung einzelner Fertigkeiten, technischer oder intellektueller, schon im Mannesalter zum Kretinismus. Auch die Weltmännischen sind nicht ausgenommen. Es ist, als ob die Menschen zur Strafe dafür, daß sie die Hoffnungen ihrer Jugend verraten und sich in der Welt einleben, mit frühzeitigem Verfall geschlagen würden. [Horkheimer/Adorno, DA]






Tödlich treffsicher auch Max Frischs Tagebuchbemerkungen zum Alter. Kennen wir, kennen wir.


Folgt aus dem Altern auch, dass dieses Phänomen als unveränderlich betrachtet wird?


diese frage beantwortet sich selbst, wenn man denn liest. erstens gibt es in dieser passage einen beobachter, dem es nicht so - Dekomposition, Kretinismus etc. - geht wie den beobachteten. zweitens gibt dieser beobachter die bedingung fürs entstehen der dekomposition an: "Vollzug der bloßen Existenz bei Erhaltung einzelner Fertigkeiten", verrat an den "Hoffnungen ihrer Jugend".


interessant wären nun noch die daraus zu ziehenden Konsequenzen. Wenn man sehr weit denkt, müsste dann eigentlich das Geld abgeschafft werden.


zur ersten Erwiderung von praschl:

Ich halte das für nicht zwingend: Wenn sich eine Tomate länger frisch hält als andere, folgt daraus doch nicht, dass sich alle länger frisch halten könnten - anders gefragt: Ist das "Altern im Geist" vielleicht ebenso zwangsläufig wie die biologische Alterung, auf die wir allenfalls beschränkten Einfluss haben?

Das ist eine echte, keine rhetorische Frage, bei deren Antwort ich mir keineswegs sicher bin.


Meine Erwiderung wollte nur sagen, dass die Folgerung, nach der Du fragst, jedenfalls nicht aus der zitierten Passage folgt. In der ja gar nicht vom Altern im Geist gesprochen wird, sondern von dessen Verschluderung durch Anpassung, durchs Mitmachen, "sich in der Welt einleben". Und diese Verschluderung tritt, immer der zitierten Stelle folgend, schon "im Mannesalter" auf, also gar nicht so sehr in dem, was wir wohl "Alter" nennen, sondern weit davor. Die Frage, die Du stellst, ist also eine andere. Was nicht heißt, dass sie nicht interessant wäre. Meine Antwort auf diese Frage ginge vermutlich in die Richtung, dass es im Denken viel weniger Zwangsläufigkeiten gibt, als man sich gemeinhin einredet und einreden lässt; was schlimme wie schöne Resultate produziert; schlimm: weil die Freiheit des Geistes selbstverständlich dazu führt, dass er sich jede Menge Unsinn ausdenken kann; schön: weil der Geist so frei ist, ziemlich viel souverän missachten zu können; unter anderem auch das Alter: dass einer 40, 60, 80 ist, hindert ihn ganz und gar nicht daran, zu denken, was 20jährige denken. (Wir reden hier natürlich nicht von dem Fall, dass der biologische Apparat des Denkens zu alt geworden ist, um überhaupt noch denken zu können...)


Es war mir bewusst, dass ich da eine neue Frage angeschnitten habe - einfach deshalb, weil ich einen Schritt weiter gehen wollte: Mißstände kann man tausendfach beschreiben - aber wozu? Für die reine Erkenntnis oder wegen der Hoffnung auf Veränderung dadurch?


... macht mir wieder deutlich, warum ich Adorno immer als etwas für alte Männer empfand. Horkheimer / Adorno, die Waldorf und Statler der Philosophie. Nur weniger unterhaltsam.